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Stephan Conermann: Islamische Welten. Einführung, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 3 [15.03.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/03/forum/islamische-welten-38/

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Islamische Welten

Einführung

Von Stephan Conermann

Auch in diesem, mittlerweile dritten Forum zu den islamwissenschaftlichen Welten wird dem Leser eine Reihe von interessanten Werken aus dem weiten Bereich der islamwissenschaftlichen Fachliteratur präsentiert. Und auch dieses Mal kommen wichtige Themen zur Sprache, die zentrale inhaltliche und methodische Fragestellungen unseres Faches berühren.

Ein Grundproblem der deutschen Gesellschaft ist seit geraumer Zeit die Frage, wie die türkische oder besser gesagt die türkisch-deutsche Bevölkerungsgruppe integriert werden kann. Die Vorschläge, die hierzu gemacht werden, sind zwar zahlreich (wenngleich nicht immer hilfreich), jedoch stammen sie in der Regel nicht von den Betroffenen selbst. Dabei ist es sinnvoll, auch diejenigen, um die es schließlich geht, zu Wort kommen zu lassen. Um überhaupt einmal Informationen über diese Mitbürger zu bekommen, wären fundierte empirische Studien wichtig, von denen es allerdings nicht allzu viele gibt. Befragt werden sollten auch nicht nur Problemfälle, sondern die unauffälligen, sozial erfolgreichen Männer, Frauen und Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund. Frappierenderweise empfinden diese sich trotz ihrer Erfolge nicht der deutschen Gesellschaft zugehörig. Ihr (und damit auch unser) Dilemma besteht darin, dass sie sich selbst als Deutsche sehen, aber das Gefühl haben, von der Majorität ihrer Landleute nicht angenommen zu werden (Agai zu Wurm).

Heftig diskutiert wird gemeinhin die Stellung der Frau im Islam. Dabei ist man mittlerweile zu der Auffassung gelangt, dass die Wurzeln eines hierarchisierten Geschlechterdenkens in erster Linie nicht einer Religion inhärent, sondern eher einer patriarchalischen Gesellschaftsstruktur geschuldet sind. Dies sehen islamische Feministen, die es in großer Zahl gibt und die sich in zunehmendem Maße Gehör verschaffen, natürlich nicht anders. Aus ihrer Perspektive haben Männer die Religion, insbesondere die Exegese, dazu benutzt, Strukturen zu produzieren und zu institutionalisieren, die auf eine Herabsetzung der Frau abzielen. Das Ziel dieser engagierten muslimischen Frauenrechtlerinnen ist ein geschlechteregalitäres Modell, das in letzter Konsequenz auf den Koran zurückverweist (Eich zu Anwar).

Bekanntlich sind wir alle Zwerge auf den Schultern von Giganten. Dies gilt in besonderem Maße für die europäische Gelehrsamkeit der des Hoch- und Spätmittelalters sowie der Frühen Neuzeit, die weitgehend auf die wissenschaftlichen Leistungen des islamischen Raumes zurückgeht, in welchem wiederum die antiken Autoren rezipiert und weiterentwickelt wurden. Eine wichtige Rolle kam dabei auch Juden zu, die sich normalerweise des Arabischen, der gängigen Wissenschaftssprache, bedienten. Es kann daher nicht verwundern, wenn die Werke eines Moses Maimonides (1138-1204) von Friedrich II., Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Meister Eckhart und Nikolaus von Kues intensiv rezipiert und diskutiert wurden (Veit zu Hasselhoff bzw. zu Hasselhoff/Fraisse).

Viel geredet worden ist über die Frage nach dem muslimischen Individuum im Mittelalter. Das verwundert, verfügen wir doch über eine großartige Autobiographie aus der Feder eines bedeutenden Herrschers, die uns an dessen Gedanken- und Gefühlswelt Anteil nehmen lässt. Gemeint sind Baburs (gest. 1530) in chaghatay-türkischer Sprache abgefassten "Ereignisse (aus meinem Leben)", zweifelsohne eines der bedeutendsten Werke der Weltliteratur. Der aus Zentralasien stammende Gründer des indischen Mogulreiches hat keine Verteidigungsschrift vorgelegt, in der er sein Leben zu rechtfertigen sucht, sondern er berichtet in sachlichem, bisweilen auch poetischem Ton über ihm wichtig erscheinende Vorkommnisse (Kauz zu Dale).

Überhaupt rückt die Beschäftigung mit den "Vorstellungswelten" einzelner Autoren mehr und mehr in den Vordergrund des islamwissenschaftlichen mediävistischen Interesses. Eine reizvolle Gruppe bilden mittelalterliche Historiker wie etwa Abu Shama (gest. 1268) und Ibn Wasil (gest. 1298). Es geht nicht mehr um die Frage, ob wahr ist, was sie in ihren Chroniken schreiben. Vielmehr stehen die Autoren in ihren sozialen Netzwerken und die narrativen Spielräume und Strategien der Texte sowie der sinnstiftende Umgang mit der Vergangenheit im Vordergrund unseres Interesses (Franz zu Hirschler).

Wie problematisch und kontextgebunden auch die sogenannte 'moderne' Geschichtsschreibung ist, zeigt sich immer wieder, wenn man sich nationale Historiographien näher anschaut. Gerade das Erbe des Osmanischen Reiches entpuppt sich bisweilen als historiographische Falle. Der Legitimationsdruck steht einer zumindest vordergründig objektiven und sachlich gehaltenen Behandlung der eigenen Vergangenheit durch türkeitürkische, bosnische, ungarische oder bulgarische Geschichtswissenschaftler im Wege (Conermann zu Adanır/Faroqhi).

Eine Besonderheit der muslimischen Welt waren bis weit in das 20. Jahrhundert hinein die mystischen Bruderschaften. Ihre gesellschaftliche Bedeutung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Angesichts dieser Tatsache erstaunt es doch sehr, dass sich ihre Erforschung bisher im Wesentlichen auf einzelne Mystiker und deren Werke konzentriert hat. Über die Entstehung und frühe Entwicklung der sufischen Gruppen wissen wir bisher ebenso wenig wie über ihre soziale und gesellschaftspolitische Rolle. Mystische Dichtung ist zwar erbaulich, sagt aber weder etwas über das wirkliche Leben in den Orden aus, noch trägt sie dazu bei, das durchaus ordenstypische wirtschaftliche und politische Machtgebaren zu verstehen (Hees zu McGregor).

Eine bisher völlig unterschätzte Quellengattung zur modernen Sozialgeschichte islamisch geprägter Staaten sind Fachzeitschriften. Selbst in einem nach außen hin so hermetisch wirkenden Land wie Iran sind seit 1980 wenigstens 22 Journale erschienen, die sich ausführlich mit den Verhältnissen in einer Region befassen. Mithilfe dieses ergiebigen Materials kann man sehr viel über Abwanderung, Arbeitslosigkeit, Familienfragen, Nomadentum, Wirtschaftsgeographie, Agrarwirtschaft, Viehzucht, Wasserwirtschaft oder Umweltschutz erfahren. Dabei muss natürlich kritisch geprüft werden, ob die Informationen aus Regierungskreisen stammen oder vor Ort recherchiert worden sind (Kauz zu Krüger).

Aber auch architektonische Zeugnisse verraten viel über die gesellschaftlichen Verhältnisse, wenn man sie in einen historischen Kontext stellt (Reinfandt zu Ritter). Ähnliches gilt selbstverständlich für Urkunden. Leider besitzen wir für die Zeit bis zum 16. Jahrhundert nur wenige Dokumente. Aus diesem Grund ist jeder umfangreichere Fund eine kleine Sensation. So war es auch, als im Jahre 1970 in Ardabil ca. 800 Einzelstücke entdeckt wurden. Nach und nach haben Iranisten die paläographisch sehr schwierigen Texte aufgearbeitet. Auch wenn sie uns kein Gesamtbild historischer Entwicklungen bieten, verraten sie uns doch eine ganz Menge über die damalige Diplomatik, Terminologie und rechtlichen Verhältnisse (Kauz zu Herrmann).

Ein sehr schwieriges und angesichts der spärlichen Quellenlage heftig debattiertes Thema stellt der Verlauf der Islamisierung in den von den Muslimen eroberten Gebieten dar. Auch auf dem Balkan ist dieser Prozess nur schemenhaft darstellbar, auch wenn wir hier wenigstens über Hunderte von Petitionen aus der Zeit des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts verfügen, die Konvertiten oder solche, die noch zum Islam übertreten wollten, an den jeweiligen osmanischen Sultan richteten. Für ihren Konfessionswechsel erhielten sie in der Regel eine Geldsumme ausgezahlt, die unter dem Namen kisve-bahası in die Finanzbücher eingetragen wurde (Conermann zu Minkov).

Ich wünsche allen viel Spaß beim Lesen der Besprechungen und möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei den Herren Kulke, Becker und Kaiser für die konstruktive und reibungslose Zusammenarbeit bedanken!

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