Rezension über:

Eckart Olshausen / Holger Sonnabend (Hgg.): "Troianer sind wir gewesen" - Migrationen in der antiken Welt. Stuttgarter Kolloquium zur Historischen Geographie des Altertums 8, 2002 (= Geographica Historica; Bd. 21), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, 431 S., ISBN 978-3-515-08750-6, EUR 78,00
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Rezension von:
Karl-Wilhelm Welwei
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Karl-Wilhelm Welwei: Rezension von: Eckart Olshausen / Holger Sonnabend (Hgg.): "Troianer sind wir gewesen" - Migrationen in der antiken Welt. Stuttgarter Kolloquium zur Historischen Geographie des Altertums 8, 2002, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 9 [15.09.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/09/11909.html


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Eckart Olshausen / Holger Sonnabend (Hgg.): "Troianer sind wir gewesen" - Migrationen in der antiken Welt

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Die insgesamt 35 Beiträge in diesem Sammelband behandeln eine Fülle von Aspekten zahlreicher Wanderbewegungen in dem weiten chronologischen Rahmen vom Späthelladikum bis zur Herrschaft Iustinians. Die Breite der Thematik bedingt unterschiedliche methodische Ansätze der Autoren. Um Leitgedanken bemühen sich zunächst die Verfasser der beiden ersten Aufsätze. Werner Peukert thematisiert unter dem Stichwort "Fremdheit" die Auswirkungen auf Leben und Sprache migrierender Verbände in ihrem neuen "Umfeld" (9-13), während Herbert Graßl die logistischen Probleme analysiert, die generell im Verlauf von großen Wanderzügen in der Antike zu meistern waren (14-19). Grundlegende Fragen der Vorbereitung und Durchführung einer "Migration" diskutiert Holger Sonnabend anhand der Version Herodots (1,94) von einer Auswanderung eines Teiles der Lyder nach Italien (104-107). Er legt dar, dass Herodot in der Darstellung der angeblich lydischen Herkunft der Etrusker ein Szenario entwirft, das cum grano salis der Vorbereitung griechischer Kolonistenzüge entsprochen haben könnte.

In einer zum Verständnis antiker Sozial- und Wirtschaftsstrukturen wichtigen Untersuchung zur Mobilität von Händlern und Handwerkern zeigt Kai Ruffing, dass in städtischen Bereichen von einer statisch wirkenden Gesellschaft im Altertum keine Rede sein kann (133-149). Eine wertvolle Ergänzung hierzu sind die Ausführungen Karin Hornigs, die Quellen zu wandernden Künstlern und ihrer Rolle in Migrationsprozessen auswertet (200-210). Umfassende Themen behandeln auch Iris von Bredow, die den Transfer von Kulten und den Neubeginn kultischen Lebens nach Wanderbewegungen analysiert (310-317), sowie Silke Knippschild und Vera Sauer in ihren überlegungen zu den Vorstellungen, die mit Mythen von wandernden Göttern verbunden wurden (329-335). Ein weiteres übergreifendes Thema behandelt Peter Kehne, der kollektive Zwangsumsiedlungen auf breiter Quellenbasis erörtert und eine theorieorientierte Typisierung völkerrechtlich relevanter Deportationen bietet (229-243).

Die meistern Beiträge handeln von Migrationen, die durch Veränderungen der Lebensverhältnisse in den Ausgangsgebieten der Wanderzüge bedingt waren oder die Gründung neuer Gemeinwesen zum Ziel hatten. Michael Kerschner wendet sich gegen Forschungsthesen, die den geschichtlichen Aussagewert der schriftlichen Überlieferung zur "Ionischen Kolonisation" in Frage stellen (364-382). Er räumt aber ein, dass die Bezeichnung "Ionier" als Sammelname für Auswanderer aus verschiedenen Regionen Griechenlands zu werten ist. Eine Ergänzung hierzu ist der Beitrag von Gian Franco Chiai über ethnische Veränderungen in der Troas im Verlauf der Zuwanderung proto-aiolischer Dialektgruppen (276-290). Um die Lokalisierung des Phaiakenlandes bemühen sich Armin Wolf, der die Siedlung des legendären "Volkes" in Kalabrien vermutet (20-53), und Heinz Warnecke, der die "homerische Hafenstadt der Phaiaken" nach Thesprotien verlegen möchte (54-69). In beiden Beiträgen, in denen vornehmlich Mythen und Legenden als Quellen ausgewertet werden, sind die Argumentationslinien kaum nachvollziehbar. Dies gilt erst recht für die These von Jost Knauss, der Migrationen in Boiotien vermutet, die infolge einer großen "Sintflut" nach dem von ihm ins Jahr 1529 v. Chr. datierten Vulkanausbruch auf Thera erfolgt sein sollen (77-80). Mit einer Phase der griechischen Kolonisation im Tyrrhenischen Meer beschäftigt sich Linda-Marie Günther (244-249). Sie vermutet ansprechend, dass Söldner aus Knidos und Rhodos, die in Ägypten gedient hatten, nicht in ihre Heimat zurückkehrten, sondern eine weitere Emigration nach Westen vorzogen. Dementsprechend sollte das Erklärungsmodell für griechische Kolonisationsunternehmen erweitert werden.

Von den thematisch und chronologisch mehr oder weniger begrenzten Aufsätzen sind ferner hervorzuheben die Ausführungen von Wolfgang Orth zu Autochthonie und "Ostkolonisation" im politischen Konzept des Isokrates (90-97), die Ausführungen von Ulf Scharrer zu Einwanderungen griechischer und makedonischer Gruppen in den hellenistischen Osten (336-363), der Beitrag von Angelos Chaniotis über hellenistische Kriege als Ursachen für Migration (98-103), die Bemerkungen von Franz Schön über die Germani Cisrhenani (167-183), die Überlegungen von Klaus Tausend zur Ethnogenese im germanischen Raum (393-401) und der terminologisch orientierte Aufsatz von Eckart Olshausen zum Thema "Patria als Heimatbegriff" (316-324).

Insgesamt gesehen bilden die Aufsätze zu Migrationen und kolonisatorischen Aktivitäten der Hellenen einen gewissen Schwerpunkt. Erfreulicherweise beschränken sich die Beiträge nicht auf den mediterranen Raum. Michele Cautadella skizziert die Situation griechischer Siedler in Baktrien, die unter Euthydemos I. mit einer wachsenden Gefahr nomadischer Raids konfrontiert waren (383-392), und Stefan Faller prüft mögliche Hinweise auf Kommunikationswege von Indonesien in das Mittelmeergebiet (115-127).

Abschließend sei vor allem ein Paradigma der Auswertung mehrerer Fallstudien zu Prozessen der Ethnogenese hervorgehoben. John Bintliff betont in einem Überblick über Zuwanderung und Akkulturation im antiken Hellas (108-114), dass Ethnizität generell zu einem großen Teil als "cultural construct" zu werten ist und ein Ethnos "eine offene und veränderliche Struktur" aufweist. Hierzu bietet der Sammelband insgesamt eine Fülle von Informationen.

Karl-Wilhelm Welwei