Rezension über:

Rahel E. Feilchenfeldt / Thomas Raff (Hgg.): Ein Fest der Künste. Paul Cassirer: Der Kunsthändler als Verleger, München: C.H.Beck 2006, 424 S., 156 Abb., ISBN 978-3-406-54086-8, EUR 29,90
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Rezension von:
Angela Reinthal
Deutsches Literaturarchiv, Marbach
Redaktionelle Betreuung:
Olaf Peters
Empfohlene Zitierweise:
Angela Reinthal: Rezension von: Rahel E. Feilchenfeldt / Thomas Raff (Hgg.): Ein Fest der Künste. Paul Cassirer: Der Kunsthändler als Verleger, München: C.H.Beck 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 6 [15.06.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/06/10876.html


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Rahel E. Feilchenfeldt / Thomas Raff (Hgg.): Ein Fest der Künste

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Drei Jahre nach Paul Cassirers Selbstmord im Januar 1926 erinnert sein früherer Lektor, der expressionistische Dichter Ernst Blass, im "Berliner Tageblatt" an einen bedeutenden "Wegbereiter der Moderne": "[...] Ich war Lektor seines Verlages, oder wie man diese Tätigkeit nennen will. Aber von Beruflichem wurde sehr wenig gesprochen. Fast immer sprach Cassirer von ganz anderen Sachen. Man konnte ihn da kaum mit beruflichen Fragen unterbrechen, wenn er von Menschen, Bildern, Epochen, Geschäften, von seinen Erinnerungen oder von Tagestrivialitäten sprach. Meist heftig und polemisch, aber durchaus nicht etwa gereizt. Etwas Wildes, Orgiastisches, Exhibitionistisches war in diesem dauernd interessanten Mitteilen. Er überredete immer, faszinierte, suggerierte. Aber wen? Aber warum? Aber wozu? Daß Cassirer Kunsthändler war, weist kaum seine Stellung im Kosmos an. Er hat an der Kunst sehr stark und tief gehangen, und er liebte den Erfolg. Was psychologisch seine Lebenslinie war, wird wohl kaum einer wissen und schwer einer konstruieren können. Aber er war eine einzigartige Person." [1]

Christian Kennert versuchte in seiner 1996 erschienenen, sorgfältig recherchierten Studie "Paul Cassirer und sein Kreis. Ein Berliner Wegbereiter der Moderne" [2], dessen "Lebenslinie" zu rekonstruieren. Der vorliegende, von Rahel E. Feilchenfeldt und Thomas Raff herausgegebene Sammelband nähert sich Paul Cassirer durch ein mosaikartiges Verfahren in 25 chronologisch angeordneten Beiträgen, die schlaglichtartig einzelne Facetten beleuchten. Die Lektüre des Bandes über diese "einzigartige Person" Paul Cassirer, der zeitgleich zur Ausstellung "Ein Fest der Künste" am Pariser Platz in Berlin bzw. im Jüdischen Museum in Frankfurt am Main 2006 erschienen ist, sich aber nicht als Ausstellungskatalog versteht, zeigt, dass sein Untertitel "Der Kunsthändler als Verleger" nicht zutrifft. Cassirer war ein sehr komplexer Charakter, der seine Interessen oft nach eigenem Instinkt verfolgte und, wie die Herausgeber im Vorwort auch schreiben, stets den Anspruch hatte, "unterschiedliche künstlerische Disziplinen zueinander in Verbindung zu setzen" (11). Eine Differenzierung in Kunsthändler, Verleger, Schriftsteller, Herausgeber, Entdecker, Mäzen, Förderer, Vermittler und weiteres stößt hier rasch an Grenzen und reduziert eine überragende Persönlichkeit. Ja, die spannenden Einblicke gewinnt man gerade da, wenn in den einzelnen Beiträgen die vielseitigen Aktivitäten und das Ineinandergreifen von Cassirers Interessen vorgestellt werden.

1898 gründeten die Vettern Bruno und Paul Cassirer eine gemeinsam geführte Kunst- und Verlagsanstalt in Berlin, Victoriastraße 35, in der Nähe des Potsdamer Platzes. Bald trennten sich die geschäftlichen Wege: 1901 übernahm Bruno den Buchverlag, Paul konzentrierte sich auf die Kunstanstalt und den Kunstverlag. Diese Informationen kann man der "Dokumentation" (ab 392) entnehmen, die neben den Lebensdaten von Paul Cassirer, einem Stammbaum der Familie, den Ausstellungen und Publikationen 1898-1933 (in Auswahl) und weitere Hinweise knapp zusammenfasst, was sich durch die einzelnen Beiträge kaum zu einem Bild zusammenfügen lässt. Erst mit der "Pan-Presse", die Paul Cassirer 1909 gründete, nachdem die zwischen den Vettern vertraglich vereinbarte "Abstinenz" (102) abgelaufen war, hatte dieser alle publizistischen Möglichkeiten zur Hand, um sein Ziel, "die Vermittlung zwischen einer neuen Ästhetik und dem Bürgertum", zu erreichen. Dieses Ziel verfolgte er nicht allein. Ein Verdienst dieses Sammelbandes besteht darin, Einblicke in das Netzwerk Paul Cassirers zu geben. Wichtige Mitarbeiter wie Leo Kestenberg werden ebenso gewürdigt wie die Beziehungen zu bildenden Künstlern wie Max Slevogt, Max Beckmann, Ernst Barlach, Georg Kolbe und August Gaul sowie zu Max Liebermann, der in dieser Konstellation eine zentrale Position einnahm. Auch die Förderung von Autoren wie Heinrich Mann, Else Lasker-Schüler, Ernst Bloch, René Schickele und anderen wird dargelegt, auch wenn sich herausstellt, dass Autoren wie Bloch im Verlag Paul Cassirer keinen Erfolg hatten.

Wie sehr bei Paul Cassirer eines ins andere greift, zeigt exemplarisch der Beitrag von Ursula Hudson-Wiedemann über die im Verlag von Cassirer edierte Musik (310-328): Bei Vortragsnachmittagen und Rezitationsabenden spricht Cassirers zweite Frau, die Schauspielerin Tilla Durieux, unter Begleitung von Leo Kestenberg die Texte im "Salon Cassirer". Hans Meid illustrierte Cassirers ersten Musiktitel im Verlag, Mozarts "Don Juan", mit 15 Radierungen. Die Randzeichnungen Max Slevogts zu Mozarts "Die Zauberflöte", entstanden zwischen 1917 und 1920 und sind als Gesamtkunstwerk zu verstehen. Sie waren drei Tage nach Eröffnung der Subskription vergriffen (319). Das Fazit der Verfasserin: "Die Musiktitel des Verlages wurden von hochrangigen Künstlern und Autoren geschaffen und tragen wesentlich dazu bei, dass sich mit dem Namen des Kunsthändlers und Verlegers Paul Cassirer der Gesamteindruck einer Förderung der Moderne verbindet, die alle Künste umfasst." (325)

Die einzelnen Beiträge schlagen einen Bogen von Cassirers Zeit als Student bis hin zur Zerschlagung des Verlags im Nationalsozialismus, wenn auch der Schwerpunkt in der Phase von 1900 bis 1920 liegt. In der Tat bleibt "die Entdeckung der Moderne durch eine Handvoll Menschen", auch heute noch "faszinierend", wie Friedrich Pfäfflin konstatiert (172). Persönlich wünschte man sich zusätzlich einen Beitrag über die Beziehung zwischen Paul Cassirer und Harry Graf Kessler, denn Kessler, der zu dieser "Handvoll Menschen" gehörte, wird, wie man dem Namenregister entnehmen kann, mehrfach genannt, und sicherlich hätte eine biografische Studie viele Gemeinsamkeiten zwischen beiden aufdecken können. Kessler war ebenfalls ein Bürger jenes Europa, das "die Vereinigten Staaten des Geistes" genannt wurde, und auch für ihn mag gelten, was Catherine Kramer in ihrer bemerkenswerten Charakterisierung von Paul Cassirer schreibt: Er war "ein verborgener Schriftsteller, ein schöpferischer Mensch, der nur durch andere wirken konnte." (93)

Der Band gibt in impressionistischer Manier Einblicke in Paul Cassirers Leben und Wirken. Die Beiträge werden vor allem dann aufschlussreich, wenn ein Verfasser sich auf wenige ausgewählte Sachverhalte konzentriert. Dass ein Zitat doppelt verwendet wird (92, 106), lässt sich bei einem Sammelband kaum vermeiden; ein scheußlicher Trennfehler ("druk-kgraphisch, 89) hätte korrigiert werden können. Manche Anglizismen mögen den Germanisten stören ("Pan-Connection", 87; "Briefe von Paul Cassirer und seinem Team", 363). Auf die im letzten Aufsatz angekündigte Briefausgabe kann man dennoch gespannt sein, und den handlichen Sammelband stellt man sicher gern ins Regal neben Georg Brühls imposantes Werk "Die Cassirers. Streiter für den Impressionismus". [3]


Anmerkungen:

[1] Ernst Blass: Erinnerung an Paul Cassirer. Zu seinem dritten Todestag, in: Berliner Tageblatt 58. Jg., Nr. 12, 8.1.1929, Morgenausgabe, 2-3.

[2] Christian Kennert: Paul Cassirer und sein Kreis. Ein Berliner Wegbereiter der Moderne (= Gesellschaften und Staaten im Epochenwandel, Bd. 4). Frankfurt am Main u.a. 1996.

[3] Georg Brühl: Die Cassirers. Streiter für den Impressionismus. Leipzig 1991.

Angela Reinthal