Rezension über:

Esther Leroy: Konstruktionen des Germanen in bildungsbürgerlichen Zeitschriften des Deutschen Kaiserreichs (= Imaginatio Borealis. Bilder des Nordens; Bd. 6), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, 271 S., ISBN 978-3-631-53070-2, EUR 45,50
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Rezension von:
Rainer Kipper
Erfurt
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Kipper: Rezension von: Esther Leroy: Konstruktionen des Germanen in bildungsbürgerlichen Zeitschriften des Deutschen Kaiserreichs, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3 [15.03.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/03/8896.html


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Esther Leroy: Konstruktionen des Germanen in bildungsbürgerlichen Zeitschriften des Deutschen Kaiserreichs

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Die Beschäftigung der Deutschen mit den Germanen reicht bis in die Renaissance zurück. Die wieder entdeckte "Germania" des Tacitus bot einen Anknüpfungspunkt für Identitätskonstruktionen, die meist auf der Gegenüberstellung der materiell schlichten, aber moralisch überlegenen Germanen und der hoch entwickelten, aber dekadenten Römer beruhten. Diese Konstellation konnte dann auf die jeweilige Gegenwart übertragen werden, wobei als Platzhalter des antiken Rom meist die romanischen Länder und der Katholizismus fungierten.

Im 19. Jahrhundert wurde dieses Deutungsmuster unter Einbeziehung der völkischen Ideen Herders und Fichtes, später auch der Rassenlehren Gobineaus und Chamberlains aktualisiert. Es verbreitete sich eine Germanen-Ideologie, die das Nordische idealisierte und in den germanischen Völkern eine universalhistorische Kraft besonderen Ranges sah. Speziell im 1871 errichteten Deutschen Reich, in dem Partikularismen großes Gewicht behielten, bot sich der Germanenmythos als Bezugspunkt nationaler Identität an. Denn wer sich auf die Germanen berief, rekurrierte auf einen Zustand der Ursprünglichkeit, auf die Substanz dessen, was das Deutsche vermeintlich ausmachte. So sehr die Germanenzeit aufgrund der dürftigen Quellenlage weiten Raum für Projektionen bot, so sehr wurden die entsprechenden Identitätskonstruktionen jedoch von den Bruchlinien der Gegenwart geprägt und trugen nur zu deutlich den Stempel der sozialen, politischen und konfessionellen Position ihrer Urheber.

Der Konstruktion des "Germanen" in bildungsbürgerlichen Zeitschriften des Kaiserreichs widmet Esther Leroy ihre 2002 in Kiel abgeschlossene Dissertation. Zu Recht merkt sie an, dass die meisten bisherigen Forschungsarbeiten "die Germanenbegeisterung des Kaiserreichs in einen spezifisch völkischen Umkreis einordnen". So verständlich diese Schwerpunktsetzung angesichts der späteren Bedeutung des Germanenmythos für den Nationalsozialismus auch ist, so wichtig ist zugleich - gerade vor diesem Hintergrund - der Blick darauf, dass der Germanenmythos "im Kaiserreich weit über die völkischen Kreise hinaus" verbreitet war (15). Das Interesse Leroys gilt dabei dem Bildungsbürgertum, insbesondere seinen kulturellen Manifestationen unterhalb der "Höhenlinie der Geistesgeschichte", also etwa in populären Periodika. Leroy wertet drei Publikationen aus: die "Grenzboten" als regierungsnahe und ausgesprochen nationale Wochenzeitschrift; "Nord und Süd" als deutlich liberalere, sich als fortschrittlich verstehende Monatsschrift; schließlich den "Kunstwart", eine Halbmonatsschrift mit lebensreformerischem und kunsterzieherischem Anspruch.

Im ersten Hauptabschnitt ihrer Arbeit untersucht Leroy drei "Kategorien der Verständigung" oder "Integrationsideologien" (39), die sich auf die Germanen als vermeintliche Vorfahren der Deutschen stützten und sich in ihrer identitätsbildenden Funktion ergänzten: die Nation als politische, das Volk als mythische und die Rasse als biologische Einheit. Bezüglich jedes dieser Konzepte arbeitet sie verschiedene "Sinninseln" (42) heraus, die zu einer Traditionslinie geordnet werden konnten.

Hinsichtlich der Nation sind dies drei historische Phänomene: die "Hermannsschlacht" gegen die Römer als kriegerische Initialzündung der deutschen Geschichte, die weniger theologisch als vielmehr politisch gewertete Reformation sowie Romantik und Befreiungskriege als nationaler Aufschwung. Die "mythische Einheit" des Volkes als Kollektivindividuum manifestierte sich für die wilhelminischen Publizisten vor allem in charakteristischen Eigenschaften, die zum Volkscharakter verschmolzen. Die entsprechenden Zuschreibungen fußten im Wesentlichen immer noch auf den alten taciteischen Topoi. Das Konzept der "biologischen Einheit" der Rasse schließlich speiste sich aus einem popularisierten, ins Soziale übertragenen Darwinismus und aus der Entdeckung der indogermanischen Sprachverwandtschaft, aus der meist umstandslos auf eine ethnische Verwandtschaft geschlossen wurde. Gobineaus und Chamberlains Rassentheorien wurden in Details durchaus kritisch diskutiert, im Ansatz jedoch nicht in Frage gestellt.

Nach dieser systematischen Übersicht wendet sich Leroy im zweiten großen Abschnitt ihrer Arbeit der diskursiven Instrumentalisierung der Germanen zu. Vier "relevante Diskursfelder" (99) geraten dabei in den Blick: Individuum und Gesellschaft, Religion und Wissenschaft, Krise und Erneuerung der Kultur sowie Integration und Expansion Deutschlands. Als Grundlage menschlicher Vergesellschaftung betrachteten die ausgewerteten Autoren die organisch gewachsene und hierarchisch gegliederte Abstammungsgemeinschaft. Teils wurde das "ideale Volk" als Kollektivindividuum gegen das "reale Volk" (122) in Gestalt der unteren sozialen Schichten ausgespielt, teils fungierte das reale Volk, sofern es in traditionellen Bindungen lebte, als Garant des Volkscharakters.

Das Christentum sah sich im späten 19. Jahrhundert durch eine darwinistische Weltsicht in Frage gestellt. Um 1900 diagnostiziert Leroy dabei eine anti-rationalistische Wendung: "Die wissenschaftliche Suche nach den Grundlagen der Rassenbildung" wurde "durch quasireligiöse Bekenntnisse zu einer der kursierenden Theorien abgelöst." (150) Neuheidnische Positionen machten sich die untersuchten Zeitschriften jedoch nicht zu Eigen. Der bildungsbürgerliche Kulturpessimismus suchte sein Heil in einer neuen und doch zugleich uralten, der Natur gemäßen Lebensform. Dabei berief er sich auf das Nordische und Germanische. Zumeist ging es jedoch nicht um eine tatsächliche Wiederbelebung der Vergangenheit, sondern um Annäherungen an das Naturhafte und Unverbildete. Politisch bewegte sich Deutschland im Spannungsfeld zwischen "Regionalität und Weltgeltung" (204). Während zur Stärkung der inneren Einheit das Germanische als "verbindendes Element" (216) diente, rechtfertigten germanische Jugendlichkeit und Überlegenheit die angestrebte Weltmachtrolle Deutschlands.

Insgesamt betont Leroy die Offenheit des Germanischen als Projektionsfläche und seine damit verbundene Funktionalisierung: "Die häufige argumentative Bezugnahme auf die Germanen ist [...] als diskursive Strategie des Bürgertums zu kennzeichnen, mit der die eigene Position im Kampf um die Erhaltung der Deutungsmacht durchgesetzt werden sollte." (226) Dass sich das Bürgertum im Wandel befand und dieser Wandel mit der Hochschätzung des immer ein wenig primitivistischen Germanenmotivs zu tun hatte, wird ebenfalls erkennbar. Die Untersuchung orientiert sich an Kategorien wie Sozialdarwinismus und Rassenlehre, Kulturpessimismus und Gesellschaftsmodell, mithin an Ideologien und Ideologemen, an Ordnungsbegriffen und Problemfeldern. Wohl bezogen diese sich auf das Germanische oder bedienten sich seiner. Dessen meist instrumentelle Verwendung, wie sie bei nicht historiografischen Quellen zu erwarten war, prägt jedoch die Darstellung. Insofern geht es nur teilweise um Konstruktionen des Germanen im Sinne einer systematischen Rekonstruktion kaiserzeitlicher Geschichtsbilder. Der Schwerpunkt liegt vielmehr auf der Instrumentalisierung des vermeintlich Germanischen in politischer oder kultureller Absicht. In dieser Hinsicht wird ein interessantes Panorama bildungsbürgerlicher Weltsichten geboten.

Rainer Kipper