Rezension über:

Michael Diers: Fotografie Film Video. Beiträge zu einer kritischen Theorie des Bildes (= Fundus; 162), Hamburg: Philo & Philo Fine Arts 2006, 340 S., ISBN 978-3-86572-532-5, EUR 28,00
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Rezension von:
Carolin Artz
Institut für Kunst- und Designwissenschaften, Universität Duisburg-Essen
Redaktionelle Betreuung:
Lars Blunck
Empfohlene Zitierweise:
Carolin Artz: Rezension von: Michael Diers: Fotografie Film Video. Beiträge zu einer kritischen Theorie des Bildes, Hamburg: Philo & Philo Fine Arts 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 11 [15.11.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/11/8099.html


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Michael Diers: Fotografie Film Video

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Der Bildbegriff hat Konjunktur und mit ihm die Fragen nach einer Theorie, Wissenschaft oder Kritik des Bildes. Das zeigen, neben etlichen Publikationen zum Thema Bildwissenschaft, unter anderem die Vielzahl von Projekten, die sich auf interdisziplinärer Ebene mit dem (nichtkünstlerischen) Bild auseinander setzen, wie Klaus Sachs-Hombachs "Zentrum für interdisziplinäre Bildforschung", das an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften angesiedelte "Junge Forum für Bildwissenschaft" oder der von Gottfried Boehm initiierte Nationale Forschungsschwerpunkt "Bildkritik" an der Universität Basel.

Dass die Methoden und Erkenntnisse der Kunstgeschichte in modifizierter Form geeignet seien auch die wachsende Anzahl nichtkünstlerischer Bilder zu untersuchen, konstatierte vor fünfzehn Jahren W. J. T. Mitchell [1] und bereits Kunsthistoriker wie Erwin Panofsky oder Aby Warburg widmeten sich in ihren Studien nicht nur der Kunst, sondern auch nichtkünstlerischen Objekten und Bildern. So verwundert es nicht, dass Michael Diers, Professor für Kunstgeschichte an der Hochschule für bildende Künste Hamburg und außerplanmäßiger Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, der sich in seiner Promotion mit den Briefen Aby Warburgs beschäftigte, den Versuch unternimmt, eine kritische Theorie des Bildes zu entwickeln.

Der vorliegende Aufsatzband widmet sich in dreizehn Beiträgen, die zumeist auf zwischen 1998 und 2005 gehaltenen Vorträgen basieren, exemplarischen Einzelanalysen künstlerischer und nichtkünstlerischer Bilder verschiedenster Provenienz: dem "Verhältnis von zeitgenössischer Kunst und Pressefotografie", den "Annoncen und Avancen des Konsums in fotografischen Bildern" oder der "Bild- und Medienreflexion in Alfred Hitchcocks Das Fenster zum Hof", um nur einige der (Unter)Titel der im Buch zusammengetragenen Abhandlungen zu nennen.

Einleitend unternimmt der Aufsatz "Das Bild hängt schief. Kunstgeschichte als kritische Bildwissenschaft", den Versuch einen Bildbegriff zu formulieren, aus dem eine kritische Theorie des Bildes entwickelt werden kann. Diers verweist auf die interdisziplinäre und inflationäre Verwendung des Bildbegriffs und stellt fest: "Die Bezeichnung Bild ist zu einer transdisziplinären Kategorie par excellence aufgerückt, ein Universalbegriff, der mit jenem naiven Gebrauch, den die Kunstgeschichte vordem von diesem Ausdruck gemacht hat, indem sie ihn schlicht als Synonym für alles benutzte, was malerisch, grafisch oder auch plastisch gestaltet war, kaum noch etwas gemein hat" (12). Anstatt nun, wie beispielsweise die amerikanischen Kunsthistoriker James Elkins in "The Domain of Images" [2] oder W. J. T. Mitchell in "Was ist ein Bild?" [3] einen Bildbegriff zu definieren, auf dessen Grundlage im Folgenden argumentiert werden könnte, bleibt unbestimmt, was Diers mit Bild meint. Das verwundert umso mehr, da Diers bemängelt, dass "so viele Bildbegriffe und -verständnisse wie Disziplinen, die vom Bild handeln" (25) existieren und dass "für die Kunstgeschichte lange Zeit galt, dass man Bilder verstehen konnte, ohne von Bildern einen philosophischen, theologischen oder psychologischen Begriff zu besitzen" (27).

Was den nun folgenden Aufsätzen, in denen sich der Autor mit recht heterogenen Themen auseinander setzt, gemein ist, ist die Untersuchung ganz konkreter Gegenstände und Bildfälle. Dabei ist festzustellen, dass Diers vor allem in den Essays zu überzeugen weiß, in denen eine konkrete Frage anhand eines klar umrissenen Gegenstandes untersucht wird. Beispiele hierfür sind "Der entscheidende Augenblick. Bild- und Medienreflexion in Alfred Hitchcocks Das Fenster zum Hof", in dem der Autor "Fragen von Blick und Bild, Bild und Medium sowie Medium und Publikum" (141) beantworten will oder "Les représentants représentés. Reflexion von Bild und Politik in Andreas Gurskys Bundestag, Bonn", in dem Diers die Bundestag-Fotografie Andreas Gurskys nicht nur als Bild des Bundestages, sondern als Bild der Demokratie interpretiert. Auch diese Beiträge haben allerdings Schwächen. So thematisiert Diers in "Der entscheidende Augenblick", die im Film verwendete Hofkulisse und die sich aus ihr ergebende Beobachtungs- und Kontrollsituation und vergleicht sie mit Jeremy Benthams "Panopticon", ohne jedoch eine für die Surveillance-Thematik so wichtige Publikation wie Michel Foucaults "Überwachen und Strafen" [4] zu erwähnen. In "Les représentants représentés. Reflexion von Bild und Politik in Andreas Gurskys Bundestag, Bonn" wird ein Detail der ausführlich besprochenen Fotografie Gurskys spiegelverkehrt abgebildet (216, Abb. 3).

In anderen Beiträgen wie "War Cuts. Über das Verhältnis von zeitgenössischer Kunst und Pressefotografie" oder "Neunundneunzig Cent. Von Annoncen und Avancen des Konsums in fotografischen Bildern" versucht der Autor komplexe Themen auf zu kleinem Raum zu behandeln. Selten gelingt es hier, über eine Zusammenfassung bekannter Thesen hinauszukommen. Dazu mag beitragen, dass Diers häufig Quellen nicht nach dem Original zitiert und sie demnach dem Kontext einer bereits bestehenden Argumentation entnimmt. Dass Benvenuto Cellinis "Saliera" nicht, wie Diers in einer Fußnote zu "Neunundneunzig Cent" schreibt, einen Wert von 50 Millionen € (261), sondern einen grob geschätzten Versicherungswert von 50 Millionen Schilling, umgerechnet also rund 3,6 Millionen € hat, sei nur am Rande erwähnt. [5]

Allen Aufsätzen ist gemein, dass Diers die zu untersuchenden Bildgegenstände ausführlich und mit viel Liebe zum Detail beschreibt und ihre motivgeschichtlichen Vorbilder zu benennen weiß. Die Inhomogenität der Abhandlungen macht es dem Leser allerdings schwer, einen roten Faden zu entdecken oder gar eine "kritische Theorie des Bildes" aus ihnen abzuleiten. Wie Mitchell bereits vor fünfzehn Jahren bemerkte, muss die Kunstgeschichte ihre Methoden modifizieren, um als Bildwissenschaft zu funktionieren. Allein dadurch dass, wie im vorliegenden Band, neben Kunst (Gerhard Richter, Andreas Gursky, Candida Höfer und andere) auch nichtkünstlerische Bilder (Presse, Werbung, Kino) besprochen werden, kann sich keine "Kunstwissenschaft als Bildwissenschaft" entwickeln.


Anmerkungen:

[1] W. J. T. Mitchell: The Pictorial Turn, in: Artforum, Nr. 30, März 1992, 89-94 und derselbe: Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago: University of Chicago Press 1994; sowie derselbe: Der Pictorial Turn, in: Christian Kravagna (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin: Edition ID-Archiv 1997, 15-40.

[2] James Elkins: The Domain of Images, Ithaca und London: Cornell University Press 1999.

[3] W. J. T. Mitchell: Was ist ein Bild, in: Volker Bohn (Hg.): Bildlichkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, 17-68.

[4] Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 2. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976.

[5] "Stille Post. 'Saliera' keine 50 Millionen wert", in: Süddeutsche Zeitung vom 24.1.2006, 13.

Carolin Artz