Rezension über:

Peter Stein: Schriftkultur. Eine Geschichte des Schreibens und Lesens, Darmstadt: Primus Verlag 2006, 349 S., ISBN 978-3-89678-564-0, EUR 34,90
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Rezension von:
Corinna Ilgner
Institut für Klassische und Frühchristliche Archäologie, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Sabine Panzram
Stellungnahmen zu dieser Rezension:
Empfohlene Zitierweise:
Corinna Ilgner: Rezension von: Peter Stein: Schriftkultur. Eine Geschichte des Schreibens und Lesens, Darmstadt: Primus Verlag 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 9 [15.09.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/09/10321.html


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Peter Stein: Schriftkultur

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"Erz, Marmor, Pergament, Papier? Soll ich mit Griffel, Meißel, Feder schreiben?" Dies sind keine Fragen mehr, mit denen sich ein heutiger Autor - im Gegensatz zu Goethes Faust (I, Vers 1730 f.) - beschäftigt. Der selbst erlebte, schnelle Wechsel der Medien und die Ausweitung der Kommunikationsarten innerhalb der letzten Jahrzehnte sind jedoch der Ausgangspunkt für die Beschäftigung vieler Wissenschaftler mit der Geschichte des Lesens und Schreibens, so auch für Peter Stein. Der mittlerweile emeritierte Professor für Angewandte Kulturtechnik legt in der vorliegenden Monografie seine Ergebnisse der Auseinandersetzung mit dem Thema dar, zu dem er in den Jahren 1991 bis 2004 Vorlesungen und Seminaren an der Universität Lüneburg abgehalten hat (4).

Nach einer Einführung in die Problematik der Schriftkultur - ihrer Definition, Evolution und Erforschung - folgen zwölf Kapitel zur Schrift- und Lesekultur, die sich in ihrer Anordnung an der von Marshal McLuhan aufgestellte Phaseneinteilung orientieren. Kapitel 2 beschreibt die Entstehung von Schrift in den verschiedenen alten Hochkulturen und ihre Anwendung als Mittel zur Herrschaftsausübung in der nicht alphabetischen Vorphase. In den Kapiteln 3 bis 5 beschäftigt sich Stein mit der antiken alphabetischen Schriftkultur, die deutlich von oraler Kommunikation und Textdarbietung geprägt ist und an deren Ende sich eine neue Buchreligion etabliert hat. Die beiden folgenden Kapitel sind der Manuskriptkultur des Mittelalters gewidmet, in dem sich die Schriftgelehrten in Byzanz und in der islamischen Welt weiterhin mit den antiken Schriften auseinandersetzen, aber auch die Verwendung von Volkssprachen, die Aufgabe der scriptio continua und weitere Änderungen in den Schreibgewohnheiten neue Akzente setzten. In der Übergangszeit vom Mittelalter zur Neuzeit liegt der Beginn der typografischen Kultur, die in den Kapiteln 8 bis 12 dargestellt wird. Dass sich der Hauptteil des Buches mit dem Zeitalter des Buchdruckes beschäftigt und dem 18. und 19. Jahrhundert dabei viel Raum gegeben wird, erklärt sich zum einen aus der Vielzahl interessanter Neuerungen im Umgang mit Schriftlichkeit in diesem Zeitraum, aber auch durch das Forschungsinteresse des Autors, der sich in seinen bisherigen Veröffentlichungen häufig mit der Zeit des Vormärz beschäftigt hat. Im letzten Kapitel wird die Zeit des 20. Jahrhundert besprochen und ein abschließender Ausblick ins digitale Zeitalter gewagt, das eben trotz aller neuen Medien nicht ohne die globale Verwendung von Schrift zu denken ist.

Der Aufbau der Kapitel folgt aber nicht nur chronologischen Gesichtspunkten, sondern thematische Schwerpunkte, wie Religion, Buchhandel und Bibliotheken etc., lassen Rückblicke und Vorgriffe zu. In jedem der Kapitel werden die wichtigsten Thesen der neueren und älteren Forschung kurz dargestellt und diskutiert, manchmal werden ungelöste Forschungsfragen (die Homerfrage beispielsweise, 67) aber auch nur angedeutet. Wie sehr sich Stein mit der wissenschaftlichen Erforschung beschäftigt hat, wird im Personenregister des Buches leider nicht gewürdigt, denn viele Namen (zum Beispiel Walter Ong) sind dort nicht wieder zu finden oder es fehlen Stellenangaben (für McLuhan fehlt die Angabe von Seite 212).

Stein bietet eine anhand neuerer Erkenntnisse modifizierte Sichtweise der Überlegungen von McLuhan, denn er hält die Alphabetschrift nicht mehr für eine universell geltende Kraft und räumt der abendländischen Schriftkultur keinen derart großen Stellenwert mehr ein. Aber indem sich Stein vornehmlich mit Europa und Deutschland beschäftigt und mehrheitlich auch nur westliche Forscher zitiert, bleibt eine europazentrierte Sehweise nicht aus. Die Grundüberlegung McLuhans, dass jedes Medium die Gesellschaft und jede Gesellschaft die Medien verändert, ist auch für Stein maßgeblich: "Mit der Darstellung dessen, wie Schriftlichkeit entstand, in Gebrauch genommen wurde, in die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche eingedrungen ist und umgekehrt von ihnen durchdrungen wurde, diese mit neuen Praktiken verändert und erweitert hat und schließlich die Eigenart der Kultur zentral bestimmte ... " (26). Ein weiterer Forscher, dem Stein in großen Teilen seiner Argumentation folgt, ist Jan Assmann. Von ihm übernimmt er die Idee, dass der Wert und die Leistungskraft einer Schriftkultur durch die Art und Weise bestimmt wird, "wie die Potenziale der Schrift in einer Gesamtkultur, die von verschiedenen gesellschaftlichen Interessen geprägt ist, eingesetzt werden, um übergeordnete Ziele in Ökonomie, Kultus, Mythos, Kunst, Wissen, Bildung u. a. zu erreichen" (66 f.).

Bedenkt man den großen Zeitraum (über 5000 Jahre), mit dem sich Stein beschäftigt, ist es nur verständlich, dass diese Darstellung der Schriftkultur von den ersten symbolischen Zeich(nung)en der Prähistorie bis zu den neuesten digitalen Umsetzungen im Multimedia-Zeitalter nur eine Überblick über die Entwicklungen geben kann. Dabei gelingt es dem Autor, die Veränderungen und Neuerungen als einen stetigen, evolutionären Prozess und nicht als Ergebnis von epochalen Revolutionen darzustellen. Seit ihrer Erfindung existieren Schrift und Schriftlichkeit neben und mit anderen Medien (310). Da Schrift ständig an die vorherrschenden Medien angepasst wurde, ist ihre Beherrschung weiterhin Schlüsselqualifikation zur Verbesserung von Bildungs- und Lebenschancen (315).

Schwächen des Buches zeigen sich, wenn man sich näher mit den auf das Notwendigste beschränkten Anmerkungen befasst. Für Zitate antiker Autoren werden nicht immer die Originalstellen gebracht (zum Beispiel für Plinius d. Ä., 257). In der Literaturliste fehlen die Auflösung der Zeitschriftensiegel LiLi oder PBB (336), und mindestens einmal gibt es zu einer angemerkten Literaturangabe keine Auflösung im Literaturverzeichnis (252 Anm. 55). Ob im Register immer alle Seitenangaben auftauchen, ist zu bezweifeln, für Goethe fehlt zu mindestens Seite 280. Die umfangreiche Literaturliste, die Veröffentlichungen bis einschließlich 2004 enthält, könnte man noch um einige Werke ergänzen - Kleinigkeiten, die vermutlich eher dem Lektorat als dem Autor anzulasten sind. [1]

Trotz dieser kleinen Mängel ist das Buch eine gelungene und gut zu lesende Einführung in die der Erforschung der Schriftkultur, die zudem durch die ausführliche Literaturliste (Titel bis 2004) im Anhang eine gründlichere Auseinandersetzung mit dem Thema und eigenes Weiterforschen ermöglicht. So gilt auch hier für die ehemaligen Studenten Professor Steins, denen das Buch gewidmet ist, wie für den Schüler von Goethes Faust (I, Vers 1970 f.): "Denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen."


Anmerkung:

[1] So etwa B. Franzmann / K. Hasemann u. a.: Handbuch Lesen, München 1999; H.-J. Griep: Geschichte des Lesens. Von den Anfängen bis Gutenberg, Darmstadt 2005.

Corinna Ilgner