Rezension über:

Sheila Fitzpatrick: Tear Off the Masks! Identity and Imposture in Twentieth-Century Russia, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2005, ISBN 978-0-691-12245-8
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Beate Fieseler
Ruhr-Universität Bochum
Empfohlene Zitierweise:
Beate Fieseler: Rezension von: Sheila Fitzpatrick: Tear Off the Masks! Identity and Imposture in Twentieth-Century Russia, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 5 [15.05.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/05/8949.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Sheila Fitzpatrick: Tear Off the Masks!

Textgröße: A A A

Bei der neuesten Veröffentlichung der amerikanischen Historikerin Sheila Fitzpatrick handelt es sich um eine Sammlung von Aufsätzen zum Themenfeld "Identität und Identitätsschwindel". Die meisten der hier zusammengestellten Texte wurden zwischen 1991 und 2002 bereits einzeln an unterschiedlichen Stellen veröffentlicht, sind dem Fachpublikum also schon bekannt. In diesem Band werden sie zusammengehalten durch die neu verfasste Einleitung "Becoming Soviet" sowie das ebenfalls speziell für diesen Band geschriebene Nachwort zum Thema "Becoming Post-Soviet". Zuvor noch nicht publiziert worden ist außerdem das Kapitel "Wives' Tales" über die Denunziation von Ehemännern durch ihre Frauen - ein Spezifikum der Vierziger- und Fünfzigerjahre mit ihrer restaurativen Familienpolitik vor dem Hintergrund kriegsbedingter Verwerfungen, die bis ins Privat- und Familienleben hinein spürbar waren.

Das Buch gliedert sich in fünf Teile, nämlich: Class Identities, Lives, Appeals, Denunciations und Impostures -, denen jeweils zwei, drei oder vier Aufsätze zugeordnet sind. Vom zeitlichen Rahmen her deckt die Publikation die Sowjetperiode bis zum Ende der Stalinzeit (mit Schwerpunkt auf den Dreißigerjahren) relativ dicht ab und liefert abschließend noch einen Ausblick auf die postsowjetische Gesellschaft. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems sah sich die Bevölkerung, die jahrzehntelang unter dem Druck gestanden hatte, möglichst perfekt "bolschewistisch zu sprechen", plötzlich mit der Anforderung konfrontiert, diese "Sprache" umgehend wieder zu verlernen, sich schleunigst zu "entsowjetisieren", den jahrzehntelang kultivierten Homo sovieticus in sich selbst auszumerzen und stattdessen eine postsowjetische Identität zu entwickeln: "If speaking Bolshevik was something that had to be learned in the revolutionary era, after 1991 it had to be rapidly unlearned. Soviet identities were cast off, new post-Soviet identities invented." (303). Dabei handelte es sich um einen bewussten Transformationsprozess ("We must become different people", 308), den manche als befreiend wenn auch anstrengend, andere aber als Zumutung empfunden haben dürften. Für diejenigen, die in ihrer vorherigen sowjetischen Identität heimisch geworden waren, mochten die Anforderungen der Gegenwart - als sämtliche Werte und Verhaltensweisen der Vergangenheit zu Gunsten ihrer westlichen Antithese geradezu verdammt wurden -, verstörend und schmerzhaft gewesen sein. Einige suchten Zuflucht bei der Religiosität und Spiritualität vergangener Zeiten. Wieder andere tauschten mithilfe allenthalben angebotener einschlägiger Ratgeber und Handbücher geschwind ihre alte, sowjetische "Maske" gegen eine neue, kapitalistische. Insbesondere unter ehemaligen Kommunisten und Funktionären kam es in Mode, die überkommene sowjetische Identität und Moral hinter der zeitgemäß-modernen Fassade eines Geschäftsmannes oder Unternehmers zu verbergen: "On the road to new post-Soviet identity, the impostor, Janus-faced, was once again in the vanguard." (317).

Was 1991 passierte, war unter umgekehrten ideologischen Vorzeichen nach der Oktoberrevolution von 1917 schon einmal geschehen. Die bis dahin gültigen Konventionen der Selbstrepräsentation verloren an Gültigkeit, die Bevölkerung war gezwungen, sich entsprechend den Anforderungen der Zeit neu zu erfinden. Wer unter der nach außen sichtbaren sowjetischen Persönlichkeit seine wahre Identität zu verbergen versuchte, also Identitätsschwindel betrieb, musste damit rechnen, "entlarvt" zu werden, indem ihm die "Maske" heruntergerissen wurde.

Wie Fitzpatrick betont, interessiert sie sich sowohl für die individuellen Bemühungen der Identitätsumgestaltung als auch für die damit einher gehenden sozialen Praktiken (Säuberungen, Selbstkritik, Denunziationen) und typischen Mentalitäten wie Argwohn und Identitätsangst. Diese florierten unter sowjetischen Bedingungen, als jede und jeder damit beschäftigt war, sich neu zu erfinden und das frisch konstruierte Selbst nach außen zu verteidigen. Identität und Identifizierung hat im Verständnis von Fitzpatrick also viel mit "Werden" zu tun, nämlich letztendlich mit der äußeren "Maske" eins zu werden. Im Gegensatz zu den Vertretern der "Subjektivitätsschule" (Halfin, Hellbeck u. a.), die, so Fitzpatrick, in erster Linie am Selbst und an Subjektivität interessiert seien, geht es der Verfasserin um Identität (vor allem um die soziale Identität) und Identifizierung, womit ein Selbstverständnis gemeint ist, das sich an den dominanten Kategorien gesellschaftlicher Existenz ausrichtet.

Abgesehen von verschiedenen Facetten der Identitätskonstruktion behandeln die hier versammelten Aufsätze von Sheila Fitzpatrick als zweiten Hauptgegenstand auch das Thema "Identitätsschwindel". Dieser erfolgte häufig aus politischen Motiven und zog im Falle der "Entlarvung" auf jeden Fall ernste Konsequenzen nach sich, die von der Entlassung und sozialen Marginalisierung bis hin zum Verlust des Lebens reichen konnten. Daneben gab es allerdings auch den vor allem an materiellem Gewinn interessierten Identitätsschwindel aus kriminellen Motiven, der in der Regel weit milder geahndet wurde. Diese Art von Betrug hat in Gestalt von "Ostap Bender", dem gleich zwei Aufsätze des Bandes gewidmet sind, auch ihren populären literarischen Helden hervorgebracht.

"Tear off the Masks!" ist chronologisch aufgebaut. Der erste Teil umfasst drei Beiträge zur Bedeutung von "Klasse" in der Sowjetunion der Vorkriegszeit, die - da es sich ja nicht um eine Monografie, sondern um eine Sammlung von mehr oder weniger bekannten Aufsätzen der Verfasserin handelt -, nicht immer frei von Wiederholungen sind. Fitzpatricks Befund lautet, dass "Klasse" in dieser Zeit nicht im marxistischen Sinne zu verstehen sei, sondern vielmehr den Platz markiere, der einem Individuum in einem komplexen System von Ansprüchen und Verpflichtungen zukam. In diesem Sinne war "Klasse" in der frühen Sowjetunion den vorrevolutionären ständischen Kategorien durchaus verwandt. Bereits mit der Verfassung von 1936, noch deutlicher jedoch in der Nachkriegszeit, verlor das "Klassenkonzept" dann viel von seiner ursprünglich überragenden Bedeutung.

Im zweiten Teil des Bandes stehen dann verschiedene Praktiken der selbstmächtigen Klassenzuschreibung im Mittelpunkt, aber auch unterschiedliche Versuche, diese von außen anzufechten. Im dritten und vierten Teil wird vor allem die Quellengattung "Brief" als Ort von Identitätskonstruktion und -dekonstruktion näher untersucht. Dies geschieht zum einen anhand von Bittbriefen, zum anderen am Beispiel von Denunziationen, die während der Stalinzeit zu hunderttausenden an alle möglichen politischen Instanzen geschickt wurden. Im ersten Fall interessiert sich Fitzpatrick vor allem für die Selbststilisierung der Verfasser sowie für die Wirkungsweise von Patronagebeziehungen. Natürlich spielte auch in vielen Denunziationsbriefen das Thema "Identität" bzw. die Entlarvung von Identitätsschwindel eine herausragende Rolle, was nur zeigt, in wie hohem Maße und in wie großer Zahl die Bevölkerung dieses Partizipationsangebot des Staates annahm, häufig aus eigennützig-materiellen Motiven. Der fünfte und letzte Teil schließlich behandelt das Thema "Identitätsschwindel" anhand faszinierender Einzelbeispiele aus der Vor- und Nachkriegszeit. Solcher Betrug im Sinne von virtuoser Beherrschung unterschiedlichster, aber immer einträglicher sozialer Rollen war in den Zwanziger- und Dreißigerjahren nicht nur als literarischer Topos äußerst populär, sondern konnte auch im realen Leben mit Nachsicht, ja mit Bewunderung rechnen. Im Zuge des staatlich sanktionierten Antisemitismus der Nachkriegszeit jedoch wurden diese Art von Schwindeleien immer häufiger als typisch "jüdische Verbrechen" etikettiert und erfuhren entsprechend weniger Toleranz.

Beate Fieseler