Rezension über:

Gerald D. Feldman / Wolfgang Seibel (eds.): Networks of Nazi Persecution. Bureaucracy, Business and the Organization of the Holocaust (= Studies on War and Genocide; Vol. 6), New York / Oxford: Berghahn Books 2005, xii + 376 S., ISBN 978-1-57181-177-6, GBP 50,00
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Rezension von:
Constantin Goschler
Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Constantin Goschler: Rezension von: Gerald D. Feldman / Wolfgang Seibel (eds.): Networks of Nazi Persecution. Bureaucracy, Business and the Organization of the Holocaust, New York / Oxford: Berghahn Books 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3 [15.03.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/03/5893.html


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Gerald D. Feldman / Wolfgang Seibel (eds.): Networks of Nazi Persecution

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In den 1990er-Jahren brachen für strukturalistische Perspektiven auf die Geschichte des Holocaust schwere Zeiten an: Einen ersten symbolischen Höhepunkt erreichte diese Krise vor zehn Jahren mit der Debatte über Daniel Goldhagen, der eine anthropologische Nahperspektive auf die Beteiligung "gewöhnlicher Deutscher" an der Ermordung der Juden einnahm. Zwar waren nur wenige Historikerinnen und Historiker bereit, den Thesen des amerikanischen Soziologen zu folgen. Doch unterstützte die von ihm ausgehende Debatte einen Paradigmenwechsel: Als Antwort auf die mit strukturalistischen Ansätzen verknüpfte Anonymisierung des historischen Geschehens machte fortan die Kategorie der "agency" eine steile Karriere. Einen rituellen Todesstoß versetzte schließlich 2003 Nicolas Berg dem Strukturalismus, indem er seine Gründungsväter - durchaus umstritten - als Unterdrücker eines jüdischen Holocaust-Narrativs brandmarkte. Die Debatten über die Thesen Goldhagens und Bergs standen so im Zeichen eines veränderten Interesses der Holocaust-Forschung: Dieses richtete sich in den letzten zehn Jahren vor allem auf die beteiligten Individuen, d. h. die "Täter" zum einen und die "Opfer" zum anderen.

Vor allem der Boom der Täterforschung führt jedoch zu einem neuen Problem: Wie lässt sich der geschärfte Blick auf die Akteure der Verfolgung mit den Strukturen der nationalsozialistischen Herrschaft in Beziehung setzen, ohne wieder in die unergiebige Strukturalismus-Intentionalismus-Dichotomie zurückzufallen? Ein von Gerald D. Feldman und Wolfgang Seibel herausgegebener Sammelband, der sich mit Netzwerken der Verfolgung im nationalsozialistisch beherrschten Europa beschäftigt, hat sich diesem Problem in überzeugender Weise angenommen. Feldman und Seibel greifen damit vor allem Überlegungen Hannah Arendts, Hans G. Adlers und Zygmunt Baumanns zur Rolle moderner Bürokratien bei organisierten Massenverbrechen auf und suchen diese mit aktuellen Fragen der akteurszentrierten historischen Forschung zu verknüpfen. Damit nehmen sie die Diskussion des Zusammenhangs von Holocaust und Moderne, die Anfang der 90er-Jahre geschichtsphilosophisch abzuheben drohte, gewissermaßen wieder organisationssoziologisch neu auf und stellen sie so vom Kopf auf die Füße.

Zwei Fragenkomplexe rücken bei diesem Band, der die Beiträge einer 2000 in Konstanz veranstalteten Tagung präsentiert, in den Mittelpunkt: Erstens geht es darum, die Bedeutung von Arbeitsteilung und Netzwerken bei organisierten Massenverbrechen zu klären. Denn, wie die Herausgeber feststellen, blieb die Art und Weise, in der das organisatorische Prinzip der Arbeitsteiligkeit mit der "agency" der Verfolger verknüpft war, bislang weitgehend außerhalb des Blicks der Forschung (3). In dieser Erklärungsperspektive gewinnt die Ideologie, sprich: der Antisemitismus, eine doppelte Funktion: Einmal als individuelle Handlungsmotivation und zum anderen als verbindlicher Orientierungsrahmen, an dem sich eine Vielzahl konkurrierender Interessen ausrichten konnte.

Ein zweiter Fragenkomplex gruppiert sich um das Problem der moralischen Verantwortlichkeit bei organisierten Massenverbrechen. Der Band versucht die fruchtlose Debatte, ob nun das "Böse" in den institutionellen Zielen oder den individuellen Motivationen der Beteiligten gesucht werden muss, zu vermeiden: Individuelle und institutionelle Motivationen könnten entkoppelt sein, was der Robustheit von Organisationen keineswegs schade, sondern sogar noch Vorschub leiste. Moralische Verantwortung resultiere, so die Herausgeber, dann am Ende vor allem aus der Wahrnehmung der institutionellen Ziele durch die beteiligten Akteure sowie durch die Notwendigkeit zur Herstellung von Legitimität und Identität innerhalb von Institutionen (6). Auf diese Weise versuchen sie den Nachweis zu führen, dass organisationssoziologische und bürokratietheoretische Herangehensweisen keineswegs zu einer Verflüchtigung individueller Verantwortung in der historischen Perspektive führen müssen, sondern ganz im Gegenteil sogar erst ermöglichen, diese präzise zu bestimmen.

Als organisierendes Prinzip der Einzelbeiträge dienen drei Hauptkonfigurationen der Arbeitsteilung und der Mobilisierung von Individuen und Agenten im Rahmen der Verfolgung. Erstens soll anhand des Spannungsfelds von Rivalität und Wettbewerb gezeigt werden, dass diese weniger zu bremsenden Friktionen führten, sondern vor allem zu einer Radikalisierung der Verfolgung. Im Kern schließt dieses Argument an Hans Mommsens Erklärung der Judenverfolgung als Ergebnis einer "kumulativen Selbstradikalisierung" an. Eingeleitet von Christian Gerlach setzen sich empirische Einzelstudien von Wolfgang Dierker, Dieter Ziegler, Philippe Verheyde, Martin D. Dean, Jonathan Petropolous und Frank Bajohr mit dieser These auseinander. Thematisch dominiert in diesen Beiträgen die Frage der "Arisierung" jüdischen Eigentums.

Die Beiträge des zweiten Abschnitts befassen sich mit einer alternativen Perspektive zur Vorstellung des "organisierten Chaos" und fragen danach, wie die Verfolger ihre Interessen und Strategien koordinierten. Im Anschluss an eine Einleitung von Gerhard Hirschfeld und Wolfgang Seibel untersuchen die dort versammelten Beiträge von Alfons Kenkmann, Gerard Aalders, Marc Olivier Baruch, Isabel Heinemann und Wendy Lower in ihrer Mehrzahl gleichfalls die Enteignung der Juden in den vom Deutschen Reich besetzten Gebieten, aber auch etwa die deutsche Umsiedlungspolitik.

Auffällig ist, dass sich die Historikerinnen und Historiker bzw. deren empirisches Material etwas gegen die theoretische Strukturierung des Bandes sträuben. Denn die im ersten Abschnitt versammelten Beiträge könnten zum großen Teil auch im zweiten Abschnitt stehen und umgekehrt. Dies ist kein Einwand gegen die durchwegs hohe Qualität der Artikel, sondern verweist lediglich darauf, dass Konkurrenz, Rivalität und Kooperation bei den meisten Untersuchungsgegenständen in vermischter Form auftreten. Und schließlich war den Beiträgen zufolge auch das Ergebnis meist dasselbe, nämlich die Intensivierung der Verfolgung.

Ein dritter und kürzerer Abschnitt, der von Michael Thad Allen eingeleitet wird, beschäftigt sich schließlich mit dem Verhältnis zwischen dezentralen Initiativen und zentraler Koordinierung bei der antijüdischen Verfolgung. Wolf Gruner und Gerald D. Feldman diskutieren dieses Problem in ihren Beiträgen am Beispiel der antijüdischen Maßnahmen der deutschen Kommunen bzw. der deutschen Versicherungswirtschaft.

Abschließend erörtern Jörg Raab und Wolfgang Seibel die Potenziale der sozialwissenschaftlichen Konzepte "Netzwerk" und "Arbeitsteilung" für die historische Holocaustforschung. Beide plädieren für deren Anwendung zur Überwindung des unfruchtbaren Gegensatzes von akteurszentrierten und strukturorientierten Interpretationen. Bei aller theoretischen Überzeugungskraft, welche Raab und Seibel in ihren Beiträgen zu entfalten vermögen, stellt sich gleichwohl die Frage nach den praktischen Grenzen der Arbeit mit diesen Konzepten. So führt deren Anwendung zumindest in diesem Band dazu, dass die Opfer der Verfolgung gänzlich aus dem Blick verschwinden. Es bliebe zu diskutieren, inwieweit sich etwa die Netzwerktheorie in Richtung auf die Konzeptionalisierung von Täter-Opfer-Konfigurationen erweitern ließe. Möglicherweise sollte man aber einfach darauf verzichten, "Netzwerke" und "Arbeitsteilung" zu einer "Super-Theorie" trimmen zu wollen, sondern sich damit begnügen, deren erhebliches Erklärungspotenzial innerhalb der damit verbundenen Grenzen zu nutzen.

Die hohen methodischen Ansprüche, welche Raab und Seibel mit dem Konzept des "Netzwerks" und der "Arbeitsteilung" verbinden, lassen diese allerdings in erster Linie für Mikrostudien geeignet erscheinen, da die geforderte empirische Dichte andernfalls kaum erreichbar sein dürfte. Dies zeigen auch die versammelten Fallstudien dieses Bandes, die in der Regel auf größeren Studien basieren und die zum Teil erst im Nachhinein versuchen, die geforderte theoretische Konzeptionalisierung auf ihren Gegenstand zu übertragen. Dies hat in den meisten Fällen zu einer Schärfung der Fragestellung und Begrifflichkeit, wenn auch nicht immer zu neuen Ergebnissen geführt.

In der Summe handelt es sich um einen beeindruckenden Band: Die Herausgeber führen nicht allein aktuelle und innovative Einzelstudien zu einer gemeinsamen Perspektive zusammen. Vielmehr öffnet dieser Band auch den Blick auf neue Fragen und nicht zuletzt auch auf neue Wege, alte Fragen besser beantworten zu können.

Constantin Goschler