Rezension über:

Frauke Volkland: Konfession und Selbstverständnis. Reformierte Rituale in der gemischtkonfessionellen Kleinstadt Bischofszell im 17. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; Bd. 210), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 213 S., ISBN 978-3-525-35863-4, EUR 34,90
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Rezension von:
Heike Bock
Historisches Seminar, Universität Luzern
Redaktionelle Betreuung:
Ute Lotz-Heumann
Empfohlene Zitierweise:
Heike Bock: Rezension von: Frauke Volkland: Konfession und Selbstverständnis. Reformierte Rituale in der gemischtkonfessionellen Kleinstadt Bischofszell im 17. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 9 [15.09.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/09/7321.html


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Frauke Volkland: Konfession und Selbstverständnis

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Frauke Volkland knüpft in ihrer bei Kaspar von Greyerz in Basel entstandenen Dissertation an das seit vielen Jahren in der deutschen Frühneuzeitforschung breit rezipierte und differenziert kritisierte Konfessionalisierungsmodell von Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard an. Angelpunkt ihrer Kritik an diesem Modell und Ausgangspunkt ihrer eigenen Theoriebildung ist das Konzept der "konfessionellen Identität". Hieran kritisiert sie zum einen die teleologische Ausrichtung auf eine vermeintlich konsistente moderne Identität und zum anderen die fehlende Verankerung in den Lebenskontexten der Menschen. [1]

In Auseinandersetzung mit neueren sozialwissenschaftlichen Diskussionen des Identitätsbegriffs entwickelt Volkland im zweiten Kapitel ihre interaktionistische Konzeption von "Konfession und Selbstverständnis" - der Titel des Buches spiegelt hier also deutlich das Programm der Arbeit wider. Mit dem gewählten Begriffspaar will Volkland das Eingebundensein des historischen Subjekts in zahlreiche, miteinander verwobene und sich wechselseitig beeinflussende Lebenskontexte veranschaulichen, in denen die Konfession nur "eine Zugehörigkeit" darstellte (21).

Zur exemplarischen Einlösung ihres Konzepts verbindet Volkland die Kategorie "Erfahrung" mit einer mikrohistorischen Arbeitsweise. Aus der Perspektive "von unten" sollen die "Erfahrungen historischer Subjekte mit ihrer Konfessionszugehörigkeit hinsichtlich der Bedeutung für ihre Selbstverständnisse" (12) untersucht werden. Dabei integriert Volkland die amerikanische "anthropology of experience and performance", die in den 1980er-Jahren v. a. von Victor Turner entwickelt wurde, in ihr methodisches Vorgehen und stellt das rituelle Handeln in den Mittelpunkt ihrer Analysen. [2]

Als Untersuchungsort für ihre Studie hat Volkland die gemischtkonfessionelle Kleinstadt Bischofszell im Schweizer Thurgau gewählt. Bischofszell lag in der Frühen Neuzeit in einem "konfessionspolitischen Brennpunkt" (35) und war von sehr komplexen Herrschafts- und Konfessionsbedingungen geprägt. Während der Fürstbischof von Konstanz als weltlicher Herr durch einen Obervogt vertreten war, hatten die eidgenössischen Orte seit dem Spätmittelalter ebenfalls Herrschaftsrechte über die Gemeine Herrschaft Thurgau. Anhand von drei verschiedenen Ereignissen der Bischofszeller Geschichte untersucht Volkland im Hauptteil ihrer Arbeit die Wirkungsweise und Funktion reformierter Rituale.

Die erste Mikroanalyse widmet sich dem Hohlensteintag, mit dem alljährlich an den Auszug der Bischofszeller Bevölkerung während der Appenzeller Freiheitskriege 1407 erinnert wurde. Volkland analysiert die steten Veränderungen und Bedeutungsverschiebungen, die das Hohlensteinfest im Laufe der Zeit erfuhr. Seit Ende des 16. Jahrhunderts hatten sich zwei konfessionell verschiedene Feste des gleichen Ursprungs herausgebildet: Während die Katholiken das Fest an einem neuen Tag, aber in der ursprünglichen Form begingen, feierten die Reformierten weiterhin am Osterdienstag, jedoch in abgewandelter Form: Die Prozession führte nun an den Ort der reformatorischen Bilderverbrennung und endete mit einer Rede am evangelisch dominierten Schulhaus. Der katholischen Bilderverehrung setzten die Reformierten damit die Demonstration der Bilderzerstörung und das Wort, dem katholischen Lied den evangelischen Psalmengesang entgegen. Im Sinne einer "dichten Beschreibung" analysiert Volkland die vielfältigen kontextuellen Begleitumstände der Herausbildung des Rituals, vor allem das permanente Spannungsverhältnis zwischen reformierter Bürgerschaft und bischöflicher Herrschaftsgewalt.

Im zweiten Fallbeispiel analysiert Volkland ein vermeintliches reformiertes "Antiritual" zur Fronleichnamsprozession katholischer Bischofszeller im Jahr 1677. Während der Prozession versammelte sich eine Gruppe evangelischer Jungbürger Bischofszells singend und musizierend auf einer nahe gelegenen Anhöhe. Während katholische Spitzel den Vorfall als eine gezielte Verunglimpfung des katholischen Rituals werteten, gaben die Angezeigten zu Protokoll, sich lediglich zu einem geselligen Beisammensein eingefunden zu haben. Volkland zeigt die enge Verkopplung konfessioneller Zugehörigkeit und machtpolitischer Interessensgegensätze zwischen reformierter Bürgerschaft und Obervogt an diesem Vorfall auf. Als eigentlicher Verlierer der Auseinandersetzung muss der Obervogt gesehen werden, der durch ungeschicktes Agieren sowohl vor dem Bischof als auch den Bischofszeller Bürgern an Autorität einbüsste - laut Volklands Interpretation genau das beabsichtigte Resultat der "Ruhestörer".

Während es sich bei den konfessionell aufgeladenen Hohlensteinfeiern um symbolische Akte der Abgrenzung voneinander handelte, so interpretiert Volkland den Gebrauch von konfessioneller Sprache im Fall der "Fronleichnamsstörung" als eine ausschließlich politisch motivierte Aktion der reformierten Bürger gegen ihren Obervogt. Volklands Interpretation ist grundsätzlich überzeugend, nimmt aber bisweilen einen deterministischen Charakter an. So schreibt sie z. B., dass die Katholiken das Verhalten der Evangelischen als beabsichtigte Störung sehen "konnten oder mussten", einige Zeilen später "liess [es] für die Katholiken keine andere Deutung zu" (132).

In ihrem dritten Fallbeispiel geht Volkland dem einzigartigen Konversionsfall des Josua Schlatter aus dem Jahr 1666 nach. In Anlehnung an religionssoziologische Konversionskonzepte (Berger, Luckmann) fragt die Autorin hier nach den möglichen nichtreligiösen Begleitumständen einer frühneuzeitlichen Konversion. Als heuristisches Mittel hat sie Turners Konzept des "sozialen Dramas" gewählt. Wiederum sehr sorgsam analysiert Volkland Schlatters konfliktbelastete Beziehungen zu Vater, Brüdern und Ehefrau vor dem Glaubensübertritt. Verschiedene Anzeichen familiärer Desintegration Schlatters deuten auf eine Art "Katalysatorfunktion" (150) der Konversion im sozialen Drama hin. Volkland interpretiert Schlatters Konversionsentscheidung vor allem politisch-instrumentell zur Erlangung eines Ratssitzes.

Das ganze Kapitel lässt sich zugleich als ein Plädoyer für die eingehendere Erforschung des Phänomens frühneuzeitlicher Konversionen lesen - und dieses Anliegen ist sicherlich uneingeschränkt zu befürworten. Volkland gelingt es im Ganzen, die potenziellen sozio-politischen Implikationen religiöser Konversionen aufzuzeigen, wobei es in einzelnen Punkten ihrer Interpretation gewisse Unstimmigkeiten gibt. So wird der Abbruch der Beziehungen von Seiten der Familie an einer Stelle als unwesentlich für den Konvertiten dargestellt (150), während dessen Kampf um die Aufrechterhaltung der familiären Kontakte an anderen Stellen betont wird. Im Gegensatz zu den ersten beiden Fallbeispielen lässt sich hier auch grundsätzlich fragen, ob die Anwendung des Ritualbegriffs - neben dem des sozialen Dramas - dem Wesen dieses Konversionsfalls gerecht wird. Denn gerade das für rituelles Handeln charakteristische Element der regelmäßigen Wiederholung lässt sich bei einem individuellen, einmaligen Konversionsakt nicht erkennen.

Volkland hat eine prägnante und tiefgründige Studie vorgelegt, die die fortlaufenden Grenzaushandlungen konfessioneller Selbstverständnisse vor einem gemischtkonfessionellen Hintergrund im 17. Jahrhundert sehr reflektiert aufzeigt und interpretiert. Das Buch ist methodisch stringent aufgebaut, folgt einer klaren Argumentationsführung und stellt Thesen explizit dar. Wohltuend ist für den Leser auch Volklands konzentrierte Sprache, die kaum Redundanzen enthält. Den konzeptionellen Anspruch ihrer Arbeit, den flexiblen, interaktionistischen Charakter von (vormoderner) Identitätsbildung herauszustellen, kann Volkland größtenteils überzeugend einlösen und liefert für die Konfessionalisierungsforschung damit einen wertvollen Beitrag aus der Sichtweise "von unten". Wie im Prinzip bei allen Mikrostudien lässt sich allerdings auch hier fragen, wie generalisierbar Volklands an einem sehr spezifischen Untersuchungsort gewonnene Erkenntnisse für den frühneuzeitlichen Zusammenhang von Konfession und Identität für andere Territorien Europas sind. Dies umfassender herauszuarbeiten wird die Aufgabe weiterer Forschungen sein, wie die Autorin selbst in ihrem Schlusswort bemerkt.


Anmerkungen:

[1] Explizit Bezug nimmt Volkland auf: Heinz Schilling: Nationale Identität und Konfession, in: Bernhard Giesen (Hg.): Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1991, 192-252.

[2] Vgl. Victor Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a. M. 1995.

Heike Bock