Rezension über:

Albin Gladen / Piet Lourens / Jan Lucassen u.a. (Hgg.): Hollandgang im Spiegel der Reiseberichte evangelischer Geistlicher. Quellen zur saisonalen Arbeitswanderung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen. XXII A: Geschichtliche Arbeiten zur westfälischen Landesforschung. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Gruppe; Bd. 17), Münster: Aschendorff 2007, 2 Bde., XXXIV + 1226 S., ISBN 978-3-402-06800-7, EUR 98,00
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Rezension von:
Joachim Schmiedl
Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Joachim Schmiedl: Rezension von: Albin Gladen / Piet Lourens / Jan Lucassen u.a. (Hgg.): Hollandgang im Spiegel der Reiseberichte evangelischer Geistlicher. Quellen zur saisonalen Arbeitswanderung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Münster: Aschendorff 2007, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 11 [15.11.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/11/13483.html


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Albin Gladen / Piet Lourens / Jan Lucassen u.a. (Hgg.): Hollandgang im Spiegel der Reiseberichte evangelischer Geistlicher

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Die vorliegende Quellensammlung lässt sich forschungsstrategisch in mehreren Richtungen verorten. Migrationsforschung, Sozialgeschichte, Mentalitäts-, Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte finden in den auf knapp 1100 Seiten gesammelten Quellen eine Fülle von Material zur Weiterarbeit. Eine internationale Forschergruppe aus Bochum, Berlin, Utrecht und Amsterdam hat in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Institut für Sozialgeschichte Amsterdam Materialien vorgelegt, deren internationaler und gleichzeitig lokaler Charakter einzigartig ist. 129 Berichte evangelischer Geistlicher über saisonale Wanderarbeiter in den Niederlanden, erschlossen durch Register und illustriert durch Fotos, Karikaturen und Zeichnungen sowie Karten der Herkunfts- und Arbeitsregionen, machen die Edition zu einem Handbuch einer alltagsorientierten Wirtschafts- und Sozialgeschichte des nordwestdeutsch-niederländischen Protestantismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Seit dem Dreißigjährigen Krieg bestand zwischen Westfalen und den benachbarten Niederlanden ein reger saisonaler Arbeitskräfteaustausch. Die Abwanderung holländischer Arbeitskräfte vom Land in die Küstenstädte ließ den Bedarf an Arbeitern im Agrarsektor steigen. In diese Bresche sprangen die ländlichen Unterschichten aus den deutschen Grenzregionen ein. Mäher, Torf- und Ziegelarbeiter aus dem Münsterland, den Gegenden um Osnabrück, Minden-Ravensberg, Ostfriesland, aus Lippe und Oldenburg zogen zu Tausenden in den Sommermonaten nach Holland, um über den dort möglichen Zuverdienst ihren Familien das Überleben zu sichern. Den holländischen Arbeitskräften sicherte diese Saisonarbeit Aufstiegsmöglichkeiten im sekundären und tertiären Sektor, den gering qualifizierten Saisonarbeitern eine sichere leistungsbezogene Entlohnung. Bei langen Arbeitszeiten konnten die "Hollandgänger" genannten Saisonarbeiter in etwa einem Siebtel der Jahresarbeitszeit ein gutes Drittel ihres jährlichen Einkommens erzielen.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als in der Evangelischen Kirche aus der Erweckungsbewegung das Anliegen der Inneren Mission durch Hinrich Wichern propagiert wurde, schlug der Ladbergener Pfarrer Gustav Lenhartz eine systematische seelsorgliche Betreuung der Hollandgänger vor. Als Betroffener - aus seiner Gemeinde war rund die Hälfte der arbeitsfähigen Männer von der Saisonarbeit betroffen - wurde Lenhartz zum "Vater der Hollandgänger-Seelsorge". Er und 44 weitere Geistliche unternahmen in den Sommermonaten regelmäßige Seelsorgsreisen in die Niederlande und berichteten darüber dem Konsistorium in Münster und dem "Central-Ausschuß" der Inneren Mission.

Diese Berichte bilden die Grundlage der vorliegenden Edition. Ausführlich und detailreich beschreiben sie die Reisen der Geistlichen. Sie gehen auf die Lebenssituationen der Arbeiter ein, mit denen sie den Alltag besprachen, Informationen aus der Heimat mitteilten, für die sie Andachten hielten und an den Sonntagen Gottesdienst feierten. Die holländischen reformierten Geistlichen (Dominees) leisteten ihren deutschen Amtskollegen dabei tatkräftige Hilfe, wobei die Deutschen mit ihrer Kritik an mangelnder theologischer Bildung seitens der niederländischen Pfarrer nicht zurückhielten. Auch diese Beobachtung wurde als Begründung für die Notwendigkeit der Predigtreisen angeführt. Inhalte der Predigten werden in den Berichten ausführlich referiert. Die Edition bietet zu ihnen einen leichten Zugang durch Register der geistlichen Lieder und Bibelstellen im Anhang. Mehrfach reflektieren die Geistlichen über die Gebetbücher und eventuelle Predigtbücher für ihre eigene Arbeit. Sie analysieren den Inhalt und die Qualität der entsprechenden Literatur, die sie auf ihren Reisen in den holländischen Kirchen und bei ihren Amtskollegen finden. Die Prediger sind von ihrer religiösen Prägung her durchgängig der Erweckungsbewegung nahe stehend. Ihr großes Anliegen ist deshalb die religiöse Prägung des alltäglichen Lebens ihrer Gläubigen. Tägliche Andachten, regelmäßige Bibellektüre und eifriger Gebrauch von Gebet- und Gesangbüchern sind die Mittel, um das gesamte Leben von der Religion durchdringen zu lassen.

Doch nicht nur religiöses Material ist in den Reiseberichten gesammelt. Die Lebensverhältnisse der Hollandgänger werden so beschrieben, dass sich die Auftraggeber ein gutes Bild von den Wohnmöglichkeiten machen konnten. Wir erfahren Details über das wirtschaftliche und soziale Leben der Niederlande. Politische Entwicklungen werden kommentiert, etwa das staatliche Schulwesen und die Entfaltungsmöglichkeiten der Kirche. Zusammenfassend stellen die Herausgeber fest: "Im Verständnis sowie der Einschätzung der Reiseprediger erwies sich der Hollandgang durchweg als ein begrüßenswerter marktpolitischer Vorgang, der nicht nur für ihre Gemeindemitglieder familiäre und lokale Lebenszusammenhänge geistlich, sozial und ökonomisch festigte und bewahren half, sondern in seiner Gesamtwirkung wechselseitig struktur- und konjunkturbedingte Krisen in den lokalen Beschäftigungsmöglichkeiten in den Niederlanden und in Nordwestdeutschland abschwächte." (XXII) Mit dem Boom in den rheinisch-westfälischen Industriezentren nahm allerdings gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Notwendigkeit der Saisonarbeit in den Niederlanden ab. 1903 wurde der Hollandgang evangelischer Geistlicher deshalb offiziell beendet.

Joachim Schmiedl