Rezension über:

Wilhelm Grabe / Markus Moors (Hgg.): Neue Herren - neue Zeiten ? Quellen zur Übergangszeit 1802 bis 1816 im Paderborner und Corveyer Land (= Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte; Bd. 52), Paderborn: Bonifatius 2006, 584 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-89710-317-7, EUR 45,00
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Rezension von:
Barbara Stambolis
Historisches Institut, Universität Paderborn
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Barbara Stambolis: Rezension von: Wilhelm Grabe / Markus Moors (Hgg.): Neue Herren - neue Zeiten ? Quellen zur Übergangszeit 1802 bis 1816 im Paderborner und Corveyer Land, Paderborn: Bonifatius 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 2 [15.02.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/02/7799.html


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Wilhelm Grabe / Markus Moors (Hgg.): Neue Herren - neue Zeiten ?

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Der im Jahre 2001 gegründete Arbeitskreis der Kommunalarchive im "Hochstift Paderborn" hat sich mit diesem regionalgeschichtlichen Quellenband die sinnvolle Aufgabe gestellt, kleine Archive "vor Ort" mit ihrem reichen Quellenbestand zu lokal- und regionalgeschichtlichen Arbeitsfeldern bekannter zu machen. Die Mitglieder des Arbeitskreises legen für die "Übergangszeit" der Jahre 1802 bis 1816, zwischen dem Ende des Alten Reiches, der Napoleonischen Herrschaft in Westfalen und der Neuordnung unter preußischer Herrschaft, umfangreiche Quellen vor. Anregungen sind zweifellos aus der mit großem Aufwand begangene Erinnerung an die Säkularisation von 1802/03 ausgegangen. [1]

Es handelt sich bei dem vorliegenden Band um eine sorgfältig edierte, facettenreiche Materialsammlung zur Lokal- und Regionalgeschichte. Die Gliederung in vier Kapitel folgt der Chronologie der Ereignisse. Die Lesbarkeit des historisch hochinteressanten Materials wird durch kommentierende Einführungen zu einzelnen Abschnitten und durch einen grundlegenden Überblick über die Zeit des Umbruchs um 1800 in den "Fürstbistümern Paderborn und Corvey am Vorabend der Säkularisation" ergänzt.

Die Herausgeber beginnen mit dem Hinweis auf Thomas Nipperdeys bekannten Satz seiner Deutschen Geschichte 1800-1866: "Im Anfang war Napoleon" und setzen damit absichtsvoll einen besonderen Akzent. Nipperdey wollte mit seiner programmatischen Formulierung deutlich machen, dass der Blick auch auf reale Umbruchserfahrungen und -wahrnehmungen zu richten sei. Die Bevölkerung hatte auf die eine oder andere Weise Anteil an jenem Aufbruch in die Moderne, der mit weitreichenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen einherging und zu grundlegenden Veränderungen der geografischen, der Verwaltungs- und Herrschaftsverhältnisse führte.

Die in dem Band vorgelegten Quellen geben den Blick auf die bürokratische Tätigkeit lokaler und regionaler Akteure in diesem Umbruchprozess frei. Sie vermitteln anschaulich ein Bild der "Zugriffe" auf traditionelle Strukturen in Territorien des Alten Reiches, die lange unter dem "Krummstab" gelebt und sich unter ihm "eingerichtet" hatten. Sie veranschaulichen Umgestaltungsansätze, Kontrollmechanismen, Eingriffsversuche und somit Herrschaftsansprüche sowie die Versuche ihrer Umsetzung. Sie richten den Blick auf Bevölkerungsgruppen, insbesondere die jüdische, für die der Umbruch Liberalisierung und Befreiung bedeutete. Und sie werfen ein Licht auf "Gefühligkeiten", Ängste, Hoffnungen und Wahrnehmungen des Anbruchs einer neuen Zeit.

Was ging zu Ende und was begann? So könnte die leitmotivische Frage heißen, unter der sich die vielfältigen Quellen betrachten lassen. Zurecht heißt es in dem Band, das Fürstbistum Paderborn sei nicht einfach "von der Bildfläche" verschwunden (13). Es fallen Stichworte wie "zeitgenössische Ansichten", es wird auf "symbolische Politik" im Zusammenhang mit der preußischen Inbesitznahme der westfälischen Territorien Bezug genommen. Dies lässt darauf schließen, dass die Herausgeber die neuere Forschung gründlich zur Kenntnis genommen haben. Herausgeber und Beiträger sind sich der Probleme bewusst, die mit der quellenmäßigen Erschließung gesellschaftlicher, politischer und nicht zuletzt mentaler Umbruchprozesse in der neueren Geschichte nach verschiedenen historiografischen Paradigmenwechseln und veränderten Fragestellungen verbunden sind.

Die Herausgeber hätten in diesem Zusammenhang auch die Antwort Heinrich August Winklers auf Nipperdeys programmatischen Satz zitieren können, der lautet: "Im Anfang war das Reich". [2] Sie hätten den Blick des Lesers damit auf die Frage nach Kontinuitäten und Spannungsverhältnissen zwischen Wandel und Beharrung lenken können, die für die Umbruchzeit um 1800 typisch ist. Sie hätten damit auch auf andere neue Sekundärliteratur hinweisen können, in denen Forschungsperspektiven sichtbar werden. [3]

Gerade der Anspruch, die Quellen nicht nur als Überreste von politischer und Verwaltungsgeschichte, sondern auch der Mentalitätengeschichte zu sehen, mag als besonderer Verdienst der vorgelegten Sammlung angesehen werden. Beispielsweise ein Taufeintrag über die erste protestantische Taufe im mehrheitlich katholischen Paderborn (123 f.), Zeitungsberichte zu verschiedenen Themen wie Schule, Bildung, Armenwesen, lokales Brauchtum, der Brief eines Soldaten an seine Eltern, der eindrucksvoll Zeugnis der "kriegerischen Zeiten" ablegt (439 f.), der Aufruf eines Vaters an seinen militärpflichtigen Sohn, das Konzept eines Schreibens im Zusammenhang mit Feierlichkeiten zum Gedenken an die Völkerschlacht von Leipzig (544) u.v.m. machen das Buch zu einem buchstäblichen Fundus für Geschichtsinteressierte, Studenten und Forscher der westfälischen Regionalgeschichte.

Die Entscheidung des Arbeitskreises für Quellen eines eng gefassten Zeitraums mag ein pragmatischer gewesen sein. Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine zeitliche Erweiterung, rückgreifend ins 18. und ausgreifend ins 19. Jahrhundert, nicht ebenfalls hätte sinnvoll sein können. Der insgesamt "stark in Traditio und Glauben verhaftete[n] hochstiftische[n] Welt" stand bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert eine Auseinandersetzung mit der Kritik an der geistlichen Landesherrschaft zur Seite. In heftigen Diskussionen und Polemiken ist einerseits ein Bedürfnis nach Veränderungen erkennbar, andererseits finden sich auch stets Plädoyers zugunsten der geistlichen Herrschaft und vielfältige Zeugnisse des Wunsches nach Beharrung in Überkommenem. Vielleicht wäre das ein Thema für einen ähnlichen Quellenband, der sich auf Bestände kirchlicher und / oder nicht öffentlicher Archive stützt. [4]

Wie lässt sich regionale Geschichte erfassen? Theodor Fontane schrieb einmal, "jeder Fuß breit Erde hat seine Geschichte und erzählt sie auch - man muss nur willig sein, auf die oft leisen Stimmen zu lauschen". [5] In diesem Sinne ist der vorgelegte Band dazu angetan deutlich zu machen, wie Geschichte "erlesen" werden kann.


Anmerkungen:

[1] Gisela Weiß (Hg.): Zerbrochen sind die Fesseln des Schlendrians - Westfalens Aufbruch in die Moderne, Münster 2002.

[2] Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, Bd. 1, München 2000, 5.

[3] Vgl. Bettina Braun / Frank Göttmann / Michael Ströhmer: geistliche Staaten im Nordwesten des Alten Reiches, Köln 2003; s. hierzu die Rezension von Kurt Andermann, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 1 [15.01.2006], URL: http://www.sehepunkte.de/2006/01/5542.html ; Thomas Küster: "Regionale Identität" als Forschungsproblem. Konzepte und Methoden im Kontext der modernen Regionalgeschichte, in: Westfälische Forschungen 52 (2002), 1-44; Barbara Stambolis: Zur "mentalen Geographie" einer konfessionell geprägten Geschichtslandschaft: das ehemalige Hochstift Paderborn, in: Westfälische Forschungen 53 (2003), 421-451.

[4] Vgl. Westfälische Forschungen 56 (2006), Schwerpunktthema 'Konfessionelle Kulturen'.

[5] Zit. nach: Gordon A. Craig: Über Fontane, München 1997, 70 f.

Barbara Stambolis