Rezension über:

Roland Kanz / Hans Körner (Hgg.): Pygmalions Aufklärung. Europäische Skulptur im 18. Jahrhundert, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2006, 311 S., ISBN 978-3-422-06604-5, EUR 39,90
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Rezension von:
Peter Volk
München
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Peter Volk: Rezension von: Roland Kanz / Hans Körner (Hgg.): Pygmalions Aufklärung. Europäische Skulptur im 18. Jahrhundert, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 4 [15.04.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/04/11267.html


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Roland Kanz / Hans Körner (Hgg.): Pygmalions Aufklärung

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Der handliche, von Roland Kanz und Hans Körner herausgegebene Band enthält fünfzehn Beiträge von unterschiedlicher Qualität zu einer kunsthistorischen Tagung "Europäische Skulptur im 18. Jahrhundert", die im Februar 2004 im Düsseldorfer Goethe-Museum in Schloss Jägerhof stattgefunden hat. Offensichtlich strebte man kein Gesamtbild der Epoche an, sondern begnügte sich mit den von den eingeladenen Referenten gewählten Themen und deren unterschiedlichen Betrachtungsweisen.

Das dargebotene Spektrum entspricht weitgehend der aktuellen Interessenlage. Im Vordergrund stehen die französische und die italienische Skulptur. Der Übergang zu einer neuen Epoche in der zweiten Jahrhunderthälfte findet mehr Interesse als die Weiterentwicklung der barocken Tradition. Bei den meisten Autoren spielt die Kunsttheorie eine wichtige Rolle. Demgegenüber treten die Überlieferung und das Handwerkliche, die sich über die Theorie kaum erschließen lassen, etwa die Holzskulptur im katholischen Süden Mitteleuropas und auf der iberischen Halbinsel, zurück. Ausgeklammert bleibt die niederländische Plastik, und auch England kommt nur am Rande vor.

Am Beginn des ersten Beitrags von Michaela Kalusok und Jürgen Wiener steht eine Kritik an der gängigen Periodisierung nach Jahrhunderten und Stilen (10f.). Speziell geht es hier um die Grenzziehung zwischen "Hochbarock" und "Spätbarock" in Rom. Ein derartiger Stilbegriff ist allerdings nicht einmal mehr als Verständigungsbehelf tauglich, wenn man wie Mojmir Horyná (93-112) für Böhmen einen erst nach Berninis Tod einsetzenden eigenen "Hochbarock" postuliert, der um 1730 endet. Für diesen sei das Streben nach einheitlicher dramatischer Darstellung in einer Art "Gesamtkunstwerk" das maßgebliche Kriterium, was er mit eindrucksvollen Beispielen belegen kann. Aber abgesehen von der Verwirrung, die man anrichtet, wenn man Bernini und Matthias Bernhard Braun in einen Topf wirft, kann der hier vorgestellte Stil keine allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen, weil Horyná abweichende Phänomene einfach ausgeblendet hat.

"Manierismusrezeption" ist ein vager, aber gerne auf die Skulptur des 18. Jahrhunderts angewendeter Begriff, bei dem schon die Stilbezeichnung "Manierismus" fragwürdig erscheint. Es hat "artifizielle Gestaltungsmuster des 16. Jahrhunderts" gegeben, wie sich Ingeborg Schemper-Sparholz (123f.) vorsichtig ausdrückt, und für die sie im Fall von Mattielli konkrete und überzeugende Beispiele anführt. Im Gegensatz dazu beschwört Roland Kanz (249) pauschal das "Manieristische". Er bezieht sich dabei auf eine Studienzeichnung Ignaz Günthers nach dem so gar nicht "manieristischen" und auch nicht eleganten Kaisergrabmal aus dem frühen 17. Jahrhundert in der Münchner Frauenkirche. Günther, so meint Kanz, habe bei diesem von ihm gezeichneten Werk die ästhetische Qualität hervorgehoben, indem er es "künstlich", d.h. kunstvoll, genannt habe. In der Beschriftung seiner Zeichnung hat der Künstler aber eine derartige Qualität gar nicht angesprochen und lediglich die handwerkliche Ausführung als "künstlich" gelobt. Aus dieser angeblich ästhetischen Würdigung wird eine weit reichende Folgerung gezogen: "Aus dieser Eleganz des manieristischen Figurenideals erklärt sich eine Bewusstseinshaltung der Bildhauer des Rokoko..." Ob der Zeitgeschmack der eleganten und betont schlanken Figuren mit kleinen Köpfen und langen Hälsen wirklich primär als bewusster Rückgriff auf das 16. Jahrhundert zu verstehen ist, erscheint äußerst fraglich.

Bei einigen Referenten steht das einzelne Kunstwerk im Mittelpunkt. So gelingt es Michaela Kalusok und Jürgen Wiener (10-38) zwei aufeinander bezogene und bisher kaum beachtete Marmorgruppen in Kassel, "Apoll und Marsyas" sowie "Wahrheit und Falschheit", als Werke von Domenico Guidi aus der Zeit um 1700 zu bestimmen. Frank Martin (39-61) stellt Camillo Rusconi als den richtungsweisenden Neuerer der Nach-Bernini-Zeit heraus und kann sich bei seinen Deutungen auf Zeugnisse von Zeitgenossen berufen. Rusconi ließ seine Figuren durch Interaktion miteinander in Verbindung treten und verstand es, eine einzelne bewegte Statue so überzeugend zu gestalten, dass sich Papst Clemens XI. 1718 angesichts des monumentalen Pilgerapostels Jakobus Major in der Lateransbasilika zu dem berühmten Ausspruch veranlasst sah "Questa Statua cammina". Draperien wurden nun nicht mehr primär als Ausdrucksmittel eingesetzt wie von Bernini, Rusconi brachte vielmehr das Gewand konsequent mit dem Körper und seiner Bewegung in Einklang und bezog in seine Gestaltung vielfach antike Vorbilder mit ein. Elisabeth Kieven (62-74) präsentiert vier Entwürfe Pietro Braccis von 1766 für ein nicht realisiertes Grabmal König Jakobs III. von England, des nicht zur Regierung gelangten "Old Pretender", in St. Peter in Rom und stellt dieses Projekt in den Zusammenhang der wenigen weltlichen Monumente in der Kirche. Ulrike Müller-Hofstede (146-164) zufolge schuf Falconet mit seinem "Milon von Kroton" ein Gegenbild zu Pugets berühmter Gruppe mit gleicher Darstellung. Mit dem forcierten Furor, der sich im hemmungslosen Schreien des vom Löwen angefallenen Athleten mit den Gesichtszügen des Künstlers äußert und der von Diderot als unmäßig und fratzenhaft kritisiert worden ist, vollziehe sich ein "deutlicher Bruch im Decorum einer tragischen Heldenfigur" (158). Maraike Bückling (165-183) interpretiert Houdons als "La Frileuse" bekannte Allegorie des Winters, deren Vorder- und Rückansicht den Deckel des Buchs schmückt und die zu ihrer Zeit als "genre de nudité" nicht unumstritten war. Neu an ihrer Deutung ist, dass sie das tief in die Stirn Ziehen des Schals der sonst wenig verhüllten Gestalt assoziativ mit der Verhüllung von Pleurants an spätmittelalterlichen Grabmälern in Verbindung bringt und als Trauergeste versteht. Diese Auffassung, die sich meines Erachtens nicht mit dem Charakter der Figur und ihrer Rezeption durch die Zeitgenossen vereinbaren lässt, führt sie zu dem Schluss, dass bei der "Frileuse" Tod, Scham und Eros eine neue Einheit eingegangen seien (183). Bei Johannes Myssoks Auseinandersetzung mit Canovas "Psyche" von 1794 in Bremen (289-310) steht der Sinngehalt im Mittelpunkt. Die künstlerische Reform jener Jahre sei eng mit einer hoch gestimmten intellektuellen Reform verbunden gewesen, zu der Canova mit seinen Werken wesentlich beigetragen habe. "Für kurze Zeit wird Skulptur durch Canovas Auftreten in bis dahin unvorstellbarer Weise zu demjenigen Medium, in dem philosophische Probleme eine künstlerische Gestalt fanden" (310).

Andere Referenten bevorzugten allgemeinere Fragestellungen. So greift Ingeborg Schemper-Sparholz (113-131), deren Monografie über Lorenzo Mattielli, der zwischen 1711 und 1737 der Wiener Plastik entscheidende Impulse gegeben hat, bald erscheinen wird, ein in Mattiellis Werk auffälliges, aber auch bei anderen Künstlern zu beobachtendes Phänomen heraus, die gleichzeitige Verwendung unterschiedlicher Ausdrucksmittel, "Stile" und "Modi", und versucht die Gründe für dieses Vorgehen zu finden. Guilhem Scherf (207-222) stellt mit den Skizzen des Antwerpener Architekten Joseph Camberlain nach Skulpturen, die er in Paris sah, ein umfangreiches Kompendium von zum Teil inzwischen zerstörten Werken vor. Es dokumentiert einen wichtigen Teil des Skulpturenbestands in der Zeit der Revolution und gibt einen Begriff vom damals herrschenden Geschmack. Regina Deckers (75-92) präsentiert plastische Stillleben von Bernini bis Canova. Weitere Beiträge befassen sich mit der Bedeutung des Tanzes für die Skulptur (Andrea-Martina Reichel, 223-238), der Körpergebärde im Verhältnis zur Statuarik (Roland Kanz, 239-267) und der zeitgenössischen Sicht auf die Rolle der Zeit bei Skulpturen im späteren 18. Jahrhundert (Guido Reuter, 268-288).

Hans Körner (184-206) widmet sich eindringlich der Behandlung der Marmoroberfläche, die in Relation zu einem gesellschaftlichen Habitus stehe. So lasse sich das "poliment", die vollendete Glättung durch Polieren, auf den sozialen Leitbegriff der "politesse" beziehen, was von dem 1765 erschienenen Artikel "politesse" der Enzyclopédie bezeugt werde. Andererseits korrespondiere die "Rustikalität" der ungeglätteten Skulptur mit Vorstellungen Rousseaus. Als Beispiele zieht Körner Bouchardons "Amor" von 1750 mit seiner vom Künstler selbst polierten Oberfläche heran und zum Kontrast dazu Pigalles 1770-1776 entstandene Sitzfigur des greisen Voltaire mit ihrer rau belassenen Epidermis. Auf einen anderen Aspekt der perfekten Oberflächengestaltung weist Malcolm Baker bei seinen Ausführungen über die Bewertung und Vermarktung der multiplen Bildnisbüsten Roubiliacs und Houdons hin. "The finish'd beauties of the sculptor's hand" (141, auch Anm. 12) hätten Roubiliac höheres Ansehen als Künstler in der Öffentlichkeit verschafft.

Der Band ist höchst willkommen im Hinblick auf eine bessere öffentliche Wahrnehmung der im Allgemeinen eher stiefmütterlich behandelten Skulptur, die, wie mehrere Referenten deutlich gemacht haben, gegen Ende des 18. Jahrhunderts sogar zentrale Bedeutung für die Kunstentwicklung gewonnen hat. Er vermittelt freilich keine Basisinformationen für Studienanfänger, und für Laien sind die einzelnen, sehr speziellen Aufsätze schon wegen des komplizierten Fachjargons einiger Autoren eine schwer verdauliche Kost. Die vielstimmigen und facettenreichen Referate sind jedoch geeignet, mit ihren Denkanstößen und vielen wertvollen Anregungen die wissenschaftliche Diskussion zu beleben.

Peter Volk