Rezension über:

Gundula Bavendamm: Spionage und Verrat. Konspirative Kriegserzählungen und französische Innenpolitik, 1914-1917 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. Neue Folge; Bd. 16), Essen: Klartext 2003, 368 S., ISBN 978-3-89861-143-5, EUR 24,90
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Rezension von:
Peter Hoeres
Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Peter Hoeres: Rezension von: Gundula Bavendamm: Spionage und Verrat. Konspirative Kriegserzählungen und französische Innenpolitik, 1914-1917, Essen: Klartext 2003, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 2 [15.02.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/02/5881.html


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Gundula Bavendamm: Spionage und Verrat

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In den ersten Kriegstagen im August 1914 grassierten in den beteiligten europäischen Staaten Angst und Panik vor Spionage und Sabotage. Die Regierungen sahen sich einerseits zur Abwehr tatsächlicher Spione, andererseits zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und Eindämmung von Lynchjustiz genötigt. In der mittlerweile stabil erscheinenden Dritten Republik reagierten die Behörden im Zeichen des ausgerufenen Belagerungszustandes mit Autobus-Patrouillen, der Untersagung des Handels mit den Mittelmächten, Beschlagnahme von Feindbesitz, verschärften Meldebestimmungen für Ausländer sowie Verhaftungen von Ausländern und Zivilinternierungen von Bürgern feindlicher Staaten; letzteres eine Praxis, die später etwa auch in Großbritannien und Deutschland eingeführt wurde.

Eigentliches Thema der Dissertation von Gundula Bavendamm sind die "konspirativen Kriegserzählungen", die sich 1914/15 - wie übrigens auch in Großbritannien - zunächst in Fortführung von Vorkriegshysterien gegen vermeintliche Spione und ausländische Firmen wie Maggi richteten. Diese Phase wird von Bavendamm nicht ganz glücklich als "Latenzphase" bezeichnet. Wenn sie die Entwicklung der Kriegserzählungen für die Zeit des Weltkrieges zunächst als Eskalation konstruiert, so wird dies der Anfangshysterie nicht gerecht. Im zweiten, "Radikalisierungsphase" genannten Abschnitt (1916) richtete sich die Aggression gegen pazifistische Landsleute, in der dritten "Instrumentalisierungsphase" (1917) dann gegen die Defätisten - ein von den Sozialisten aufgebrachter Begriff.

Damit wurde die Union Sacrée, das französische Gegenstück zum deutschen Burgfrieden, zerstört. Dies lastet Bavendamm vor allem zwei Männern an: zum einen Léon Daudet (1867-1942), einem ehedem linken Republikaner, der schon 1911 in der royalistischen Tageszeitung "L'Action Française" und 1913 in seinem Buch "L'avant-Guerre. Études et documents sur l'espionnage juif-allemand" gegen Deutsche und Juden polemisiert hatte, und Georges Clemenceau, der sich Daudets Kriegskampagne auf seinem Weg zurück an die Macht bediente. Zielscheibe von Daudets Kampagne wurde Louis-Jean Malvy (1875-1949). Der französische Radikalsozialist, also Linksliberale, zog sich als vergleichsweise liberal agierender Innenminister den Hass nicht nur der Rechten, sondern auch von Teilen seiner eigenen Sicherheitsbehörden zu. Letztlich wurde Malvy 1917, wie zwei Jahre zuvor Lord Haldane in England, geopfert, später sogar angeklagt und zu fünf Jahren Verbannung verurteilt.

Die neoroyalistische Position von "L'Action Française" war zwar nicht mehrheitsfähig, Daudet benutzte die konspirative Kriegserzählung aber geschickt als Vehikel zur Gewinnung von Akzeptanz, wobei Bavendamm in der Taxierung seines Einflusses schwankt. Folgenreich war Daudets Propagierung des Begriffs "guerre totale". Damit meinte er eine doppelte Kriegführung der Deutschen: an der Front und im Rückraum Frankreichs mit Wühl- und Spionagearbeit. Die tatsächlichen Ansätze des Deutschen Reiches zu einer subversiven Pressearbeit blieben freilich relativ erfolglos.

Bavendamm siedelt ihre Arbeit zwischen "fact" (gemeint ist: Faktum) und "fiction" (gemeint ist: Fiktion) an, dieser Status bleibt etwas blass. Zweifellos hätte man sich zu den Fakten bisweilen mehr Stoff gewünscht. So wie ihn die Verfasserin im Fall des Reservegefreiten Grulault ausbreitet, der sich unglücklicherweise der Kölnischen Zeitung als Zuträger anbot und an dem das erste Todesurteil eines Pariser Kriegsgerichtes vollstreckt wurde. Dagegen war sich der aus Bayern stammende Verleger Bruno Schlessinger zu Recht keiner Schuld bewusst, als sein Geschäft beschlagnahmt wurde. Er erschoss sich daraufhin. Über diese Einzelbeispiele hinaus gilt es jedenfalls festzuhalten, dass Spionage und Verrat keine entscheidende Rolle für den Verlauf des Ersten Weltkrieges spielte.

Die Anfälligkeit der Dritten Republik für die konspirativen Kriegserzählungen belege "ihre mangelnde Fähigkeit, die französische Nation innerlich wirklich zu befrieden und ihre Anfälligkeit für rechte Ideologien" (332). Vielleicht hätte man über dieses allgemeine Fazit hinaus gelangen können, wenn man stärker die Herkunft und Struktur der französischen Feindbilder analysiert und die Interaktionen mit den tatsächlichen und vermeintlichen Feinden intensiver berücksichtigt hätte. Zusammenfassend stellt Bavendamm fest: "Äußere und innere Feinde - Deutsche, Juden, Pazifisten, Radikalsozialisten - wurden zu Sündenböcken gemacht, um die eklatanten Schwächen des eigenen Systems zu kompensieren" (345). Letztlich erzählt also auch dieses Buch, mit der Analyse von Spionagefurcht und Verschwörungstheorie, die Geschichte der in wohl allen Kriegsgesellschaften des Ersten Weltkrieges zu beobachtenden Fragmentierungen der Gesellschaften. Dieser vergleichende Aspekt wird von Bavendamm freilich nicht thematisiert. Trotzdem handelt es sich um eine solide, ansprechend bebilderte Studie.

Peter Hoeres