Rezension über:

Golo Mann: Briefe 1932-1992. Herausgegeben von Tilmann Lahme und Kathrin Lüssi (= Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt ; Bd. 87), Göttingen: Wallstein 2006, 535 S., 32 Abb., ISBN 978-3-8353-0003-3, EUR 34,00
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Rezension von:
Klaus-Dietmar Henke
Technische Universität, Dresden
Empfohlene Zitierweise:
Klaus-Dietmar Henke: Rezension von: Golo Mann: Briefe 1932-1992. Herausgegeben von Tilmann Lahme und Kathrin Lüssi, Göttingen: Wallstein 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 4 [15.04.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/04/12301.html


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Golo Mann: Briefe 1932-1992

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Aus dem Schatten seiner literarischen Jahrhundert-Familie ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit zu treten, war dem zeitlebens von Selbstzweifeln geplagten Golo Mann erst dann uneingeschränkt vergönnt, als nach Klaus und Heinrich Mann auch sein Vater gestorben war. 1958, drei Jahre nach dem Tod des bewunderten "Zauberers" und bedrängenden "Monstrums", erschien seine "Deutsche Geschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts". Das Werk des immerhin fast 50-Jährigen sollte sich, unerreicht, über zwei Millionen Mal verkaufen und könnte das Geschichtsbild der Deutschen stärker beeinflusst haben als jede andere historische Darstellung.

Das Buch erschien just in dem Moment, als sich die Bundesrepublik allmählich aus ihrer Amnesie gegenüber den Verbrechen der NS-Zeit zu befreien und die Abspaltung der Hitler-Jahre vom Kontinuum der Nationalgeschichte zu überwinden begann. Golo Mann war einer der Ersten, der dies zu seiner Sache machte. In geradezu befreiender Deutlichkeit und der Absicht einer Historisierung des Nationalsozialismus stellte der zurückgekehrte Emigrant nämlich fest: "Wie ein verfluchtes Haus, ein Mörderhaus, von dem die Dorfbewohner wegsehen und das doch in ihrer Mitte ist, so steht das 'Dritte Reich' in der Erinnerung der Deutschen; und es steht wie eine Mauer zwischen der Gegenwart und aller früheren Vergangenheit." [1]

Erst jetzt, nachdem der ein wenig linkisch gebliebene Sohn des Nobelpreisträgers ein halbes Leben als Autor, Redakteur und Geschichtsdozent hinter sich und auch schon eine wenig beachtete Biografie des konservativen Napoleon-Gegners Friedrich von Gentz vorgelegt hatte, begann sein Aufstieg zu einem der prominentesten public intellectuals der Sechziger- und Siebzigerjahre, als sich die alte Bundesrepublik mehrfach häutete und im Innern wie nach außen zu ihrer scheinbar endgültigen Existenzform fand.

Es ist diese Rolle Golo Manns als Präzeptor, ja "Denkmal" (264), wie er selber sagte, die in der ungemein sorgfältig selektierten, kommentierten und interpretierten Briefedition besonders eindrücklich erlebbar wird. Dabei befielen ihn immer wieder Zweifel, ob die späte Wertschätzung wirklich ihm galt oder, so in einem Brief an Karl Dietrich Bracher, ob nicht "doch immer noch Wiedergutmachung an T[homas] M[ann] im Spiel" (294) war. Die unter Tausenden ausgewählten 172 Briefe vermitteln freilich auch anderes und Neues - sein wandelbares Verhältnis zu Deutschland etwa, das Leiden an seiner Familie, an sich selbst und an seinem Werk.

Manns weitläufige Korrespondenz zeigt, dass er sich ebenso wie sein Vater in Rage schreiben konnte; im Sommer 1939 zum Beispiel: "Ach, ginge es nach meinem plumpen, unmittelbaren Instinkt, so würde einmal so unter diesem Volk gewütet, dass etwa die Hälfte übrig bliebe, diese aber über Reich und Herrenrasse endgültig Bescheid wüsste" (35); im Herbst 1943: Er könne "das ganze Gesindel in Grund und Boden nicht ausstehen. Schlagt sie tot!" (72). Solche wüsten Passagen waren ihm selbst peinlich. Er bat seinen Briefpartner um ihre Vernichtung, wirkte nach 1945 beim Aufbau des Hessischen Rundfunks mit und bescheinigte den Deutschen schon Mitte der Fünfzigerjahre, sie benähmen sich "alles in allem, erstaunlich vernünftig" (127).

Noch vor dem amerikanischen Kriegseintritt redete Golo Mann einem "gegenseitigen Vergessen" (52) als psychologische Voraussetzung für ein Zusammenleben mit den Deutschen nach Hitler das Wort. Besser als mancher nachgeborene Historiker wusste er: "Wenn so ein ungeheures Giftgeschwulst wie der Nazismus operiert wird, wo soll da wohl gleich nachher die glatte gesunde Haut herkommen?" (60).

Atemberaubend mitunter, wenn er seine angeborene Scheu ablegt und sich mit Autoritäten wie seinem verehrten Lehrer Karl Jaspers anlegt, der ihm die Kritik an seiner Lieblingsschülerin Hannah Arendt nicht vergeben konnte. Die hatte die deutsche Opposition gegen Hitler mit "empörendsten Verleumdungen" [2] überzogen, Jaspers dafür zu einer Art Widerstandskämpfer stilisiert, in ihrem "unerträglichen" (172) Eichmann-Buch die Judenräte quasi zu Mittätern des Holocaust gestempelt und dabei im Ton "metropolitaner Witzbolde" reichlich Arroganz, "Wichtigmacherei" und "Originalitätssucht" [3] versprüht. Schon dem "ideal-typischen Denken" ihres Totalitarismus-Buchs, das "die tiefen Unterschiede zwischen Nazismus und Stalinismus" vernachlässige (118), konnte er nicht allzu viel abgewinnen.

Golo Manns treffende und oft sehr witzige Qualifizierungen der Denker und Dichter seiner und früherer Epochen (das Register beginnt mit Theodor Adorno, Alfred Andersch, Raymond Aron und endet mit Alexis de Tocqueville, Franz Werfel und Carl Zuckmayer) werden dem geistes- und literaturgeschichtlich interessierten Leser ebenso viel geben wie die kleinen Geheimnisse der Großfamilie Mann der Großgemeinde ihrer Fans.

So zeigt sich etwa, dass Golo seine homoerotischen Neigungen keineswegs unausgelebt ließ. Seine Entfremdung vom berühmten Onkel Heinrich, der allzu lange dem Stalinismus anhing, gipfelt in dem trockenen Kommentar bei dessen Tod 1950: "Kein großer Verlust." (102). Die Last seiner Familie bleibt in den Briefen an seine Freunde von Anfang bis Ende fühlbar: " [...] diese verfluchte Familie" (240); die Klage des lebenslang Schwermütigen, der sich einmal gar als "Unter-Ich" (124) seines Vaters einstuft, dass er sich "in menschlichen, familiären Dingen stets habe anpassen müssen" (194). Er ist ein Traumatisierter: "Mein Wesen ist ja zum großen Teil aus Furcht gemacht." (181).

Gleichwohl, in bald jedem Brief entspringen der Melancholie wunderbare Formulierungen: Konflikte "verwelken" (209), ein Manuskript bietet er "mit der Geduld eines tief stehenden Tieres" (58) feil. Er fürchtet seine Mutation zu einem "Repräsentationsquatscher" (157), nennt den ihm widerwärtigen CSU-Vorsitzenden Josef Müller ein "Rüsselgesicht" (93) und verachtet die "Schlammhirne" (68).

Als wertkonservativer Kosmopolit und Realist "mit ruinöser Schwäche für Wahrheit, Gründlichkeit und Geschmack" (98) postiert er sich nicht ohne Genugtuung und Starrsinn als Wellenbrecher im mainstream und landet damit schließlich zwischen allen Stühlen. Suchte man nach einem Etikett für diesen bürgerlichen Solitär, so könnte Widerspruch und Widersprüchlichkeit darauf stehen.

Zu einem Zeitpunkt, als das noch nach Vaterlandsverrat roch und ihm wüste Attacken von rechts einbrachte, machte er sich für die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie stark. Das sei machtpolitisch realistisch und eine moralische Verpflichtung, da "die polnischen Annexionen ein barbarischer Rückschlag auf noch schlimmere Dinge" gewesen seien, die Deutschland dem Nachbarn angetan habe. Dieser Nemesis der Geschichte müsse man genauso ins Auge sehen wie der Tatsache, dass die Wiedervereinigung für lange ein unrealistisches Ziel sei. Deswegen trat er für eine de facto Anerkennung der DDR ein, um deren "gewalttätigen Ursprung" [4] er sehr wohl wusste. Diese frühen Überzeugungen ließen Mann zu einem Verehrer, Helfer und Zuarbeiter Willy Brandts und einem Befürworter der neuen Ostpolitik werden.

Kaum waren die Ostverträge durchgesetzt, ging er auf Gegenkurs zur Sozialdemokratie und namentlich zu Egon Bahr, den er im Verdacht hatte, die Entspannungspolitik in eine Äquidistanz zu den USA und der Sowjetunion münden zu lassen und Letztere damit zu einer Politik gegenüber Westdeutschland zu animieren, die es in eine gefährliche "Umarmung des Bären" treiben müsse: "Heute beginne ich, für die Freiheit der Bundesrepublik und in der Bundesrepublik ernsthaft zu fürchten" (223). Gespeist wurden seine Phobien und seine Wende gegen die Partei Willy Brandts jedoch vor allem aus der Innenpolitik. Nach anfänglicher Sympathie für die aufbegehrende Jugend schockierten ihn deren rüde Methoden derart, dass er sich zu einem der entschiedensten Gegner der so genannten 68er wandelte. Er schalt deren "Jugend- und Kinderkreuzzugswahnsinn" (190) und "Leben aus hundertjährigen Formeln" (196). Dem Vorsitzenden der SPD warf er vor, er lasse mit der Integration dieser Leute seine Partei zu weit nach links driften.

Diese Abwendung von dem starken Mann links der Mitte ging mit der Zuwendung zu dem starken Mann rechts der Mitte einher. Ähnlich wie seine Apologie Hans Filbingers begründete er sein Eintreten für den Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß mit dem Verdacht, mehr als eine potenzielle Gefahr für die Republik, wie manche glaubten, sei dieser ein Opfer von Pressekampagnen und eines "intellektuellen Terrors, ausgeübt von aller linken 'Schickeria'" (262). Dem beuge er, "Don Quijote, der ich bin", sich nicht (an seine Freundin Marion Gräfin Dönhoff, 266).

Das war allenfalls die halbe Wahrheit, denn seine Wertschätzung von Adenauer, Brandt und Strauß entsprang auch seinem aus Selbstzweifeln gespeisten Faible für Ausnahmegestalten mit historischem Nimbus. Seinem Vater konnte er sich nie entziehen, Wallenstein beschäftigte ihn ein Leben lang. Vielleicht ließ der späte Golo Mann das Pendel auch deswegen so extrem zurückschlagen, um vollends in sein Land heimzukehren, von dem er wusste, dass ihn dort allzu viele "für 'links' oder ultralinks" hielten, für einen "Halb-Kommunisten und einen Landesverräter und Deutschlandhasser sowieso" (173).

Bei allem Widerspruchsgeist und einer Bockigkeit, die ihm selbst nicht geheuer war, spürte er doch, dass er mit seiner überschießenden Dramatisierung der linken Gefahr viele Freunde vor den Kopf stieß, die Öffentlichkeit verwirrte und damit seine Autorität selbst untergrub. Trotz aller Ehrungen und dem Verkaufserfolg seiner Jugenderinnerungen verlor seine Stimme in den Achtzigerjahren zunehmend an Gewicht. Bevor er 1994 85-jährig starb, machte er ein letztes Mal durch seine Skepsis gegenüber der Wiedervereinigung ("ein Unglück" [5]) und einer Hauptstadt Berlin von sich reden.

Seine politische Wanderung nach rechts trübte Golo Mann freilich nie den Blick dafür, wo hier die Nationalapologetik beginnt. Im Bundestagswahlkampf watscht er den jungen Dr. Stoiber ab, weil er die Sozialdemokraten in die Nähe der Nazis rückt; Rolf Hochhuths ("sensationslüsterner Fanatiker", 305) Freund David Irving erkennt er früh als einen "Betrüger oder einen Narren oder wahrscheinlich beides" (250); vor dem apologetischen Hellmut Diwald ekelt es ihn nachgerade; dem distinguierten Armin Mohler erläutert er freimütig, er wolle verwirren und verhalte sich "menschlich hässlich", kurz: "Ich halte Ihre literarische Existenz für eine insgesamt schädliche, nicht nützliche." (269). Treffsicher legt er dem ehemaligen Völkerbundskommissar Carl Jacob Burckhardt auseinander, weshalb seine Memoiren Hitler unbewusst zu einem "Kreuzritter gegen den Bolschewismus" (147) machten und damit - bis zur Nolte-Kontroverse sind es noch 25 Jahre hin - den Nationalsozialismus zu bloßem Antikommunismus versimpelten; der Mord an den Juden ist für ihn ohnehin nie etwas anderes als ein "einzigartiges Verbrechen" (268). Dem steinalten Ernst Jünger, dem "ekelhaften Snob" (74), hingegen nähert er sich milde und etwas spöttisch, ohne einen Augenblick lang zu vergessen, dass dieser "einmal ein großer Verbrecher war" (109).

Schließlich Golo Mann als Historiker. Als einzige Leistung von bleibendem Wert sah er nur seine Wallenstein-Biografie an, die 1971 erschien, damals aber wie ein erratischer Block auf dem Weg einiger junger Männer auf ihrem Zug zu einer historischen Sozialwissenschaft lag. Man hielt ihm, dem die Vertiefung in die Vergangenheit "nie ein theoretisches Problem gewesen" war (216), theoriefremde Flucht ins Literarische vor. Das kränkte den "theoriewunden" (227) Autor, der sich über die Frankfurter Schule gallig grämte und Habermas "in seiner marternden Langeweile ganz unerträglich" fand (203). Das steigerte seine Empfindlichkeit gegenüber dem linken Wind noch, der inzwischen durch Rahmenrichtlinien und Hörsäle pfiff. An der Geschichtsschreibung des berühmten Historikers ließ sich gut und aufmerksamkeitsträchtig reiben. Zweifellos war die ungnädige Behandlung des in reichlich barockisierender Sprache gefassten Wallenstein-Epos überzogen, denn es vernachlässigte den "Kontext" seines Helden, die internationale Politik, die Sozial-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte keineswegs.

Als erzählender Historiker widersprach Golo Mann vehement allen deterministischen Vorstellungen vom geschichtlichen Ablauf, betonte das Element des Zufälligen und Irrationalen und die Wahlfreiheit der Handelnden, ohne deswegen die Wirkungsmacht der "Strukturen" zu negieren. Was er wollte und auch konnte wie wenige, war, dem Leser Menschen gegenwärtig zu machen. "Einen solchen Menschen", schloss er seinen Gentz, "stellt man weder durch das, was er lehrte, noch durch das, was er wirkte, ausreichend dar. Man muss seine Präsenz glaubhaft machen." [6] Mit Wissenschaftsjargon sei das nicht zu haben. Guter Stil galt ihm daher als Essenz seines Tuns: "Das Gelehrte ohne Stil und Schönheit hat doch gar keinen Sinn, ist nichts als Intelligenz-Exhibition." (116); Neuschöpfung des Vergangenen, ohne die sich der Mensch fremd bliebe, aus dem Geist der Sprache. [7]

In einem Brief an Pater Angelus Waldstein, einem entfernten Nachfahren Wallensteins, kam Golo Mann mehr en passant auf sein Streben und seine Möglichkeiten zu sprechen: "Übrigens", dankte er für einen Weihnachtsgruß, "können Sie viel besser dichten als ich, der ich allenfalls Gedichte übersetzen kann - ein Ersatz. Oder die Gedichte anderer Leute vortragen kann, auch ein Ersatz. Bei mir ist wohl viel Ersatz, letzten Endes. Die Historie ein Ersatz dafür, dass mir für frei erfundene Erzählungen nichts einfällt, usw." (272).


Anmerkungen:

[1] Zit. nach Urs Bitterli: Golo Mann. Instanz und Außenseiter. Eine Biographie, Berlin 2004, 168.

[2] Golo Mann: Hannah Arendt und der Eichmann-Prozeß, in: Neue Rundschau, Jg. 1963, 630.

[3] Ebd., 626, 627, 633.

[4] Bitterli, 299 (s. Anm. 1).

[5] Ebd., 554.

[6] Ebd., 101.

[7] So Bitterli treffend, ebd. 283.

Klaus-Dietmar Henke