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Christine Roll / Matthias Schnettger: Die Säkularisation der Reichskirche und das Ende des Alten Reichs. Einführung, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 9 [15.09.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
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Die Säkularisation der Reichskirche und das Ende des Alten Reichs

Einführung

Von Christine Roll / Matthias Schnettger

Die Jahre zwischen 2003 und 2006 haben der historischen Forschung und der interessierten Öffentlichkeit geradezu eine Flut von Ausstellungen, Katalogen, Vortragsveranstaltungen, Sammelbänden, Biographien und Monographien zur Endphase des Heiligen Römischen Reichs zwischen Reichsdeputationshauptschluss von 1803 und der Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II./I. im August 1806 beschert. Wohl nie zuvor war das frühneuzeitliche Reich in den Feuilletons so präsent wie in diesen Jahren, als jubiläumsbedingt auf sein Ende zurückgeblickt wurde. Deshalb erschien es uns sinnvoll, in einem FORUM eine erste Zwischenbilanz zu ziehen, auch wenn auf die einschlägigen Publikationen zum Reichsdeputationshauptschluss und seinen Folgen hier nicht noch einmal ausführlich eingegangen werden kann [1] und die Dokumentation einiger wichtiger Tagungen über 1806 wie etwa des Greifswalder Kolloquiums "Das Ende des Alten Reiches im Ostseeraum" (Juni 2006) und der Konstanzer Historikertagssektion "Epochenjahr 1806? Das Ende des Alten Reichs in zeitgenössischen Perspektiven und Deutungen"? (September 2006) - noch aussteht.

Bei den in diesem FORUM vorgestellten Büchern handelt es sich zum einen um zwei Publikationen zur Säkularisation: Aus der Feder von Ute Ströbele stammt eine Monographie über die Säkularisation von Frauenklöstern im habsburgischen Südwesten unter Joseph II., und ein von Volker Rödel, Hans Ammerich und Thomas Adam herausgegebener Sammelband diskutiert die Säkularisation der Bistümer und Reichsklöster am Oberrhein im Zusammenhang mit dem Reichsdeputationshauptschluss. Zum anderen werden zwei Ausstellungskataloge besprochen, die dem Jahr 1806 gewidmet sind, nämlich der der Berliner Europarats-Ausstellung und der des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs. Das dritte "Paar" bilden die Studien von Wolfgang Burgdorf und Eric-Oliver Mader über das definitive Ende des Alten Reichs aus der Sicht der Funktionseliten des Reichs, insbesondere der Reichstagsgesandten und der Assessoren am Reichskammergericht. Schließlich ist eine österreichische Arbeit vorzustellen, die allerdings, anders als ihr Titel erwarten lässt, nicht die Schwellenzeit um 1800 diskutiert, sondern das Jubiläumsjahr des Reichsendes zum Anlass für eine Darstellung der frühneuzeitlichen Reichsgeschichte nimmt: Unter dem Titel "Zeitenwende 1806. Das Heilige Römische Reich und die Geburt des modernen Europa" legt Brigitte Mazohl-Wallnig eine Studie vor, in der das Verhältnis der monarchia austriaca zum Reich in der gesamten Frühen Neuzeit im Mittelpunkt steht.

Überblickt man diese und andere neue Publikationen zur Endphase des Reichs, lässt sich die Forschungssituation folgendermaßen beschreiben: Die "Sicht der Sieger", die nicht nur populäre Auffassungen, sondern auch die wissenschaftliche Forschung bis vor gar nicht langer Zeit dominiert hat, ist in den letzten Jahren differenzierteren Urteilen gewichen. Das gilt für das lange gültige Verdikt über die politische Herrschaft des Klerus wie überhaupt das geistliche Leben am Ende des 18. Jahrhunderts, es gilt für das angeblich passive Hinnehmen des Schicksals durch die Säkularisierten, es gilt für die vermeintliche Sang- und Klanglosigkeit des Reichsendes 1806 und schließlich, aus einer weiteren Perspektive, auch für den Zustand des Alten Reichs um 1800 überhaupt. Die vielfältigen Befunde und Einsichten im Detail wird man in den nächsten Jahren zu bündeln und zu gewichten haben, und wird dabei, das lässt sich schon jetzt prognostizieren, zu einem deutlich differenzierten und damit auch neuen Gesamtbild von der Endphase des Alten Reichs gelangen.

Ein Schwerpunkt der weiteren Diskussion dürfte auf der Bedeutung der Säkularisation der Reichskirche für das Ende des Alten Reichs liegen. Einerseits nämlich machen die neuen Studien noch stärker als die bisherige Forschung deutlich, dass die Säkularisationen des 18. Jahrhunderts - und hier vor allem die Klosteraufhebungen Kaiser Josephs II. - den Dammbruch von 1802/03 zumindest erheblich erleichterten und die josephinische Kirchenpolitik die letzten Skrupel an den südwestdeutschen Fürstenhöfen beseitigte. Nachdem dann ungefähr die Hälfte der Reichsstände abgewickelt war und weitere zur Disposition gestellt wurden, stand ein anderes als das Alte Reich da, eines, das, seiner wichtigsten Stützen beraubt, zum Garanten von Recht, Frieden und Sicherheit ohnedies nicht mehr taugte und auf sein Ende geradezu hinsteuerte. Andererseits aber ist das eben doch die Sichtweise dessen, der das Ende kennt. Und man sollte weder jene zeitgenössischen Stimmen überhören, die im Reichsdeputationshauptschluss auch eine Chance für eine Reichsreform erkannten, noch die Befunde Wolfgang Burgdorfs und Eric-Oliver Maders ignorieren, die zeigen, dass die Reichsinstitutionen eifrig und ungehindert bis in den August 1806 weiterarbeiteten und ihr Personal kein Reichsende erwartete, sondern nach den Sommerferien seine Tätigkeit wiederaufzunehmen gedachte.

Vor diesem Hintergrund wird deshalb auch der Zäsurcharakter des Jahres 1806 wie überhaupt der Schwellenjahre 1803/1806 erneut zu diskutieren sein. So zeigt sich ja gerade im Hinblick auf das definitive Reichsende im August 1806, welchen Beitrag die neuen Einsichten in die Sichtweisen und Reaktionen der Zeitgenossen zum Verständnis des Geschehens zu leisten vermögen: Sowohl die nun vermehrt bekannt werdenden Äußerungen und Reflexionen der Beteiligten, der Betroffenen und der Beobachter als auch deren in ihren Biographien erkennbaren Überlebensstrategien nach dem Ende des Reichs weisen doch sehr viel mehr Facetten auf - Facetten der Wahrnehmung wie der Handlungsoptionen -, als es die lange dominierende borussische Historiographie wahrhaben wollte. Weitere Aufschlüsse über die Bedeutung von "1803" und "1806" lassen entsprechende biographische und gruppenbiographische Studien über den Klerus der Reichskirche und den betroffenen Adel erwarten. Vielleicht ergäbe sich dann auch eine stichhaltige Begründung für die erstaunliche Tatenlosigkeit der hohen Geistlichkeit des Reichs im Angesicht ihres Untergangs, eine Tatenlosigkeit, die kritischen studentischen Köpfen kaum zu vermitteln ist. Eine Gesamtschau der Endphase des Reichs indessen, und sei es auch nur eine vorläufige, sollte die Perspektive auf die Mikrostrukturen mit der "großen Politik" verbinden und dabei auch die europäischen Dimensionen des Geschehens nicht außer Acht lassen.

Bemerkenswert im Zusammenhang mit den besprochenen Publikationen ist der Befund, wie sehr bei der Verhandlung des Reichsendes zugleich die Reichsgeschichte als ganze in den Blick genommen wurde. Dies gilt sowohl für das Buch von Brigitte Mazohl-Wallnig, das mit dem Verhältnis Österreich - Reich ein für die österreichische Geschichtswissenschaft zentrales Thema unter neuen Fragestellungen aufgreift, wie insbesondere für den Berlin-Magdeburger Ausstellungskatalog, der ja sogar das gesamte Mittelalter in die Betrachtung einbezieht. Besonders im letzteren Fall drängt sich der Gedanke auf, dass das Epochenjahr 2006 genutzt worden ist, um ein quasi in der Luft liegendes Thema aufzugreifen. Scheinbar war die Zeit nach einem halben Jahrhundert "neuer" Reichsforschung reif, die neue Sicht auf das Alte Reich durch eine repräsentative Ausstellung einem größeren Publikum zu vermitteln. Zugleich wurden mit dem Medienereignis, das eine so groß dimensionierte Ausstellung (die zudem teilweise in der Bundeshauptstadt stattfand!) immer impliziert, das Alte Reich und seine Verfassung quasi für einen föderalistischen und rechtsstaatlichen "Stammbaum" der heutigen Bundesrepublik Deutschland reklamiert. Man könnte auch sagen: Indem man die Erinnerung an seinen Untergang zelebrierte, holte man das Alte Reich als einen positiv konnotierten Teil der eigenen Vergangenheit in das allgemeine deutsche Geschichtsbild zurück - bzw. strebte dies zumindest an.

Mit diesem Befund stehen weitere Beobachtungen im Zusammenhang: die Dynamik, welche Jubiläen für die historische Forschung entwickeln können, und der enorme Einfluss, den nicht nur die damit im Zusammenhang stehenden Tagungsbände, sondern insbesondere auch die großen Ausstellungskataloge auf die fachwissenschaftliche Diskussion haben. Dies mag einmal damit im Zusammenhang stehen, dass es ungleich schwerer ist, eine umfassende Monographie "punktgenau" für ein anstehendes Jubiläum abzuschließen (und zum Druck zu bringen!), als eine Reihe von Spezialisten zu einem Aufsatz oder Essay zu bewegen, oder auch dem "Iconic Turn" geschuldet sein, im Zuge dessen Ausstellungen und Kataloge als ein besonders zeitgemäßes Medium erscheinen. Das mag aber auch damit zusammenhängen, dass insgesamt die wissenschaftliche Kleinform auf dem Vormarsch ist, weil angesichts steigender Arbeitsbelastungen Monographien - und schon gar aus den Quellen schöpfende Grundlagenwerke - von den "Etablierten" der Zunft nur schwer zu schultern sind (und auch vom Rezipienten einen größeren Zeitaufwand verlangen). Der Blick auf die in diesem FORUM vorgestellten Publikationen lässt allerdings erkennen, dass Ausstellungskataloge sehr wohl ihren Wert in der Bündelung von Forschungserträgen und ihrer Vermittlung über den Kreis der Fachspezialisten hinaus haben, dass aber, um die Forschung voranzubringen, die große Monographie unentbehrlich bleibt, und dass es gut ist, wenn sich hier nicht nur die "Nachwuchshistoriker" engagieren. Die Thesen Wolfgang Burgdorfs beispielsweise konnten so nur von einem erfahrenen Historiker in intensiver Quellenarbeit entwickelt werden. Selbst wenn man ihnen nicht uneingeschränkt zustimmen mag, werden sie jedenfalls, so ist zu hoffen, die Forschungsdiskussion stimulieren - und davon lebt die Geschichtswissenschaft!


Anmerkung:

[1] Statt vieler sei hier das ertragreichste Sammelwerk genannt: Volker Himmelein und Hans Ulrich Rudolf (Hg.): Alte Klöster - neue Herren. Die Säkularisation im deutschen Südwesten 1803. Katalog und Begleitbücher der Landesausstellung Baden-Württemberg 2003 in Bad Schussenried, insgesamt 3 Bde., Sigmaringen 2003.

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