Rezension über:

Timm C. Richter (Hg.): Krieg und Verbrechen. Situation und Intention: Fallbeispiele (= Villa ten Hompel. Aktuell; 9), München: Martin Meidenbauer 2006, 268 S., ISBN 978-3-89975-080-5, EUR 36,90
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Rezension von:
Jürgen Förster
Freiburg/Brsg.
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Förster: Rezension von: Timm C. Richter (Hg.): Krieg und Verbrechen. Situation und Intention: Fallbeispiele, München: Martin Meidenbauer 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 7/8 [15.07.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/07/11967.html


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Timm C. Richter (Hg.): Krieg und Verbrechen

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Der Sammelband von Timm Richter resultiert aus einer Tagung von Nachwuchshistorikern im Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster im Sommer 2005. Der Herausgeber sowie die meisten der 24 Autorinnen und Autoren sind erst knapp über dreißig. Das Taschenbuch schließt "bewusst inhaltlich" an den von Christian Hartmann, Johannes Hürter und Ulrike Jureit herausgegebenen Tagungsband "Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte" an. [1]

Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert. Im ersten werden situative und eigendynamische Aspekte an der Anatomie von vier Kriegsverbrechen gezeigt, die chronologisch und örtlich von Belgien 1916 bis Kreta 1945 reichen, sowie die Auswahl und Ausbildung einer markanten Gruppe von Nachwuchskräften des SD thematisiert. Der zweite Abschnitt ist dem historischen Vergleich gewidmet. Diesen sogenannten Königsweg der Geschichtswissenschaft beschreiten aber leider nur drei Autoren. Dabei ergibt Martin Cüppers' Binnenvergleich von zwei Waffen-SS Regimentern beim Judenmord eine unterschiedlich radikale Auslegung erhaltener Befehle im August 1941. Jeweils zwei Autoren beschäftigen sich im dritten und vierten Abschnitt mit verschiedenen Tätergruppen während des Zweiten Weltkrieges. Dabei werden einerseits SS-Angehörige in Norwegen und in Warschau, die ukrainische Lokalverwaltung, sowjetische Partisanen und sogar koreanische Wachmannschaften in japanischen Lagern für alliierte Kriegsgefangene in den Blick genommen. Andererseits wird der Wehrmacht ein eigenes Kapitel eingeräumt.

Die Verbindung von intentionalen und situativen Motiven bei Kriegsverbrechen wird besonders deutlich im Beitrag von Felix Römer über die Befolgung des Kommissarbefehls 1941/42. Weil ideologischer Fanatismus keine unabdingbare Voraussetzung für die Erschießung von gefangen genommenen Truppenkommissaren war, stellte die Ausführung des Mordbefehls in so vielen Befehlsbereichen des Heeres "kein Problem für die Truppe" dar (Tätigkeitsbericht des Ic der Panzergruppe 3 von Mitte August 1941). Ähnlich wie Cüppers kann auch Jörg Hasenclever zeigen, dass die militärischen Befehlshaber der rückwärtigen Heeresgebiete die ihnen zugewiesene Rolle bei der Ermordung der sowjetischen Juden unterschiedlich interpretierten. Ein nahezu unbekanntes Kriegsverbrechen der Wehrmacht rückt Christoph Rass in den Blick der Öffentlichkeit. Militärisches Kalkül führte im März 1944 zu einer "Musteroperation" der 9. Armee bei Ozarichi in Weißrussland. Die Deportation von ca. 50 000 "unnützen Essern" ins Niemandsland vor die eigene Truppe forderte ca. 9 000 Opfer. Der fünfte und letzte Abschnitt beschäftigt sich mit Kriegsverbrechen im Fokus von Völkerrecht und Justiz. Hier reicht die Bandbreite von der internationalen Debatte zur Ahndung von Kriegsverbrechen ab 1919 bis zu dem Verhältnis von Kombattanten und Nichtkombattanten in den bewaffneten Konflikten der Gegenwart.

Naturgemäß steht in diesem Sammelband zu Krieg und Verbrechen der Zweite Weltkrieg im Mittelpunkt und dort der Kriegsschauplatz im Osten. Leider thematisieren nicht alle Beiträge die Leitfrage "Situation und Intention". Auch mit der juristischen Aufarbeitung von Kriegsverbrechen wird der vorgegebene Rahmen des Bandes verlassen. Dass der Krieg an der Ostfront tatsächlich den von Hitler propagierten Charakter eines "Vernichtungskampfes" bekam, wäre ohne die tatkräftige Mitwirkung der Wehrmacht - und zwar schon vor dem 22. Juni 1941 - sowie ohne die in Polen gemachten "Erfahrungen" nicht denkbar gewesen. Hierzu bedurfte es nicht nur der Komplizenschaft ihrer Führungseliten in den Oberkommandos und höheren Kommandobehörden im Feld. Genauso unabdingbar war die Bereitschaft der Empfänger ihrer Befehle. Die Marschrichtung der Truppe gaben nämlich die Regiments- und Bataillonskommandeure vor. Unbeschadet ihrer Individualität ist bei ihnen ein ausgeprägtes "gruppenspezifisches Regelverhalten" feststellbar, das sich aus Status, Lebensalter, Generationserfahrungen und politischen Dispositionen speiste. Aber auch aggressiver Antislawismus und Antisemitismus sowie Überzeugungen kultureller Überlegenheit ließen Kommandeure und Soldaten nicht automatisch zu Mördern werden. Die von Wehrmacht und SS in Europa verübten Gewalttaten sind eben ohne die Einbeziehung der jeweiligen situativen Begleitumstände nicht zu erklären. Schwarz-Weiß-Zeichnungen taugen nicht für das komplexe Geschehen des Zweiten Weltkrieges. Darauf aufmerksam gemacht zu haben, ist das unbestreitbare Verdienst dieses Sammelbandes, seines Herausgebers und der von ihm ausgewählten Nachwuchshistoriker. Wenn diese Generation so weiterforscht, können sich die Alten beruhigt zurückziehen.


Anmerkung:

[1] Christian Hartmann / Johannes Hürter / Ulrike Jureit (Hg.): Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte, München 2005.

Jürgen Förster