Rezension über:

Uta Hinz: Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914-1921 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. Neue Folge; Bd. 19), Essen: Klartext 2006, 392 S., 15 Abb., 15 Tab., ISBN 978-3-89861-352-1, EUR 32,00
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Rezension von:
Oksana Nagornaia
Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Oksana Nagornaia: Rezension von: Uta Hinz: Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914-1921, Essen: Klartext 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8 [15.07.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/07/10071.html


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Uta Hinz: Gefangen im Großen Krieg

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Im Ersten Weltkrieg wurde die Kriegsgefangenschaft zur Erfahrung von Massen. Schon während des Krieges entwickelte sich die Frage nach dem Umgang mit den Kriegsgefangenen von einem Randaspekt der Kriegführung zu einem der wichtigsten Themen der internationalen Diskussion. Aber für die Forschung blieb diese Problematik ein lang vernachlässigtes Kapitel. Erst in den letzten Jahren erschienen einige Untersuchungen zum Thema. [1] Uta Hinz legt mit ihrer Düsseldorfer Dissertation nun die erste Gesamtdarstellung zum deutschen Kriegsgefangenenwesen als einem Subsystem der deutschen Kriegsgesellschaft vor.

Im Unterschied zu ihren Vorgängern beschränkt die Verfasserin sich nicht auf die Lagergeschichte oder auf die Beschreibung von Kriegsgefangenen einer Nation. Dieser strukturelle Zugang ermöglicht es ihr, die unterschiedliche Behandlung der Nationalitäten sowie deren Gründe analytisch zu vergleichen. Hinz bezieht sich auf das von Stig Förster entwickelte Konzept der "Totalisierung der Kriegführung" und stellt ihre Untersuchung unter die Frage, ob sich am deutschen Gefangenenwesen schon während des Großen Krieges eine Tendenz zum totalen Krieg ablesen lässt.

Da die Publizistik und Memoiren in der Kriegs- und Nachkriegszeit stark von der Propaganda geprägt wurden, basiert die Arbeit in hohem Maße auf Archivmaterialien. Abgesehen von den Akten des Bundesarchivs (Berlin, Koblenz) und des Internationalen Roten Kreuzes (Genf) stützt sich die Monografie vor allem auf die Materialien des XIII. (Württembergischen) Armeekorps. Der Informationswert der Stuttgarter Quellenbestände, so Hinz, liegt in ihrer Vollständigkeit und Geschlossenheit. Sie erlauben sowohl notwendige Kontextualisierung als auch den Vergleich mit anderen Armeegruppen. Aus der Quellenlage ergibt sich zwangsläufig eine Konzentration der Studie auf das westliche Reichsgebiet. Die Behandlung der Kriegsgefangenen in der Etappe kann die Autorin nur anreißen. Die Ostfront wird zwar ausführlicher beschrieben, durch den fehlenden Zugang zum russischen Quellenkorpus ist hier jedoch keine abschließende Untersuchung der russischen Kriegserfahrungen möglich gewesen. Die Monografie ist klar strukturiert und gut lesbar, besonders durch die kurzen Zusammenfassungen zu jedem Kapitel. Folgende Schwerpunkte werden gesetzt:

Deutschland und die Haager Landeskriegsordnung. Als Opfer des Dilemmas "Humanität versus Utilitarismus" wurden die Bestimmungen der HLKO zu unklaren Regeln, die in der deutschen Vorkriegsrezeption des neuen Völkerrechts mit dem vagen Begriff der "Kriegsnotwendigkeit" verbunden waren. Dies habe bis 1914 die Kriegsgefangenenfrage nicht beeinflusst, da dieses Problem ganz am Rand der Vision des zukünftigen Krieges gestanden hätte. Die spätere Äußerung Bethmann Hollwegs "Not kennt kein Gebot" habe sich nur auf einzelne Aspekte des Kriegsgefangenenwesens (Ernährung und Beschäftigung) bezogen. Unter dem Druck internationaler Öffentlichkeit verlangten die Reichsmilitärbehörden von den Lokalinstitutionen, das Völkerrecht zu befolgen. Ein wichtiger Fortschritt und gleichzeitig eine neue Tendenz der Kriegführung stellten, so Hinz, die Besichtigungsdelegationen von neutralen Schutzländern in den Lagern dar, denen jedoch der Besuch von Arbeitskommandos besonders in den besetzten Gebieten, nicht erlaubt war. Leider lässt Hinz die gegenseitigen Reisen der russisch-deutsch-österreichischen Rotkreuzschwestern an die Ostfront außer Acht, die diese These ergänzt hätten. [2]

Zentrum und Lokalpolitik. Alle Untersuchungen zur Kriegsgefangenenfrage sind sich darin einig, dass in Deutschland die Vorbereitungsmaßnahmen für die gewaltige Zahl der Kriegsgefangenen unzureichend waren. Da das Lagersystem auf Grund der föderativen Struktur kein einheitliches Produkt von Zentralplanung und totaler Kontrolle war, führte das zur großen Kluft zwischen Verfügungen aus Berlin und Maßnamen vor Ort. Beispielsweise begünstigte die fehlende Kontrolle die Misshandlung von Kriegsgefangenen. Die örtlichen Arbeitskommandos waren schließlich von Berlin aus fast nicht mehr steuerbar.

Entwicklung des Lagersystems. Die Kriegsgefangenenbehandlung entwickelte sich parallel zum Lagersystem. Die Vorstellung vom schnellen Krieg und die Vorbereitungsmängel bedingten die "Improvisationsphase". Das Organisationschaos provozierte Seuchenepidemien. Dies führte zu einer hohen Todesrate in den Lagern und Anklagen gegen die deutsche Seite wegen der unmenschlichen Kriegführung. Mit der Einrichtung der Stammlager 1915 begann für die Autorin die "Organisationsphase", in der sich ein verbindlicher Behandlungsstandard durchsetzte. Sie gilt auch als kurze Blütezeit der Lagerkultur. Den Anfang der dritten Phase, die "Ausdifferenzierungsphase", datiert Hinz auch auf 1915, diese hielt jedoch bis 1918 an. Ein wichtiges Merkmal des deutschen Lagersystems scheint die "Hungerhierarchie" oder die "Zweiklassengesellschaft" zu sein. Zu den privilegierten Gruppen gehörten englische, französische und belgische Kriegsgefangene, zu den unterprivilegierten russische, serbische, rumänische und italienische Gefangene. Nur der Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft habe die Hungerkatastrophe verhindert.

Ungleiche Behandlung verschiedener Nationalitäten. Hinz betont mehrfach, dass der deutschen Kriegsgefangenenpolitik im Unterschied zum Zweiten Weltkrieg keine rassistische Motivation zu Grunde lag. Misshandlung der russischen Kriegsgefangenen und willkürliche Disziplinierung resultierten aus den propagandistischen Feindbildern und Stereotypen des Kaiserreichs, die die Russen als unkultiviert darstellten. Einen Begrenzungsfaktor der Willkür stellten lediglich Befürchtungen vor Vergeltungsmaßnahmen und die Effektivität der Zwangsarbeit dar.

"Totaler Krieg" und Kriegsgefangenenfrage. In ihrer Zusammenfassung verknüpft Hinz noch einmal die drei wichtigsten Aspekte des Kriegsgefangenenwesens, Ernährung, Strafsystem und Kriegsgefangenenbeschäftigung mit dem Totalisierungskonzept. Die Autorin resümiert, dass nur im Strafsystem des Lagers die Kontinuität mit der traditionellen Kriegführung und die Abwesenheit totalitärer Merkmale feststellbar sind. Die Verletzungen des Völkerrechts passierten nur auf lokaler Ebene, entsprangen also nicht totalitärem Kalkül. Die Ernährungspolitik dagegen illustrierte das Dilemma der Militärführung zwischen den Völkerrechtsbestimmungen und dem neuen Kriegstyp. Die auskömmliche Versorgung des kriegsgefangenen Feindes, so Hinz, sei für die deutsche Seite nicht als Pflicht, sondern als ein Instrument der politischen und ökonomischen Beeinflussung der Entente-Mächte gesehen worden. Als Kulminationspunkt der radikalen Strukturveränderung schätzt die Verfasserin den Arbeitseinsatz der Kriegsgefangenen in den besetzten Gebieten und das Schicksal der russischen Kriegsgefangenen nach dem Waffenstillstand an der Ostfront ein. Hier scheint die Grenze zwischen dem militärischen Status und ökonomischer Ausbeutung fließend zu sein. Zum Schluss bemerkt Hinz, dass der Erste Weltkrieg eine Zäsur für die Entwicklung des "total war"-Konzepts gewesen sei. Die ideologische Totalisierung wurde jedoch in deutschen Kriegsgefangenenlagern nicht realisiert. Obwohl viele Schwerpunkte in der Monografie nicht oder nur kurz angesprochen werden, gelingt es der Verfasserin, das deutsche Kriegsgefangenenwesen gleichgewichtig zu beschreiben. Die Studie ist als Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen zum Thema zu betrachten.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Hannes Leidinger/Verena Moritz: Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1917-1920, Wien u. a. 2003. Jochen Oltmer (Hg.): Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs, Paderborn u. a. 2006. Reinhard Nachtigal: Kriegsgefangenschaft an der Ostfront 1914 bis 1918: Literaturbericht zu einem neuen Forschungsfeld, Frankfurt am Main u. a. 2005.

[2] Vgl. Reinhard Nachtigal: Die dänisch-österreichisch-ungarischen Rotkreuzdelegierten in Russland 1915-1918, in: Zeitgeschichte 25 (1998), 336-374; zur deutschen Seite: Sächsisches Hauptstaatsarchiv, 11248, Sächsisches Kriegsministerium, Nr. 7081: Dänisch-russische Rotkreuz Kommission.

Oksana Nagornaia