Rezension über:

Norbert Franz: Durchstaatlichung und Ausweitung der Kommunalaufgaben im 19. Jahrhundert. Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume ausgewählter französischer und luxemburgischer Landgemeinden im mikrohistorischen Vergleich (1805-1890) (= Trierer Historische Forschungen; Bd. 60), Trier: Kliomedia 2006, 433 S., ISBN 978-3-89890-098-0, EUR 70,00
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Rezension von:
Benoît Majerus
Université du Luxembourg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Benoît Majerus: Rezension von: Norbert Franz: Durchstaatlichung und Ausweitung der Kommunalaufgaben im 19. Jahrhundert. Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume ausgewählter französischer und luxemburgischer Landgemeinden im mikrohistorischen Vergleich (1805-1890), Trier: Kliomedia 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 9 [15.09.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/09/10655.html


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Norbert Franz: Durchstaatlichung und Ausweitung der Kommunalaufgaben im 19. Jahrhundert

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Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine Habilitation, die im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 'Zwischen Maas und Rhein' an der Universität Trier entstanden ist. Während in der französischen Historiografie die Frage, wie der Staat ins Dorf kommt, schon seit den Arbeiten von Eugen Weber in den Siebzigerjahren im Zentrum des Interesses steht, ist dies im deutschsprachigen Raum bisher noch seltener der Fall. Diese Fragestellung leitete das Forschungsprojekt B12 'Staat im Dorf' des SFB. Neben der zu besprechenden Arbeit wurden noch zwei weitere Dissertationen veröffentlicht, die diese Studie ergänzen. [1]

Norbert Franz geht der Frage nach dem Staat im Dorf für zwei französische Gemeinden, Mognéviller und Renson im Departement der Meuse, und für zwei luxemburgische Gemeinden, Wormeldingen und Weiswampach, nach. Herrschen, helfen, Straßen und Brücken bauen, Schulen bauen so beschreibt Norbert Franz in plakativen Verben die Hauptaufgaben der Gemeinden im 19. Jahrhundert, das in diesem Buch auf die Zeit von 1805 bis 1890 beschränkt ist. Um hoheitliche Gemeindeaufgaben, Soziales, Verkehr und Kultur auf der dörflichen Ebene zu fassen, bedient sich Norbert Franz sowohl quantitativer wie qualitativer Quellen. Anhand der detaillierten Auswertung der Gemeindebudgets kann er die "Durchstaatlichung und Ausweitung der Kommunalaufgaben im 19. Jahrhundert" sehr klar dokumentieren. 1805 beliefen sich die Ausgaben der bäuerlichen Gemeinde Weiswampach auf 109 Franken, 1890 auf 10.282 Franken. Auch die Einnahmen dieser Gemeinden erfuhren in diesem Zeitraum eine ähnliche Steigerung (von 145 auf 17.645 Franken). Diese Entwicklungen zeugen von einem immer breiter gefassten Handlungsrahmen der Kommunen, der zusätzliche Einnahmen und Ausgaben zur Folge hatte. Keine andere Herangehensweise hätte die Hauptthese des Autors klarer belegen und die verschiedenen Phasen der Durchstaatlichung besser dokumentieren können. Allerdings sind die Kapitel manchmal recht langatmig und die begleitenden Abbildungen des Öfteren unverständlich.

In einem zweiten Schritt werden die aussagekräftigen Erkenntnisse anhand einer qualitativen Analyse von einzelnen, besonders interessanten Fällen vertieft. Sei es der Einfluss des Departements beim Bau einer Straße oder die Beanspruchung von nationalen Geldmitteln bei Großprojekten wie der Überbrückung der Mosel, immer wieder unterstreicht der Autor, dass Durchstaatlichung nicht nur ein von oben auferlegter Prozess war, sondern dass bottom-up-Dynamiken auch eine große Rolle spielten. Die Konflikte, die sich beispielsweise um die Feldhüter entwickelten, illustrieren den Zusammenprall von lokalen Logiken und nationaler Normendurchsetzung. Die zahlreichen Beispiele geben der Studie die notwendige Tiefe und erfüllen die trockenen Zahlenaneinanderreihungen mit etwas Leben.

Über die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes lässt sich bei Mikrostudien immer diskutieren. Und das Thema der Arbeit - Staat im Dorf - legitimiert ohne Zweifel die Auswahl von Gemeinden, die sich 1805 durch ihre Ländlichkeit definierten. Interessant wäre es jedoch ohne Zweifel gewesen, ein Dorf in die Analyse mit einzubeziehen, das von einer grundlegenden Veränderung des 19. Jahrhunderts betroffen war, der Industrialisierung. Des Weiteren ist das Fehlen deutscher Gemeinden zu bedauern. Da Luxemburg in seinem kommunalen Aufbau und Selbstverständnis doch sehr vom französischen Beispiel beeinflusst ist, hätte Deutschland einen interessanten Kontrapunkt für diese vergleichende Arbeit abgegeben. Die Nicht-Berücksichtigung des deutschen Beispiels, das, betrachtet man die beiden publizierten Dissertationen, ja eher eine Ausnahme im Forschungsprojekt zu sein scheint, hätte in der Einführung eine Erklärung verdient.

Die Stärke der Untersuchung liegt ohne Zweifel in dem erfolgreichen Versuch, in der Diskussion um "Staat im Dorf" einem nicht rein kulturgeschichtlichen Ansatz gefolgt zu sein, wie er besonders in der französischen Forschung sehr verbreitet ist. Norbert Franz kommt dabei das Verdienst zu, ein besonders in der luxemburgischen Historiografie bis jetzt vollkommen unbearbeitetes Feld durchforstet zu haben. Nicht nur, dass quellengesättigte Monografien über das 19. Jahrhundert sehr selten sind, die wenigen, die bis jetzt existieren, verfolgen oft einen rein politischen Ansatz. Trotzdem ist die Lektüre des Buches teilweise unbefriedigend, besonders weil es im schwachen Schlusskapitel nicht zu einer Verschränkung der Forschungsresultate mit dem breiteren historiografischen Kontext kommt. So fehlt zum Beispiel ein systematischer Vergleich zwischen den französischen und luxemburgischen Gemeinden; dieser hätte unter anderem erlaubt, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob es ein europäisches Modell für den Prozess der Durchstaatlichung durch die Kommunen gibt. Außer der "staatlichen Friedensdividende" (371) Luxemburgs werden weder Unterschiede noch Gemeinsamkeiten zwischen dem kleinen Großherzogtum und der großen Republik thematisiert. Ebenso ist die völlige Ausblendung der Nation nur sehr schwer verständlich, gilt das 19. Jahrhundert doch als das Jahrhundert des état-nation. Sicherlich kann ein Staat seine Herrschaft auch durch effiziente Verwaltung legitimieren, trotzdem ist die Nation eine nicht zu unterschätzende, staatstragende Ideologie, die eine gewisse Berücksichtigung verdient gehabt hätte.


Anmerkung:

[1] Christine Mayr: Zwischen Dorf und Staat : Amtspraxis und Amtsstil französischer, luxemburgischer und deutscher Landgemeindebürgermeister im 19. Jahrhundert. Ein mikrohistorischer Vergleich, Frankfurt a. M. 2005 und Ruth Dörner: Staat und Nation im Dorf. Erfahrungen im 19. Jahrhundert: Frankreich, Luxemburg, Deutschland, München 2006.

Benoît Majerus