Rezension über:

Philipp Prein: Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert. Freizeit, Kommunikation und soziale Grenzen (= Kulturgeschichtliche Perspektiven; Bd. 3), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2005, 297 S., ISBN 978-3-8258-7937-2, EUR 29,90
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Rezension von:
Thorsten Fitzon
Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Thorsten Fitzon: Rezension von: Philipp Prein: Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert. Freizeit, Kommunikation und soziale Grenzen, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3 [15.03.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/03/8935.html


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Philipp Prein: Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert

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"Wenn jemand eine Reise tut, | So kann er was verzählen". Mit diesen Versen beginnt Mathias Claudius sein 1786 erschienenes Gedicht "Urians Reise um die Welt". Im 19. Jahrhundert bekam das Verspaar Flügel, da die dialogische Struktur des Liedes im Sprichwort auf den inneren Zusammenhang von Reise und Erzählung zugespitzt, das Selbstverständnis bürgerlichen Reisens in kongenialer Weise spiegelte. Kaum ein anderes Medium ermöglichte die Verständigung über soziale und nationale Zugehörigkeit so wie der Reisebericht. In ihm konnte gleichermaßen Fremd- und Selbsterfahrung, historische Tiefe und soziale Distinktion zur Sprache gebracht und vergleichend verhandelt werden. Nicht die Mitteilung etwaiger Neuigkeiten dominiert daher die Reiseberichte des 19. Jahrhunderts, sondern die diskursive Verständigung über Erlebnisse und Eindrücke steuert Auswahl und Darstellung.

Ausgehend von dieser kommunikativen Funktion des Reisens im 19. Jahrhundert, wertet Philipp Prein in seiner Berliner Dissertation 513 überwiegend ungedruckte Reisetagebücher von Hamburger, Baseler und Londoner Bürgern aus, um "das Wechselspiel von Ereignis und Struktur, von Vorstellung und Ding, von Individualität und Norm" (8) am Beispiel der historischen Praktik des Reisens zu untersuchen. Die methodisch reflektierte Studie fragt dabei vor allem nach der Bedeutung des Reisens als "Gegenwelt zum Alltag" (2) und dem bürgerlichen Blick im langen 19. Jahrhundert. Der von Prein gewählte Zeitraum ermöglicht, eine Entwicklung des touristischen Reisens in den Blick zu nehmen, die bisher zu Gunsten der Subjektivierung Ende des 18. Jahrhunderts und dem Aufkommen des Massentourismus im 20. Jahrhundert zu wenig Beachtung fand.

Der Perspektivwechsel von den Reisezielen zur Herkunft der Reisenden rechtfertigt dabei eine neuerliche Archäologie der Freizeitreise, vermag Prein dadurch doch Annahmen zu modifizieren, die oft nur topografischen Einschränkungen geschuldet waren. So zeigt sich in den vorgestellten Reisebiografien ein Zugleich ganz verschiedener Reisehaltungen, je nachdem, welche Orte in welcher Lebensphase und in welchem Kontext besucht wurden. Ob bürgerliches Reisen eher als kompensatorische Flucht aus der Moderne oder aber Erkundung der Zukunft zu charakterisieren sei, erscheint weniger einem historischen Wandel unterworfen, wie die Forschung bisher annahm, als vielmehr von der Reisepraxis und dem Primat der Sehenswürdigkeit geleitet. Ein und derselbe Reisende konnte in Italien dem Topos einer Reise in die Vergangenheit folgen und wenig später auf Weltausstellungen oder einem Besuch in London einen Blick in die Entwicklungsmöglichkeiten der eigenen Gegenwart suchen. In dieser Polyvalenz des Blicks liege, so Prein, ein wesentliches Merkmal des modernen bürgerlichen Reisens überhaupt. Mit diesem Ergebnis korrespondiert auch der systematische Aufbau der vergleichenden Studie, die nicht chronologisch verfährt, sondern sich nach Herkunft, Geschlecht und Biografie der Reisenden sowie Praxis, Funktion und Ziel der Reise gliedert.

Das erste Kapitel skizziert anhand ausgewählter Beispiele typische Reisebiografien von der Kinderreise im Familienkreis, über Ausbildungs- und Berufsreisen bis hin zu Reisen nach dem Erwerbsleben. Wenngleich dadurch der Begriff der Freizeitreise nicht immer trennscharf von beruflich bedingten Reisen unterschieden scheint, wird zumindest für die städtischen Oberschichten Reisen als lebenslange Praxis erkennbar. Die Herkunft aus so unterschiedlichen Städten wie Hamburg, Basel und London fällt dabei jedoch kaum ins Gewicht. Lediglich zwischen den Geschlechtern gibt es eine auffällige Verspätung zum Nachteil der Frauen. Dieses Ergebnis deutet auch auf eine heuristische Schwäche der Arbeit hin: Der Vergleich der drei Metropolen erscheint kaum ergiebig. Prein betont zwar, dass der Vergleich nicht darauf ziele, die Unterschiede herauszustreichen, sondern vielmehr den "Blick auf die Gemeinsamkeiten" zu schärfen. So werden "die Fälle in erster Linie als sich ergänzende Beispiele" betrachtet (16), ohne dass der Vergleich eine hinreichende Differenzqualität besäße. Die Frage, warum nicht andere Städte oder gar Stadt und Land ins Verhältnis gesetzt wurden, lässt sich jedoch nicht allein mit dem Verweis auf die Quellenlage zurückweisen. Während die Gegenüberstellung von Handelsbürgertum in Hamburg und eher universitär geprägtem Bürgertum in Basel immer wieder aussagekräftige Verhaltensinterpretationen zulässt, erschöpft sich der Vergleich mit den Reisenden aus London meist darin, ihnen eine inkommensurable Sonderrolle zuzuweisen.

Das zweite Kapitel referiert die narrativen und kommunikativen Aspekte der Reiseliteratur und zeigt, dass die Ergebnisse der Forschung zu den publizierten Reiseberichten weitgehend auf die unveröffentlichten Quellen übertragen werden können. Als Brief, Geschenk oder in Form einer Lesung waren sie trotz ihres privaten Charakters ebenfalls immer auf bestimmte Adressaten bezogen und Teil eines Kommunikationsprozesses. Gleichviel ob es später zu einer ohnehin auflagenschwachen Publikation kam oder nicht.

Die Hauptthese der Studie, nach der Reisen im Sinne eines rite de passage Alltagsroutinen vorübergehend außer Kraft setzte und dadurch einen Gegen-Alltag schaffte, wird im dritten Kapitel diskutiert. Die Imagination eines Gegen-Alltags wurde, wie Prein überzeugend ausführt, nicht erst durch den Exotismus einer Weltreise ermöglicht, sondern auch durch spielerische, sportliche oder religiöse Praktiken auf kleineren Ausflügen. Prein zeigt, wie sich die unterschiedlichen Typen etwa der Bildungs- und Bäderreise oder der Städtetour und der Alpenbesteigung unter dem gemeinsamen Aspekt der Suche nach Alltagsalternativen integrieren lassen. Diese Beobachtung wird auch durch die Form unterstützt, die erzählerisch keinen Unterschied etwa zwischen Sport und Bildung macht. Vielmehr werden erprobte Wahrnehmungsmuster wie zum Beispiel das Pittoreske und das Erhabene ebenso wie die bekannten Topoi des Reiseabenteuers aus der klassischen Bildungsreisen entlehnt und auf die Freizeitreise übertragen. Der innere Zusammenhang zwischen Reise- und Darstellungsform wird dabei zunehmend zu Gunsten eines beliebigen Erzählrepertoires aufgegeben.

Besonders aufschlussreich für die Bedeutung des Gegenalltags ist das Kapitel über die "Schule des panoramatischen Sehens", in die der Blick eines jeden Reisenden im 19. Jahrhundert zu gehen hatte. Erst der konstruktivistische Blick schafft sehenswerte Städte, Landschaften, Kunst und Architektur. Prein gelingt eine bemerkenswerte Vereinheitlichung unter dem Primat der "Sehenswürdigkeit". Das Zusammenspiel von medialer Repräsentation und inszenierter Authentizität zielt darauf, den Unterschied zwischen Abbildung und Autopsie zu verringern. Erst in der Wiederholbarkeit des gerahmten und distanzierten Blicks, und darin liegt die Bedeutung dieser Schulung des Sehens, wird das Reiseerlebnis kommunizierbar. Den Blick des Touristen kennzeichnet somit eine über das Institut der Sehenswürdigkeit vermittelte äquidistante Gleichzeitigkeit. Dies zeigt sich am deutlichsten an Referenzlandschaften, wie der heimischen Natur oder den Schweizer Alpen, die selbst dann als Vergleich herangezogen werden, wenn kaum objektive Analogien bestehen. Solche Anknüpfungsbemühungen stellten einen unverzichtbaren Ermöglichungsgrund für die bürgerliche Kommunikation dar.

Die Rückbindung des Reisens in der bürgerlichen Kommunikation wird besonders für die so genannten "Zeitreisen" (4. Kapitel) und die soziale Distinktion während der Reise (5. Kapitel) bedeutsam, da in beiden Fällen eine Vergewisserung über das gemeinschaftlich Eigene stattfindet. Leider geraten gesellschaftliche Umbrüche zu weit aus dem Blick, wenn die soziale Distinktion der Spätaufklärung etwa eines Johann Heinrich Bartels mit solchen des ausgehenden 19. Jahrhunderts gleich gesetzt wird.

Insgesamt zeigt Preins Studie, dass der Unterschied zwischen veröffentlichten und nicht publizierten Reisen des 19. Jahrhunderts nicht so groß ist wie vielleicht angenommen. Seine systematische Auswertung ergänzt das Wissen um die Reisepraxis der bürgerlichen Oberschichten vor allem um den Eklektizismus ihrer Wahrnehmungshaltung und erschließt ein umfangreiches Kontrollkorpus für weitere Studien zum Verhältnis von Reise und Moderne.

Thorsten Fitzon