Rezension über:

Rudolf Suntrup / Jan R. Veenstra (Hgg.): Stadt, Kanzlei und Kultur im Übergang zur Frühen Neuzeit. City Culture and Urban Chanceries in an Era of Change (= Medieval to Early Modern Culture / Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit; 4), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, 199 S., ISBN 978-3-631-39721-3, EUR 35,00
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Rezension von:
Wolf-Rüdiger Schleidgen
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen / Hauptstaatsarchiv Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Wolf-Rüdiger Schleidgen: Rezension von: Rudolf Suntrup / Jan R. Veenstra (Hgg.): Stadt, Kanzlei und Kultur im Übergang zur Frühen Neuzeit. City Culture and Urban Chanceries in an Era of Change, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 5 [15.05.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/05/7289.html


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Rudolf Suntrup / Jan R. Veenstra (Hgg.): Stadt, Kanzlei und Kultur im Übergang zur Frühen Neuzeit

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Mit der Geschichte der europäischen Stadt hat sich die historische Forschung in den vergangenen 50 Jahren intensiv beschäftigt. Ausgehend von der an Max Weber anknüpfenden Definition von Carl Haase: "Der Organismus einer Stadt ist ein Ganzes, in dem alle Lebensbereiche in einem Wirkungszusammenhang stehen" [1], hatte und hat die Forschung dabei das Ziel, die Strukturen und Vernetzungen dieses komplexen sozialen Gebildes zu erfassen und in ihrer Wechselwirkung und Entwicklung zu verstehen. Zu einem wichtigen Teilaspekt dieses vielschichtigen Themas, der Stadt als zentralem Träger bürgerlicher Kultur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, haben im Jahr 2000 in Münster unter Leitung von Martin Gosman (Groningen) und Volker Honemann (Münster) zwei Arbeitsgespräche stattgefunden. Die in dem vorliegenden Sammelband zusammengefassten Vorträge beleuchten in einer Reihe von Einzelfallstudien den Zusammenhang zwischen dem "Organismus Stadt", der städtischen Verwaltung, die diesen Organismus steuert, und den Formen und den Trägern der städtischen Kultur und fragen nach den Veränderungsprozessen, die Humanismus und Reformation in diesem Gefüge bewirkt haben.

In den sich seit dem 11. Jahrhundert rasch entwickelnden urbanen Siedlungen erforderten die zunehmend komplexer werdenden ökonomischen und sozialen Strukturen, wie Walter Prevenier in seinem knappen, lesenswerten Überblick über die mittelalterliche Entwicklung darlegt, zweifellos ein wachsendes Maß an Bildung und Schriftlichkeit. Dennoch sind uns die Anfänge eines spezifisch städtischen Schriftwesens mangels einschlägiger Überlieferung nur hypothetisch fassbar. Selbst in der weit entwickelten, dichten Städtelandschaft zwischen der seeländischen Küste und Nordfrankreich haben die Städte, nach Ausweis der erhaltenen Überlieferung bis weit in das 13. Jahrhundert ihren Schriftverkehr mithilfe externer Schreiber, vor allem dem Personal der geistlichen Institutionen und der entstehenden landesherrlichen Kanzleien erledigt; und für die Abwicklung der privaten Rechtsgeschäfte nutzte man einen "freien Markt" von Schreibern und (seit 1269) öffentlichen Notaren. Die erste permanent mit einem (!) clerk besetzte städtische Kanzlei ist in den Niederlanden erst von 1277 an in Dordrecht belegt; etwa in die gleiche Zeit fallen die ersten Belege für die Führung städtischer Register in Ypern und Brügge. Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts bleibt die Organisation städtischer Kanzleien in Europa also rudimentär, ihr Personal und deren Einbindung in das politische, soziale und kulturelle Leben der Städte sind noch kaum erkennbar.

Ganz anders im 15. Jahrhundert, wie die Beiträge von Gunhild Roth über den Breslauer Stadtschreiber Peter Eschenloer (gestorben 1481) und von Volker Honemann über den Görlitzer Stadtschreiber Johann Frauenburg (gestorben 1495) verdeutlichen. Dank der reichhaltigen archivalischen wie bibliothekarischen Überlieferung lassen sich Leben und Wirken der städtischen "Verwaltungschefs" jetzt klar umreißen. Beide waren nach Abschluss ihres Studiums mit dem magister artium zunächst als Lehrer, dann als Rektor der städtischen Schule tätig. Ihre akademische Ausbildung und ihre Sprachenkenntnis prädestinierten sie für das Amt des Stadtschreibers (= "Leiters" der städtischen Verwaltung, die allerdings auch jetzt sowohl in Breslau [damals circa 20.000 Einwohner] als auch in Görlitz [circa 9.000 Einwohner] nur aus zwei [!] "Beamten" [und Hilfspersonal?] bestand). Als Stadtschreiber führten sie die Stadtbücher (in erster Linie des städtischen Gerichts, die Protokolle des Rats, die Aufzeichnungen über die Besitzübertragungen in der Stadt), verfassten die städtische (politische) Korrespondenz, arbeiteten als Dolmetscher, Berater und Gesandte des Rates der Stadt und nahmen damit eine nicht nur aktive, sondern zentrale Rolle im öffentlichen Leben der Stadt ein. Darüber hinaus waren beide ambitioniert in der Stadt und für die Stadt publizistisch tätig: Eschenloher als Geschichtsschreiber, Frauenburg als Verfasser eines "Spiegels" (Verhaltenscodex) für das Amt des Bürgermeisters und als Sammler von Inschriften, die er an zahlreichen Gebäuden der Stadt anbringen ließ.

Zum Kreis der Stadtschreiber gehörte auch der "Petrarca des Nordens", Rudolf Agricola, der dieses Amt nach seiner Rückkehr aus Italien 1479 bis 1484 in Groningen innehatte. Sein vernichtendes Urteil über die Kultur und den Stand der Wissenschaften in seiner Heimatstadt Groningen diente - wie Adrie van der Laan anhand der Analyse der 51 erhaltenen Briefe Agricolas zeigt - als Instrument, um seinen Landsleuten die tiefe Kluft zwischen der humanistischen Zivilisation Italiens und den Verhältnissen in den Niederlanden deutlich zu machen. Gegenüber dem glanzvollen Hof in Ferrara und der Hochschätzung, die er dort durch den Herzog und dessen gelehrten Kreis genossen hatte, empfand Agricola die Verhältnisse in Groningen als erbärmlich, obwohl auch dort ein Kreis einflussreicher Persönlichkeiten den aus Italien kommenden kulturellen Impulsen sehr aufgeschlossen gegenüber stand. Agricola fühlte sich deplatziert und nicht hinreichend gewürdigt und hielt deshalb den Groningern den Spiegel vor; auch das eine Form humanistischen Kulturtransfers durch die Stadtschreiber der frühneuzeitlichen Stadt.

Im Wirken dieser Männer wird exemplarisch die Interdependenz von Stadt, Kanzlei und Kultur greifbar: Die Stadt gibt den politischen Raum, die soziale Basis und den Anlass zum kulturellen Wirken einer kleinen humanistisch gebildeten akademischen Elite, die in diesem und durch dieses Amt die städtische Kultur (mit-)gestalten kann.

Welche Bedeutung dieses Wirken in der geistigen Umbruchsphase der Reformation haben konnte, zeigt Berndt Hamm anhand des Diskurses, den der Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler mit seinen Kollegen Peter Butz in Straßburg, Jörg Maurer in Memmingen und Georg Frölich in Nürnberg 1525-1530 führte. Vordergründig ging es dabei um die persönliche wie "amtliche" Position der Stadtschreiber im Abendmahlsstreit und gegenüber der Täuferbewegung; grundsätzlich aber um die Frage, wie die durch die Glaubensspaltung bedrohte soziale Stabilität des städtischen Gemeinwesens durch den Erhalt von Eintracht, Frieden und Bürgerkonsens über die Zerstörung der überkommenen Sakralgemeinschaft hinweg gerettet werden könnte. Die Positionen sind dabei durchaus sehr unterschiedlich, allen gemeinsam ist aber das Bemühen um eine neue Definition des überkommenen, durch die Reformation infrage gestellten spätmittelalterlichen weltlich-geistlichen Werteverständnisses zum Wohl der Stadt und des in ihr zu erhaltenden sozialen Friedens. Hier treten die Rats- beziehungsweise Stadtschreiber nicht nur als Verwaltungsexperten und Stadtpolitiker, sondern als "humanistisch geprägte und theologisch verständnisvolle Intellektuelle in Erscheinung" (78), die die Kultur der frühneuzeitlichen Stadt in einer viel grundsätzlicheren Dimension (mit-)gestalteten.

Ganz andere Aspekte des städtischen Kulturlebens im 16. Jahrhunderts sprechen zwei weitere Beiträge an. Werner Waterschoot stellt die in den Niederlanden verbreiteten Gilden der Rhetoriker ("rederijkers") und ihre literarischen Wettkämpfe vor, die sich zu einem maßgeblichen Instrument des Magistrats zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung entwickelten. Am Beispiel des im August 1561 in Antwerpen ausgerichteten "Landjuwels" zeigt er, das es sich dabei nicht nur um ein herausragendes literarisches Ereignis und ein öffentliches Spektakel von frühbarocker Prachtentfaltung handelte, sondern in erster Linie um eine Selbstdarstellung der Städte, ihres Reichtums und ihrer Macht. Der abschließende Beitrag von Norbert Nagel gilt einem der bedeutenderen Vertreter der devotio moderna, Johannes Veghe dem Jüngeren (gestorben 1504), Rektor des Fraterhauses in Münster, dessen Biografie er über den bisherigen Forschungsstand hinaus ergänzen kann. Darüber hinaus analysiert Nagel anhand von drei Autografen Veghes dessen individuelle Schreibsprache mit dem Ergebnis, dass keine - wie auf dem Hintergrund der Glaubenbeziehungen zu vermuten wäre - niederländischen Einflüsse erkennbar sind.

In summa ist der Band aufgrund der behandelten unterschiedlichen Facetten des Themas und der angesprochenen methodischen Aspekte ein guter Einstieg in ein Forschungsgebiet, das hohe methodische Anforderungen stellt, aber aufgrund der dichteren Quellenlage noch viel Raum für neue Erkenntnisse lässt. Dabei sollte man auch die Beziehungen zwischen den Stadtschreibern und ihren Kollegen in den landesherrlichen Kanzleien mit berücksichtigen, die in Ausbildung, Tätigkeit, gesellschaftlicher Wirkung und auch persönlich den Stadtschreibern verwandt sind; das dürfte das Bild von der hier angesprochenen Elite und deren Bedeutung für die spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Gesellschaft noch erheblich bereichern.


Anmerkung:

[1] Carl Haase (Hg.): Die Stadt des Mittelalters, 3 Bde, Darmstadt 1969; hier Bd. 1, VII.

Wolf-Rüdiger Schleidgen