Rezension über:

Andreas Brämer: Leistung und Gegenleistung. Zur Geschichte jüdischer Religions- und Elementarlehrer in Preußen 1823/24 bis 1872 (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; Bd. XXX), Göttingen: Wallstein 2006, 550 S., ISBN 978-3-8353-0031-6, EUR 42,00
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Rezension von:
Michaela Bachem-Rehm
Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Michaela Bachem-Rehm: Rezension von: Andreas Brämer: Leistung und Gegenleistung. Zur Geschichte jüdischer Religions- und Elementarlehrer in Preußen 1823/24 bis 1872, Göttingen: Wallstein 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 4 [15.04.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/04/10776.html


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Andreas Brämer: Leistung und Gegenleistung

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In den vergangenen Jahren hat sich die neuzeitliche deutsch-jüdische Historiografie als sehr produktives Forschungsfeld erwiesen. Das gilt auch für den Themenkomplex "Bildung, Erziehung und Unterrichtswesen", der als Teilbereich deutsch-jüdischer Vergangenheit wiederholt Gegenstand von Untersuchungen geworden ist. Trotzdem darf nicht übersehen werden, dass es nach wie vor eine Reihe von Desiderata gibt. So hat die historische Forschung jüdische Unterrichtsbeamte sowohl individuell als auch kollektiv noch nicht hinreichend gewürdigt. Dieser Aufgabe nimmt sich Andreas Brämer, seit 2005 stellvertretender Direktor des Hamburger Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, in seiner 2004 am Historischen Institut der Universität Hamburg eingereichten Habilitationsschrift an.

In seiner Studie erzählt Brämer auf einer breiten empirischen Grundlage die Geschichte der preußisch-jüdischen Lehrerschaft im Zeitalter der Emanzipation. Gegenstand der Untersuchung sind die männlichen jüdischen Lehrkräfte als Inhaber einer Berufsposition im Institutionengefüge des niederen Schulwesens Preußens. Berücksichtigung finden dabei sowohl die jüdischen Lehrkräfte in privaten und öffentlichen Volksschulen als auch Hauslehrer jüdischer Konfession, besonders in solchen Fällen, in denen die häusliche Lehrtätigkeit nicht nur als "unterhaltssicherndes Interim und notgedrungene 'Mobilitätsschleuse' [...], sondern als wesentliche Erfüllung" (30) der beruflichen Aspirationen begriffen wurde. Die Studie zielt darauf ab, die Geschichte der jüdischen "Elementar- und Religionslehrer zu beschreiben und in ihren rechtlichen, sozialen und religiös-kulturellen Zusammenhängen zu interpretieren" (30 f.). Nach Ansicht des Verfassers lassen sich auf diese Weise nicht nur allgemeine Erkenntnisse über den Berufsstand der jüdischen Lehrkräfte und ihre Einbindung in die Gemeindestruktur gewinnen, sondern auch Antworten auf die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Teilhabe jüdischer Deutscher am Leben der christlichen Umwelt finden. Brämer geht dabei von der Voraussetzung aus, dass den Lehrern eine zentrale Rolle bei dem "Projekt der modernisierenden Transformation und Verbürgerlichung der deutschen Juden" (31) zukomme, sodass ihre Geschichte auch als "Indikator für den Erfolg der kulturellen Integrationsleistungen" (31) herangezogen werden könne.

Nachvollziehbar ist der Rückgriff auf zwei Eckdaten der preußischen Bildungsgeschichte als zeitliche Eingrenzung der Darstellung. Während die Ministerialerlasse der Jahre 1823/24 die Bemühungen der preußischen Behörden erkennen lassen, die bereits bestehende allgemeine Schulpflicht auch bei jüdischen Kindern durchzusetzen und das jüdische Lehrpersonal mit normativen Zugangserschwerungen zu konfrontieren, zielten die "Allgemeinen Bestimmungen, betreffend das Volksschul-, Präparanden- und Seminar-Wesen" vom Oktober 1872 auf eine Hebung des Lernniveaus, eine partielle Entkonfessionalisierung der Volksschule sowie eine Verbesserung der Lehrerausbildung ab. Geografisch steckt die Studie einen Rahmen ab, der die gesamten Provinzen der Hohenzollernmonarchie unter Berücksichtigung der sich verschiebenden Territorialgrenzen einschließt, und damit ein Gebiet umfasst, in dem rund zwei Drittel aller deutschen Juden lebten. Brämer hat für seine Arbeit eine Fülle von gedruckten und ungedruckten Dokumenten ausgewertet - neben Statistiken, Gesetzestexten, zeitgenössischen jüdischen Periodika und standespolitischen Publikationen jüdischer Lehrer vor allem Faszikel zum jüdischen Schul- und Unterrichtswesen in den verschiedenen preußischen Provinzen und Regierungsbezirken. Diese Verwaltungsakten spiegeln insbesondere die Geschichte der jüdischen Lehrer in ihrem politischen und rechtlichen Bezugsrahmen während des 19. Jahrhunderts wider, sie "gewähren jedoch auch Einblicke in eine sich wandelnde Erziehungswirklichkeit vor Ort" (28).

Die Darstellung besteht aus einer angemessenen Einleitung, fünf Hauptkapiteln und abschließenden "Schlussbemerkungen". Das erste Kapitel, das als Prolog den eigentlichen Hauptabschnitten voransteht, gibt einen Überblick über die soziale und ökonomische Situation der jüdischen Lehrerschaft am Ende des 18. Jahrhunderts und bestimmt das ungefähre Maß des Strukturwandels in der Lehrerarbeitswelt, der sich in der Folge der jüdischen Aufklärung bis in die frühen Zwanzigerjahre des 19. Jahrhunderts vollzog. Im zweiten Kapitel wird die Entwicklung der gesetzlichen Rahmenbedingungen jüdischer Schulen und ihrer Lehrkräfte vor allem im Kontext preußischer Reformbestrebungen in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts bis zur Gründung des Kaiserreichs 1871 nachgezeichnet. Auf die Grenzen der rechtlichen Integration verweist dann das dritte Kapitel, das sich mit den Bemühungen um eine verbesserte Ausbildung jüdischer Lehrpersonen auseinandersetzt. Dabei wird offensichtlich, dass verschiedene Wege zum Qualifikationserwerb existierten: Neben den Formen des Selbststudiums und dem Aufenthalt an öffentlichen christlichen Lehrerseminaren kam vor allem das Studium an den privaten jüdischen Lehrerbildungsanstalten infrage. Diese jüdischen Seminare sahen sich vielfacher Kritik ausgesetzt, doch kann der Verfasser überzeugend aufzeigen, dass sie die konfessionelle Lehrerbildung in "beachtlichen Ausmaßen verfachlicht und auf methodische Prinzipien verpflichtet" (242) haben. Im vierten Kapitel werden die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse jüdischer Lehrkräfte im Untersuchungszeitraum analysiert. Der Leser erhält Einblicke in die Beschäftigungsverhältnisse, die materiellen Entschädigungen und die Arbeitsverrichtungen der Berufsinhaber und wird mit deren Selbstbildern sowie den Fremdwahrnehmungen konfrontiert. Deutlich wird dabei, dass sich die jüdischen Lehrkräfte nicht grundsätzlich von äußeren Zwängen und Bevormundungen seitens der Gemeinden befreien konnten, sodass ihnen jene Unabhängigkeit verwehrt blieb, auf die sie aufgrund ihres pädagogischen Fachwissens Anspruch erhoben: "Die allgemeine Befreiung der Berufsausübung von subjektiven Abhängigkeiten und Einflüssen blieb eines der wichtigsten kollektiven Berufsziele der preußischen jüdischen Lehrerschaft, dem sich diese auch auf dem Weg der Selbstorganisation zu nähern hoffte" (364). Die Versuche einer solchen beruflichen Selbstorganisation stehen im Blickpunkt des fünften Kapitels. Dabei zielt die Darstellung, in deren Mittelpunkt Konferenzen und Vereine, aber auch die jüdische Lehrerpresse sowie Unterstützungskassen als Einrichtungen materieller Selbsthilfe stehen, nicht nur auf eine Einschätzung des Mobilisierungsgrades ab, sondern sucht zugleich nach Möglichkeiten, die Ausbildung eines Kollektivbewusstseins zu deuten. Die "Schlussbemerkungen" sind insofern etwas enttäuschend, als sie hauptsächlich dazu dienen, die vorangegangenen Entwicklungen seit 1823/24 "noch einmal Revue passieren zu lassen" (425).

Insgesamt handelt es sich bei Brämers Studie um eine gelungene und gut lesbare Darstellung, die ihr selbst gestecktes Ziel, die Geschichte der preußisch-jüdischen Lehrerschaft im 19. Jahrhundert nachzuzeichnen, souverän erreicht. Die Arbeit wirft einen dezidiert sektoralen Blick auf die jüdische Geschichte, vermag es aber auf angemessene Art und Weise, sie zugleich als Teil der deutschen Geschichte zu verorten.

Michaela Bachem-Rehm