Rezension über:

Christoph Heyl: A Passion for Privacy. Untersuchungen zur Genese der bürgerlichen Privatsphäre in London (1660-1800) (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London; Bd. 56), München: Oldenbourg 2004, 574 S., ISBN 978-3-486-56763-2, EUR 64,80
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Rezension von:
Martin Scheutz
Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Martin Scheutz: Rezension von: Christoph Heyl: A Passion for Privacy. Untersuchungen zur Genese der bürgerlichen Privatsphäre in London (1660-1800), München: Oldenbourg 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 3 [15.03.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/03/5848.html


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Christoph Heyl: A Passion for Privacy

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London präsentierte sich vor und nach dem Great Fire (1666) nicht nur räumlich, sondern auch sozial verändert. Die umfangreiche, in fünf große Kapitel stringent gegliederte Dissertation von Christoph Heyl widmet sich der pulsierenden Großstadt London im 17. und 18. Jahrhundert, schon von Zeitgenossen und Reisenden als größte Stadt in Europa beschrieben (um 1800 rund 900.000 Einwohner), und den dort stattfindenden Verschiebungen des privaten und öffentlichen Raumes. Der Autor zieht für diese mentalitätsgeschichtliche Fragestellung umfangreiches, heterogenes Quellenmaterial heran: Neben Tagebüchern und brieflicher Korrespondenz dienen ihm auch conduct books, Anleitungsbücher für Konversation und Benimmregeln, Sprachführer als Quellengrundlage, aber auch Zeitschriften und Reiseberichte fanden ebenso wie Romane, Dramen oder eine Fülle an verschiedenartigem Bildmaterial (Kupferstiche, Gruppenportraits oder so genannte conversation pieces) Verwendung (28-78).

Eine umfangreiche Einleitung benennt den Forschungsstand bezüglich der "bürgerlichen Öffentlichkeit" in Auseinandersetzung mit Arbeiten von Jürgen Habermas, Richard Sennett und der "Geschichte des privaten Lebens", wobei Heyl als Fazit seiner Studie zu dem Ergebnis kommt, dass sich die Londoner middle class nicht aus Angst vor einem erstarkenden, den Untertan bespitzelnden Staat in die Privatsphäre zurückzog, sondern aus zunehmender Angst vor dem unwirtlichen Moloch und der "Wildnis" Großstadt (mit den dort lauernden Gefahren Alkohol, Spiel, Prostitution, Krankheit, Tod ...). Zur Sichtbarmachung der von den Zeitgenossen benutzten beziehungsweise gemiedenen Räume knüpft der Autor an das Konzept der mental maps an, aus Tagebüchern gewonnene Bewegungsmuster von Personen innerhalb des Hauses verdeutlichen zudem die Rollenbilder und Ausbildung von sozial gestaffelten Tabuzonen innerhalb des Hauses.

Nahezu ein Zehntel aller Engländer wohnte im 18. Jahrhundert in London, das zum Ziel starker Binnenmigration wurde. Gerade das Nebeneinander von physischer Nähe und sozialer Distanz schuf neue Formen des Miteinander, die Großstadt trennte insgesamt die Menschen voneinander. Die Mittelklasse als neue gesellschaftliche, stärker nach Vermögen strukturierte Großgruppe imitierte höherstehende Statusgruppen (social emulation), eine enge Verflechtung zur Aristokratie bestand ebenso wie eine gewisse Offenheit nach unten hin. Die middle class als neue Schicht entwickelte auch neue Verhaltensweisen, die hohe Lesefähigkeit und das Fehlen der Zensur schuf eine Fülle an Publikationen verschiedenster Art. Zugleich verursachte das protestantische Erbe auch einen verstärkten Rückzug auf das eigene Ich, das Führen eines Tagebuches, auch zur Vergewisserung der religiösen Praxis, wurde allgemein üblich.

Während im London vor 1666 die Straße als eine Art erweiterter Wohnraum und Bühne "der" Ort der Sozialkontakte war, wandelte sich dies deutlich, indem man gegen Ende des 17. Jahrhunderts die nunmehr mit Hausnummern versehenen Straßen, oft verpackt in einer Sänfte oder mit eigener "Straßenkleidung", so schnell als möglich durchquerte, um zu seinem Ziel zu gelangen. Dem Verhältnis von städtischer Makro- und häuslicher Mikrostruktur widmet sich das zweite Kapitel (108-212). Die kleinräumigen Hausformen vor 1666, eine Art horizontale Suitenfolge, boten keine Möglichkeit sich zurückzuziehen, erst Ende des 17. Jahrhunderts entstand der heute noch gängige Londoner Haustyp: Ein kleiner, mit einem Zaun bewehrter Graben vor dem Haus ermöglichte es, den Keller mit Licht zu versorgen. Die häufig mit Säulen, Klingel und Klopfer bewehrte Eingangstür als Akzentuierung der Schwelle zwischen Straße und Wohnraum war eine der Neuerungen nach 1666. Auch im Grundriss des Hauses spiegelt sich die beginnende Binnendifferenzierung des Wohnraumes wider: Eine hall empfing den Besucher, der weiter in ein parlor, ein Empfangszimmer für Gäste, oder später in den dining-room in den ersten Stock geleitet wurde. Auch die library und ein drawing-room waren noch öffentlich, rein privat waren dagegen die Schlafzimmer - Einzelbetten setzten sich erst im 18. Jahrhundert durch - und vor allem die sich nun verstärkt durchsetzenden closets - Räume, in die sich eine Person zum Lesen und Schreiben zurückziehen konnte. Schlafzimmer und closet bildeten den für Besucher unzugänglichen Kernbereich der häuslichen Privatsphäre.

Das dritte Kapitel (213-304) wendet sich dem vielfach unterteilten häuslichen Mikrokosmos zu, der separierten Koexistenz unterschiedlicher Statusgruppen (Dienerschaft - Besucher - Kernfamilie mit Hausfrau und -herrn) innerhalb des Hauses. Während die Dienerschaft nach Ansicht der Dienstherren zunehmend als Spione, die Interna nach außen trugen und so den Panzer um das Haus lockerten, oder als sexuelles Freiwild angesehen wurde, suchte man Besucher nach Möglichkeit von den eigenen vier Wänden fern zu halten. Das Kaffeehaus wurde zum beliebtesten Treffpunkt, Besucher wurden zunehmend zum Mittagessen ins Wirtshaus gebeten. Unangemeldeten Besuch ließ man nicht mehr vor, die abgegebene Visitenkarte als Anmeldungsverfahren beziehungsweise als Möglichkeit der Zugangskontrolle zum Haus erlebte eine erste Blüte, festgelegte Besuchszeiten (etwa ein eigener visiting-day oder fixe Zeiten am Vor- und Nachmittag) wurden eingeführt. Conduct-Bücher instruierten Besucher wie Besuchte über Verhaltensregeln, etwa nichts aus dem Privatleben an die zu Besuch befindlichen "Spione" zu verraten. Männer und Frauen wurden bei Besuchen zudem getrennt, nach der gemeinsamen Mahlzeit zogen sich die Geschlechter getrennt zurück, um conversation (Männer) oder chit-chat (Frauen) zu führen. Das mehrschrittige Besuchsritual sah erst, sehr zum Missfallen von weiblichen Englandreisenden wie Johanna Schopenhauer, bei der Verabschiedung eine erneute Zusammenführung der Geschlechter vor. Während die Stadt für Männer und vor allem für Frauen als bedrohliche Wildnis galt, wurde das Haus als Oase des Friedens beschrieben, wo die Frauen Nadelarbeiten, Malerei oder Musik, aber keinen praktischen Tätigkeiten nachgingen. Dem Ekel vor der Großstadt entsprach im Haus als Teil eines neuen Frauenbildes die beim Auftreten bestimmter Reize oder Gefahren angewandte Ohnmacht als neue weibliche Kulturpraxis. Auch die Konventionen des Sprechens (Themen, Wortwahl, aber auch Intonation) waren den Geschlechterrollen angepasst.

Die Inszenierung von Anonymität in der Öffentlichkeit (auf der Straße, in Parks oder im Theater) am Beispiel der vorwiegend von Frauen häufig getragenen Masken (oder auch durch Fächer) macht im vierten Kapitel (305-412) deutlich, wie man einerseits vor dem Hintergrund der gängigen Physiognomie-Lehre die Lesbarkeit seines Gesichtes durch Masken einschränkte, zum anderen statusübergreifend damit eine Einladung aussprach, aus der eigenen Rolle auszubrechen. Der Schutz der Identität durch Anonymität war auch im Bereich der Publizistik kommerziell erfolgreich, der von 1691 bis 1697 erscheinende Athenian Mercury beantwortete anonym eingesandte (und zum Teil wohl auch von den "Lohnschreibern" fingierte) Fragen aller Art. Speziell Frauen wurden zur Beteiligung an dieser anonymen Kommunikationsform aufgefordert. Die Dialektik von Abkapselung des Einzelnen im closet, wo die Briefe verfasst wurden, und kommunikativer Öffnung lässt sich damit gut zeigen. Auch der als anonymer Zeitgenosse und stummer Beobachter angelegte, fiktive Spectator (ab 1711) verschwand in der Masse der Großstadt und kommentierte ohne namentliche Kennzeichnung der Artikel witzig und bissig das Zeitgeschehen gleichsam von einem geheimen Beobachtungspunkt aus. Auch das Gentlemen's Magazine spielte mit der Anonymität, so wurden verbotenerweise Parlamentsdebatten wiedergegeben, die nach Verbotsandrohungen später durch Parlaments-Berichte aus dem Empire of Lilliput nach Art eines Schlüsselromans ersetzt wurden. Auch anonymisierte, mitunter über Jahre sich erstreckende Debatten von männlichen und weiblichen Leserbriefschreibern finden sich häufig abgedruckt.

Bilder und vor allem Romane setzten das neue Bedürfnis nach Privatsphäre, wie im letzten Kapitel (413-526) dargelegt, eindrucksvoll um: Die neu arrangierten Familienporträts der middle class inszenieren domesticity und zeigen die dargestellten Personen - häufig mit zahlreichen Anspielungen gespickt - in ihrem sozialen Umfeld und mit charakteristischen Verhaltensmustern mit dem Anspruch der innerfamiliären Memoria-Bildung. Auch die Bilderfolgen William Hogarths thematisieren Öffentlichkeit und Privatsphären eindringlich, so wird das Eindringen der Öffentlichkeit in die Privaträume (bis hin zur Anstalt für Geisteskranke) bei den gestrandeten Existenzen in Hogarths Darstellungsweise als beginnender Untergang der bürgerlichen Existenz interpretiert. Der Roman mit seinen frühen Beispielen wie Daniel Defoes Robinson Crusoe, Samuel Richardsons Pamela oder John Clelands Fanny Hill drehten sich zentral um die Entstehung der bürgerlichen Privatsphäre und die nach Geschlechtern differenzierte Raumnutzung des Hauses, etwa wenn sich die Dienerin Pamela vor den Zudringlichkeiten ihres Hausherrn ins closet, oder noch zugangsbeschränkter für Männer, ins Schlafzimmer des Hauses oder in die Ohnmacht flüchtet.

Die faszinierende und vielschichtige Studie von Christoph Heyl richtet ihren differenzierten, unterschiedliche Quellengattungen berücksichtigenden Blick auf das Phänomen der bürgerlichen Wohnkultur. Die eigentlichen Träger dieser neuen Privatheit, die middle class, bleibt dabei sozialgeschichtlich zwar blass, umso deutlicher - und breit dargestellt - werden die Raumkonzepte dieser aufstrebenden Schicht. Neuere sozialgeschichtliche Forschungen zum Thema Öffentlichkeit, etwa Andreas Würglers oder Esther Beate Körbers Studien zum Öffentlichkeitsbegriff [1], werden vom Autor nicht berücksichtigt, eine zusammenfassende Auseinandersetzung mit den Thesen von Ariès, Habermas und Sennett fehlt. Der interdisziplinäre Ansatz streicht durch die Analyse von Theaterstücken, Romanen und Hausformen die neue Privatheit im 18. Jahrhundert eindrucksvoll, gut lesbar und anschaulich heraus. Die oft zitierte Forderung von Virginia Woolf aus dem Jahr 1929 nach einem Room of One's Own als Grundvoraussetzung des Schreibens von Frauen liest sich vor diesem Hintergrund wie die konsequente Fortführung eines nach dem Great Fire eingeschlagenen Weges der middle class.


Anmerkung:

[1] Andreas Würgler: Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995; Esther-Beate Körber: Öffentlichkeiten der frühen Neuzeit: Teilnehmer, Institutionen und Entscheidungen öffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618, Berlin 1998.

Martin Scheutz