Rezension über:

Gudrun Exner / Josef Kytir / Alexander Pinwinkler: Bevölkerungswissenschaft in Österreich in der Zwischenkriegszeit (1918-1938). Personen, Institutionen, Diskurse (= Schriften des Instituts für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; Bd. 18), Wien: Böhlau 2004, 407 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-205-77180-7, EUR 39,00
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Rezension von:
Michael C. Schneider
Institut für Geschichte der Medizin, Heinrich Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Michael C. Schneider: Rezension von: Gudrun Exner / Josef Kytir / Alexander Pinwinkler: Bevölkerungswissenschaft in Österreich in der Zwischenkriegszeit (1918-1938). Personen, Institutionen, Diskurse, Wien: Böhlau 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 6 [15.06.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/06/6328.html


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Gudrun Exner / Josef Kytir / Alexander Pinwinkler: Bevölkerungswissenschaft in Österreich in der Zwischenkriegszeit (1918-1938)

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Seit geraumer Zeit untersucht die wissenschaftshistorische Forschung die Rolle der Sozial- und Geisteswissenschaften in der NS-Zeit. Seit dem Ende der 1990er-Jahre hat sich dieses Interesse auch der Bevölkerungswissenschaft zugewandt. Die vorliegende Publikation knüpft an dieses Interesse an und fragt für das Österreich der Zwischenkriegszeit nach Personen, Institutionen und Diskursen, die die bevölkerungswissenschaftliche Debatte beeinflussten und prägten.

Diese drei Stichworte markieren zugleich das Gliederungsprinzip des Bandes: Während ein erstes Kapitel sich mit einer Reihe von bevölkerungswissenschaftlich arbeitenden Statistikern, Sozialreformern und Soziologen befasst, widmet sich das zweite Kapitel verschiedenen für die Bevölkerungswissenschaft relevanten Institutionen, darunter staatlichen, wie dem österreichischen Bundesamt für Statistik, aber auch privaten Vereinigungen, wie der Österreichischen Gesellschaft für Bevölkerungspolitik. Ein letztes Kapitel thematisiert den bevölkerungswissenschaftlichen Diskurs, der sich, ähnlich wie in Deutschland, auf Phänomene wie den "Geburtenrückgang" konzentrierte. Diese Gliederung lässt freilich Wiederholungen unvermeidlich werden, da die handelnden Personen kaum präsentiert werden können, ohne dass ihre Funktion in den verschiedenen Institutionen beleuchtet würde. Da sie zudem den bevölkerungswissenschaftlichen Diskurs maßgeblich mitbestimmten und auch diese Aspekte bereits im ersten Großkapitel mitunter detailliert beleuchtet werden, finden sich im Kapitel zum bevölkerungswissenschaftlichen Diskurs kaum noch überraschende Wendungen. Folgt man den Nennungen der Autoren zu den einzelnen Kapiteln, so irritiert, dass der als einer der drei Hauptautoren geführte Josef Kytir offenkundig nicht einen einzigen inhaltlichen Beitrag beigesteuert hat; allein in der Einleitung fungiert er als Koautor. Hier wäre eine Herausgeberkonstruktion wohl transparenter gewesen.

Zu den Personen, die im Fokus der Untersuchung stehen, gehört der Wiener Gesundheitsstadtrat Julius Tandler, der zwischen 1920 und 1934 die städtische öffentliche Gesundheitspflege, insbesondere im Hinblick auf die hohe Säuglingssterblichkeit, vorantrieb. In seinen bevölkerungspolitischen Schriften griff er sowohl auf eugenisches Gedankengut als auch auf Konzepte des Soziologen und Sozialdemokraten Rudolf Goldscheid zurück, dessen Konzept der "Menschenökonomie" die Autoren in einem späteren Abschnitt ebenfalls vorstellen. Das bevölkerungspolitische Engagement Tandlers wird auch durch seine Rolle bei der Gründung der Österreichischen Gesellschaft für Bevölkerungspolitik unterstrichen. Methodisch ähnlich, das heißt unter Rückgriff auf neuere Forschungen und zeitgenössische Hauptwerke des Protagonisten, erläutern die Autoren auch Rudolf Goldscheids Konzept der "Menschenökonomie" knapp: Dieses Konzept sei auch als eine Antwort auf den spätestens seit der Jahrhundertwende erkennbaren Geburtenrückgang zu verstehen, kam es Goldscheid doch angesichts dieser Entwicklung darauf an, die knapper werdenden Arbeitskräfte umso sorgsamer zu "bewirtschaften". Gerne hätte man jedoch mehr über die eugenischen Erweiterungen dieses Konzepts erfahren, die nur kurz (124) angerissen werden.

Mit dem Leiter der Abteilung Bevölkerungs- und Gesundheitsstatistik im Bundesamt für Statistik Wilhelm Hecke, sowie seinem Nachfolger in dieser Funktion ab 1925, Wilhelm Winkler, behandeln die Autoren Exponenten jener Expertengruppe, deren Funktion für die bevölkerungspolitische und -wissenschaftliche Debatte noch ganz unzureichend untersucht ist: die amtlichen Statistiker. Bleiben die Ausführungen zu Wilhelm Hecke vergleichsweise knapp, so konnte Alexander Pinwinkler in seinem Kapitel zu Wilhelm Winkler auf seine 2003 erschienene Dissertation über diesen österreichischen Demografen und Statistiker zurückgreifen.

Nach einem kurzen Abriss seines Lebenslaufes arbeitet Pinwinkler den Einfluss Winklers auf die konkrete Gestaltung der Volkszählung von 1934 heraus, bei der er seine Vorstellungen beispielsweise zu einer präziseren Familienstandsstatistik umsetzen konnte. Neben dieser amtlichen Funktion lag die Relevanz Winklers für die bevölkerungspolitische Debatte sicherlich ebenso sehr in der Gründung und Leitung des an der Wiener Universität angesiedelten "Instituts für Statistik der Minderheitsvölker": Auf der Basis dieser Institution verband Winkler bevölkerungsstatistische Methodik mit dem dezidiert politischen Anliegen, die nach dem Zerfall des Habsburgerreiches in dessen verschiedenen Nachfolgestaaten lebenden Deutschen sowohl statistisch zu erfassen als auch auf diese Weise dazu beizutragen, deren "Volkstum" auf Dauer zu bewahren. Ungeachtet der zweifellos akribischen Recherche und der durchaus kritischen Grundhaltung irritiert aber hier wie auch in anderen Passagen des Buches gelegentlich ein bewundernder Unterton, etwa wenn Winkler als der "bedeutendste österreichische Demograph der Zwischenkriegszeit" oder Heinrich Reichel analog als der "bedeutendste Rassenhygieniker" im selben Zeitraum apostrophiert werden - hier hätte man sich nähere Reflexionen über das durchschimmernde Konzept der "historischen Größe" gewünscht oder zumindest die Offenlegung der Kriterien erwartet, auf die sich solche, doch wohl positiv zu verstehenden Werturteile stützen. Gelegentlich etwas uneinheitlich erscheint die Verwendung aktueller Forschungsliteratur: Während im Zusammenhang mit der in manchen Regionen Österreichs - verglichen mit anderen mitteleuropäischen Staaten - ungewöhnlich hohen Zahl von unehelichen Geburten die einschlägigen Arbeiten von Michael Mitterauer herangezogen werden, findet bei der Behandlung von Oda Olberg das für die Beziehungen zwischen Sozialismus und Eugenik relevante Werk von Michael Schwartz keine Erwähnung, obwohl sich Schwartz zu Olberg bereits ausführlich äußert.

Unter den untersuchten Institutionen (unter anderem das Bundesamt für Statistik oder das bereits erwähnte "Institut für Statistik der Minderheitsvölker") setzte sich die 1917 gegründete und bis 1938 bestehende "Österreichische Gesellschaft für Bevölkerungspolitik (und Fürsorgewesen)" als "einzige größere Vereinigung" (195) mit bevölkerungswissenschaftlichen Themen auseinander. Die Arbeitstreffen dieser Gesellschaft kreisten thematisch, wenig verwunderlich, um den Geburtenrückgang und seine Konsequenzen sowie um Fragen des öffentlichen Gesundheitswesens besonders im städtischen Kontext - ein Umstand, der aus der starken Präsenz von Medizinern in dieser Vereinigung sofort einsichtig wird. Der letzte Abschnitt "Diskurse" greift nochmals die bereits mehrfach angerissenen oder auch schon behandelten Themen auf, die in der bevölkerungswissenschaftlichen und -politischen Debatte eine Rolle spielten, wie den Geburtenrückgang, die unehelichen Geburten oder auch die Landflucht.

Insgesamt zeigt der Band für den österreichischen Fall die enge Verknüpfung zwischen Bevölkerungswissenschaft, eugenischen Strömungen und rassenhygienischen Vorstellungen auf, betont aber auch die Ambivalenzen in den Haltungen der untersuchten Persönlichkeiten. Keineswegs führten NS-kompatible Vorstellungen bruchlos in die Fortsetzung der Karrieren nach 1938 - auch hierfür ist Wilhelm Winkler wiederum ein deutliches Beispiel: Er wurde nach der Einverleibung Österreichs in das Deutsche Reich 1938 zwangspensioniert, nicht zuletzt, weil er sich weigerte, sich von seiner jüdischen Ehefrau scheiden zu lassen. Ein nützlicher Anhang zu einschlägigen Publikationsorganen und weiteren Quellenübersichten beschließt den Band.

Michael C. Schneider