Rezension über:

Jens Fehlauer: Architektur für den Wahnsinn. Die 'Land-Irren-Anstalt Neustadt-Eberswalde' (1862-65) von Martin Gropius (= Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte des Landes Brandenburg; Bd. 11), Berlin: be.bra verlag 2005, 320 S., 43 Abb., ISBN 978-3-937233-22-2, EUR 24,90
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Martin Petsch
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Stefanie Lieb
Empfohlene Zitierweise:
Martin Petsch: Rezension von: Jens Fehlauer: Architektur für den Wahnsinn. Die 'Land-Irren-Anstalt Neustadt-Eberswalde' (1862-65) von Martin Gropius, Berlin: be.bra verlag 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3 [15.03.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/03/8293.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Jens Fehlauer: Architektur für den Wahnsinn

Textgröße: A A A

Jede ernsthafte Publikation über das Brandenburgische Kulturerbe ist zu begrüßen, da dessen wissenschaftliche Würdigung in den Anfängen steckt und noch immer die Auffassung von der Durchschnittlichkeit der regionalen Architektur vorherrscht. Dennoch sollte nicht eine allzu auf die lokalen Verhältnisse fixierte Untersuchung das Ziel sein.

Und so liefert Fehlauer keine auf den Bau und seine Entstehung beschränkte Darstellung, wie der Titel vermuten ließe. Das konkrete Beispiel Eberswalde ist vielmehr der Ausgangspunkt für eine umfassende medizin- und architekturhistorische Untersuchung zur Entwicklung der Psychiatrie und des Anstaltswesens in Brandenburg/Preußen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.

In der Mitte der grundsätzlich chronologisch aufgebauten Abhandlung steht der Komplex der Eberswalder Anstalt und seine bauliche Gestalt. Zu ihr leitet der Autor durch eine detailreiche Schilderung der medizinischen, sozialen und politischen Umstände hin und zeigt so die umfangreichen Voraussetzungen für deren Bau auf. Allerdings liefert dabei das Kapitel "Entwicklungslinien der Medizin- und Sozialpolitik in Preußen" leider nur ansatzweise das, was es verspricht, nämlich stattdessen einen Abriss der Stein-Hardenbergschen Reformen hinsichtlich der Verfassungsstruktur Preußens.

Den Auftakt setzt Fehlauer an das Ende des 18. Jahrhunderts, als aufklärerisches Gedankengut zu einer positiveren Bewertung des "Irreseins" führte. Da man zu der Erkenntnis kam, dass es sich dabei um eine heilbare Krankheit handele, sollten die Betroffenen nicht mehr in "Tollhäusern" zur Sicherheit der Öffentlichkeit verwahrt, sondern in gesonderten Anstalten behandelt werden. Dies bildete den Hintergrund für die Errichtung der ersten "Irren-Heilanstalt" in Neuruppin 1796-1801, die jedoch bald überfüllt und veraltet war. Damit war in der Region erstmalig die neue Bauaufgabe manifest geworden.

Reformorientierte Ärzte um Heinrich Damerow entwickelten in den 1830 Jahren erstmals ein spezifisches medizinisches und architektonisches Konzept für derartige Anlagen. Die "relativ verbundene" Heil- und Pflegeanstalt brachte "Heilbare" und "Unheilbare" in einem Komplex unter, unterschied aber streng nach Geschlechtern, Status der Krankheit und sozialen Klassen. Diese kleinteilige Differenzierung ließ eine fast allgemein gültige Baukörperdisposition entstehen, die in Varianten immer wieder aufgegriffen wurde.

Der Leiter der Neuruppiner Einrichtung Wallis nahm sich dieser Gedanken an und entwarf 1845 einen Plan für eine neue kurmärkische Anstalt. Sein Vorschlag entfachte eine langwierige Diskussion. Eine neue "Irrenanstalt" im brandenburgischen Raum entstand aber erst lange Zeit später in Eberswalde und basierte weitgehend auf dem Entwurf von Wallis.

Insofern steht die Eberswalder "Land-Irren-Anstalt" für die Einführung des neuen Typus in der Region, die aber gegenüber anderen europäischen bzw. deutschen Regionen sehr verspätet stattfand. Dies wird mit der folgenden Einordnung des Baus in den überregionalen Kontext deutlich, welche der Baubeschreibung folgt. Fehlauer stellt die wichtigsten vorangegangenen, vorbildhaften bzw. zeitgenössischen Einrichtungen vor. Vor allem Christian Rollers Heil- und Pflegeanstalt Illenau (1837-42) in Baden und Damerows Komplex in Halle-Nietleben (1841-57) hatten, vermittelt über Wallis' Plan, Einfluss auf Eberswalde.

Die Betrachtung der anstaltshistorischen Aspekte stand bei Fehlauers Schrift im Vordergrund, die im Rahmen eines Forschungsprojektes zur Fürsorge und Wohlfahrtsstaatlichkeit in der Provinz Brandenburg an der Universität Potsdam entstand. Entsprechend summarisch sind die Ausführungen zum Architekten Martin Gropius bzw. zum Büro Gropius & Schmieden gehalten.

Eberswalde erscheint hier als Auftakt einer Reihe von Krankenhausbauten der Architekten sowie als Wendepunkt zum Pavillonsystem. Die Stellung, welche die Anstalt dabei einnahm, bleibt allerdings unklar. Mit dem Krankenhaus in Berlin-Friedrichshain (1868-74) wurde die bisherige Blockbauweise erstmalig ablöst. Gropius hat insofern die Übertragung des Pavillonprinzips auch in das Anstaltswesen beeinflusst, indem sein Wettbewerbsentwurf zur Grundlage für das Ausführungsprojekt wurde, das Hermann Blankenstein für die "Städtische Irrenanstalt" in Berlin-Dalldorf (1877-79) erarbeitete.

Eine umfassende, auch stilgeschichtliche Bewertung und Einordnung in das Werk von Martin Gropius kann die Arbeit nicht leisten. So wird auch der Einfluss der Theorie der "Tektonik der Hellenen" Carl Boettichers auf Eberswalde nur angedeutet. Daher ist die Publikation weniger ein Baustein zur Gropius-Forschung. Vielmehr liegt der Verdienst Fehlauers darin, einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Anstaltswesens beigesteuert zu haben, der in dieser Form bis dato einmalig ist.

Zahlreiche, vor allem historische Abbildungen und Pläne führen den Gegenstand noch plastischer vor Augen, wenn der Leser dennoch Fotos mancher Baubeispiele vermisst. Die nützlichen Informationen des sehr großzügigen Fußnoten-Blocks sind auf Grund seiner Dichte leider nur schwer zu erfassen.

Insgesamt handelt es sich bei Fehlauers Publikation um eine erfreuliche und verständlich geschriebene Verbindung medizin- und architekturhistorischer Aspekte, die ein ungewöhnliches Themenfeld ins Blickfeld rückt, das bisher in der Forschung nur marginal bearbeitet worden ist.

Martin Petsch