Rezension über:

Joshua Hagen: Preservation, Tourism and Nationalism. The Jewel of the German Past, Aldershot: Ashgate 2006, xiii + 340 S., ISBN 978-0-7546-4324-1, GBP 65,00
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Rezension von:
Thomas Götz
Historisches Seminar, Universität Regensburg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Götz: Rezension von: Joshua Hagen: Preservation, Tourism and Nationalism. The Jewel of the German Past, Aldershot: Ashgate 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 12 [15.12.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/12/13186.html


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Joshua Hagen: Preservation, Tourism and Nationalism

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Rothenburg o.d. Tauber ist nicht irgendeine deutsche Stadt. Jährlich besuchen das vorgebliche "Kleinod des Mittelalters", das heute gerade 12.000 Einwohner zählt, an die zweieinhalb Millionen Touristen aus dem In- und Ausland. Doch die meisten von ihnen verbinden mit Rothenburgs Geschichte nach dem (Halb-Tages-)Besuch nicht viel mehr als grobe Etiketten. Und auch die Verächter des angeblich nur disneyhaften Historien-'fake' wollen nicht viel wissen von einer Stadt, die sich nach dem "Meistertrunk" 1631 doch sowieso aus der Geschichte verabschiedet und fortan in ihrem eigenen Klischee aufzugehen scheint. Vielleicht liegt hierin der Grund, dass Hagen Schulze und Etienne Francois in ihrer monumentalen Enzyklopädie deutscher Erinnerungsorte zwar Dresden und Heidelberg, nicht aber das ungleich massenwirksamere Rothenburg aufgenommen haben.

Den Deutschen selbst geht Rothenburg offenbar immer noch zu nahe. So ist es der amerikanische Kulturgeograf Joshua Hagen, der die nötige Distanz aufbringt: Nationalismus-, Erinnerungs- und Tourismusforschung (u.a. Halbwachs, A. Smith, Nora, Koshar, Spode) miteinander kombinierend, stellt er die Frage nach den epochenspezifischen Faktoren, die Rothenburg zum Symbol deutscher Nationalidentitäten werden ließen und darüber hinaus nach den hierfür entscheidenden Wechselwirkungen von entstehendem (Massen-)Tourismus und Stadtgestalt. Der Denkmalpflege und ihren zeitspezifischen Paradigmen kommt dabei eine zentrale Rolle zu: Als soziale Praxis wie in ihrem Ergebnis bietet sie Einblick in die Komplexität oftmals konkurrierend-widersprüchlicher Aneignungen kulturell konstruierter Raumbezogenheit - Hagen spricht von der "performative nature of landscape" (9). Die Rolle des Touristen ist dabei, so betont er wiederholt, keineswegs eine passive, sondern eine aktiv-partizipierende. Touristische Praxis sei zu verstehen als "interactive process between locals and tourists where meanings, their symbolic reprasentations, and even the built environment are negotiated" (292).

'Hauptverhandlungsort' deutscher Nationalidentität ist nach Hagen die mittelalterliche Kleinstadt, die dem kulturell tonangebenden Bürgertum seit dem frühen 19. Jahrhundert einen stabilisierenden Gegenhalt im immer dynamisch-selbstläufigeren Modernisierungsprozess versprach. Hier erschienen die Gegensätze von Natur und Kultur wie der drohende soziale Konflikt im Ideal einer klassenlosen Bürgergemeinschaft aufgehoben; 'Heimat', regionale Verwurzelung und nationaler Horizont bildeten zudem eine Einheit. Obwohl schon um 1800 ein Großteil von Rothenburgs bedeutendem architektonischen Erbe nachmittelalterlich war, tat dies dem Ruf der Stadt als 'nationaler Symbollandschaft' (16) keinen Abbruch. Anknüpfend an Mack Walkers bekannt-griffige These wurde Rothenburg wiedergeboren "as a type of collective hometown for the new German nation". (18) Anders aber als Walker interpretiert Hagen epochenübergreifend die symbolische Funktion der Stadt (politisch) weit offener: als immer neu anzuverwandelndes Potenzial, Zugehörigkeit zu erfahren (293).

Diese wechselnden 'Aufladungen' Rothenburgs mit verschiedenen Modellen imaginierter Gemeinschaft verfolgt Hagen in sieben Kapiteln bis in die unmittelbare Gegenwart. Das über 30seitige Quellen- und Literaturverzeichnis unterstreicht dabei eindrucksvoll seinen breit angelegten Kontextualisierungsansatz: Durch die wechselseitige Beleuchtung von Stadtgeschichten, Reiseberichten und -führern, Malerei, Publizistik, (der sehr ergiebigen) Lokalpresse, lokalhistorischer und belletristischer Literatur (z.B. historische Romane) sowie staatlicher und städtischer Archivüberlieferung (von Sanitätsberichten bis zu Denkmalpflegegutachten) werden die Konstruktionsdiskurse und deren Akteure transparent. Während Hagen für das 20. Jahrhundert völliges Neuland betritt, kann er für die Phase der touristischen "Entdeckung" nach 1850/60 auf eine 1996 erschienene volkskundliche Magisterarbeit zurückgreifen, deren - von Hagen nicht immer hinreichend deutlich gemachte - Vorarbeit allerdings durch die Polemik gegen die damalige und heutige Rothenburger Kleinstadtelite überlagert wird. [1]

Der große Gewinn von Hagens Ausführungen zum 19. Jahrhundert liegt demgegenüber vor allem im Aufweis der beträchtlichen (politischen) Spannbreite der Rothenburg-Bilder. So gingen frühliberal-'republikanische' Deutungen des altständischen Bürgertums in der vormärzlichen Lokalgeschichte - leider fehlt hier der Bezug auf die Bürgertumsforschung und die Thesen L. Galls bzw. P. Noltes - Riehls berühmter nostalgisch-sozialkonservativer Adaption von 1865/69 voran und nährten auch fortan das Bild von der 'schönen alten Stadt'. So behauptete sich nach 1871 neben 'Kaiser und Reich' das bürgerlich-liberale, moderat egalitäre Deutungsmoment der Stadtgeschichte (v.a. 138-144) - wobei Hagen die (zunächst nationalliberal imprägnierte) kommunalpolitische Konstellation nicht zuletzt wegen der defizitären Forschungslage generell nur recht kursorisch behandelt; M. Kittels Arbeiten zum nationalprotestantischen Milieu in Westmittelfranken hätte den Ausführungen der Rothenburger Lokalpolitik auch über 1918 hinaus einen hilfreichen Deutungsrahmen gegeben. [2] Jedenfalls beschritt die bürgerliche Elite um 1900 auf der Basis einer moderaten Industrialisierung (!) mit Hilfe des Tourismus den Weg zu einem genuin kleinstädtisch eingefärbten Munizipalsozialismus (1896 kommunales E-Werk von F.v. Miller). Der 1899 gegründete "Verein Alt-Rothenburg", durch namhafte Berater (wie z.B. Theodor Fischer) überregional unterstützt, instrumentalisierte die touristische Vermarktung zu einer frühen heimatschutzorientierten lokalen Bauordnung (und ließ sich seinerseits für jene einspannen); diese Ambivalenz macht Hagen sehr deutlich. Der im Fluss befindlichen Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Denkmalpflege weg vom Historismus à la Heideloff folgte der Verein nur zögerlich und inkonsequent (Fachwerkfreilegungen!); der Vorrang der Stadtbildpflege vor der Substanzerhaltung setzte sich in den 1920er Jahren und darüber hinaus verstärkt fort.

Seit 1929/30 avancierte Rothenburg mit seinem Umland zur reichsweit führenden NS-Hochburg. Hagens Hauptthese lautet: Dem lange vorgearbeiteten Ideal der (Stil-)Reinheit des Stadtbilds war das NS-Ideal der 'Rasse-Reinheit' kongenial; der Kampf gegen Verunstaltung (etwa durch Kommerz, Kitsch und "Reklame") fand nach 1933 gewissermaßen in der Purifikation des lokalen Volkskörpers seine Fortsetzung. Stadt, Verein Alt-Rothenburg, lokale Geschichts- und Denkmalpflege und viele Rothenburger arbeiteten hier, so Hagen, an einem Ziel: "purging the town of perhaps its most pollutant, the town's jews." (212). Von der KdF-Propaganda verbreitet und massentouristisch erfahrbar, sollte die "deutscheste aller Städte" Modell sein: Schon vor der allgemeinen Pogromnacht, am 22./23.10.1938, mussten die letzten Rothenburger Juden die Stadt verlassen, "perhaps a 'dress rehearsal' from above or maybe a source of inspiration from below" (216) - einen Quellenbeweis muss Hagen aber schuldig bleiben. Eindrücklich belegt dagegen wird die beklemmende Rolle von (ehemaligen) führenden Antisemiten und Nationalsozialisten im Verein Alt-Rothenburg bis weit in die 1970er Jahre (253f. u.ö.).

Widersprüchlich zeigt sich insgesamt - hier nur stichpunktartig - die Nachkriegszeit: der schnelle Wiederaufbau der zu über vierzig Prozent (!) zerstörten Stadt nach 1945 in eigenständig, explizit nicht-historisierender, gleichsam eskapistischer Heimatschutz-Formensprache (heute für den unkundigen Laien aus der zeitlichen Distanz kaum erkennbar und mittlerweile selbst denkmalwürdig!), die erschreckenden, massiven Substanzverluste bis weit in die 1980er Jahre, andererseits die Rettung des angrenzenden Taubertals vor entstellender Bebauung, der Erhalt der einzigartigen Judengasse und anderer, alltagsgeschichtlich aufschlussreicher Bauten, nicht zuletzt ermöglicht durch bürgerschaftliches Engagement im Zeichen der fortschrittskritischen Wende ab etwa 1975 (Denkmalschutzjahr!). Letztlich hat Rothenburg Altes vielfach bedenkenlos und schlecht kopiert, wo andere Städte im Zuge der zweiten, Wirtschaftswunder-Zerstörung einfach abrissen oder modern-unmaßstäblich neu bauten. Das Image der Stadt in der westdeutschen Öffentlichkeit schwankte je nach Zeitgeist beträchtlich - zwischen nach-nationaler 'Heimat'-Verklärung, Intellektuellen-Spott und postmoderner Wiederverzauberung.

Es ist die Verengung des Selbstbilds auf massentouristische Erwartungen und der damit einhergehende, noch fortschreitende Denkmalverlust, was der Autor in seiner bemerkenswert engagierten und bewusst gegenwartsbezogenen Arbeit der Stadt Rothenburg vorwirft. Will die Stadt tatsächlich ins UNESCO-Welterbe, so weiß sie - eingestandenermaßen - selbst, dass sie nicht auf ihr 'Mittelalter' zu setzen hat, sondern auf ihre herausragende Bedeutung als Erinnerungsort gerade auch deutscher Zeitgeschichte in allen ihren Brüchen und Vereinnahmungen. Diese sensibel und überzeugend nachgezeichnet zu haben, ist Hagens Verdienst. [3] Abschließend legt der Autor den Rothenburgern einen zukünftig anspruchsvoller konzipierten und lesartoffenen "heritage tourism" (294f.) nahe. Man kann nur hoffen, dass die Stadt Rothenburg bei der Abfassung des entsprechenden UNESCO-Antrags Joshua Hagen Gehör schenkt.


Anmerkungen:

[1] Michael Kamp: Die touristische Entdeckung Rothenburgs ob der Tauber. Wunschbild und Wirklichkeit, Schillingsfürst 1996.

[2] Vgl. v.a. Manfred Kittel: "Weimar" im evangelischen Bayern. Politische Mentalität und Parteiwesen 1918-1933 mit einem Ausblick auf die Zeit nach 1945, München 2001 (mit älteren Arbeiten).

[3] Die Orthographie des Literaturverzeichnisses und der Anmerkungen hätte allerdings eines abschließenden konzentrierten Lektorats bedurft. Die Qualität der durchweg viel zu kleinen Abbildungen ist eine Zumutung.

Thomas Götz