Rezension über:

Wolfgang Will: Thukydides und Perikles. Der Historiker und sein Held (= Antiquitas. Abhandlungen zur Alten Geschichte; Bd. 51), Bonn: Verlag Dr. Rudolf Habelt 2003, XI + 410 S., ISBN 978-3-7749-3149-7, EUR 85,00
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Rezension von:
Timo Stickler
Historisches Seminar, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Timo Stickler: Rezension von: Wolfgang Will: Thukydides und Perikles. Der Historiker und sein Held, Bonn: Verlag Dr. Rudolf Habelt 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 12 [15.12.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/12/6266.html


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Wolfgang Will: Thukydides und Perikles

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Bei dem hier anzuzeigenden Buch handelt es sich um die Habilitationsschrift des Bonner Althistorikers Wolfgang Will. Der Autor widmet sich seit vielen Jahren immer wieder biografischen Themen und scheut dabei nicht davor zurück, am Denkmal auch großer Persönlichkeiten der Antike wie Alexander dem Großen und Julius Caesar zu rütteln. [1] So ist es auch dieses Mal, denn - recht besehen - haben wir es bei Wills Werk mit einer Art Doppelbiografie zu tun. Das Leben des Historikers Thukydides und des Politikers Perikles sind auf direktem oder indirektem Wege vielfach miteinander verknüpft gewesen, und die exzeptionelle Wirkungsgeschichte, die sich seit ihrem Ableben vor über zweitausend Jahren entfaltet hat, hat sie noch enger aneinander gekettet. Da sich Will schon in früheren Beiträgen mit Perikles und seiner Zeit auseinandergesetzt hat [2], ist es sicher nicht vermessen, das Werk als Summe der Beschäftigung des Verfassers mit der Thematik zu betrachten.

Das Buch ist in zwei Teile aufgeteilt. Der "Thukydides" betitelte erste Abschnitt (3-241) beschäftigt sich zunächst mit dem Sparta-Bild des Historikers (3-66) und kommt zu dem Ergebnis, dass das Bild des athenischen Rivalen um die Hegemonie über Griechenland bei Thukydides einer Wandlung unterlag. Als Angehöriger eher konservativer aristokratischer Kreise habe dieser anfänglich durchaus Sympathien für den Gegner gehabt; durch die totale Niederlage Athens 404 vor Christus und die sich anschließende gewalttätige Herrschaftsausübung Lysanders sei es jedoch zu einem Sinneswandel gekommen, sodass das Werk in der Fassung, in der es uns überliefert ist, mehrheitlich spartakritische und spartafeindliche Positionen widerspiegelt.

In den folgenden Passagen beschäftigt sich Will mit der Art und Weise, wie Thukydides andere wichtige Persönlichkeiten zur Zeit des Peloponnesischen Krieges in seinem Werk darstellt (67-158). Kleon, Nikias und Alkibiades, auch der Syrakusaner Hermokrates - sie alle werden auf ihre Funktion als "Vor- und Gegenbilder des Perikles" (67) hin abgeklopft. Für Will ist eine solche, auf den ersten Blick eindimensional erscheinende Einordnung der dramatis personae (67) in das Werk des Thukydides gerechtfertigt, denn seiner Meinung nach ist die Endfassung des "Peloponnesischen Krieges" ganz auf die Person des Perikles hin komponiert. Deutlich wird dies an dem sich anschließenden Kapitel "Das Porträt des Perikles" (159-222). Da wird der Sohn des Xanthippos als Zentrum des thukydideischen Werkes identifiziert: "Es [scilicet das Zentrum, also Perikles] öffnet den Zugang zum Verständnis der Person des Historikers und seiner Sicht der Ereignisse" (183). Thukydides habe angesichts des Traumas der totalen Niederlage Athens 404 vor Christus die Voraussetzungen, unter denen 27 Jahre zuvor das Ringen der Großmächte begonnen hatte, völlig neu durchdacht. Erst aus der Rückschau sei es ihm so erschienen, als habe der Krieg zwischen Athen und Sparta kommen müssen; ein funktionierendes Rezept aber, wie diese notwendige Auseinandersetzung zu bestehen sei, habe nur Perikles gehabt. Seine Pronoia, seine kraftvolle Herrschaft als Prostates des Volkes sei das Unterpfand des Sieges gewesen. Mit den Worten Wills: "[...] sein [scilicet Thukydides'] perikleisches Athen entlarvt sich als bloßes Phantom, als Vehikel, post eventum die Voraussetzungen zu entwerfen, unter denen der Krieg hätte gewonnen werden können" (218). Das Elogium auf Perikles (Thuk. 2,65) stellt für Will "die formale Mitte" (215) des Werkes dar, das "Testament" (ebendort) des Thukydides, das "letzte Kapitel des Fragment gebliebenen Werkes" (ebendort); alles, was folgt, sei nur noch eine "Fußnote zur Darstellung des Perikles" (186).

Auch Wills Buch hat mit der Formulierung der zentralen These seine "formale Mitte" gefunden. Was folgt, ist der Versuch ihrer Absicherung in Lebenslauf und Werkchronologie des Thukydides (223-241), in der antiken Überlieferung zu Perikles außerhalb des "Peloponnesischen Krieges" (245-282), sowie ihre Konfrontierung mit der modernen Perikles-Forschung (282-318). Der gesamte, "Perikles" betitelte zweite Teil von Wills Werk (245-318) ist dieser Aufgabe gewidmet, und selbst der umfangreiche Anhang (321-367), der die Position des Autors zur so genannten thukydideischen Frage erläutert, lässt sich so einordnen. Das Buch schließt mit einer umfangreichen Bibliografie zum Thema (368-386), einem Namensindex (387-394) sowie einem Verzeichnis der Belegstellen bei Thukydides (395-409).

Will selbst hat sich in seinem Vorwort zu etwaigen "Wiederholungen und Redundanzen" in seinem Text bekannt und der Hoffnung Ausdruck verliehen, sie mögen für den Leser, der das Ganze liest, "Ruhepausen" darstellen (VII). In der Tat ist "Thukydides und Perikles" keine einfache Lektüre. Die Stichhaltigkeit von Wills These ist eng damit verknüpft, wie überzeugend seine Position in der von F. W. Ullrich 1845 aufgeworfenen thukydideischen Frage ist. Der Verfasser zählt offenkundig zu den so genannten "Analytikern", das heißt, er nimmt im Unterschied zu deren Kontrahenten, den "Unitariern", an, dass Thukydides keinen einheitlichen und zumindest grundsätzlich bei der Ausarbeitung nach 404 vor Christus durchgehaltenen Werkplan verfolgte, sondern dass sich signifikante Brüche in dem uns vorliegenden, Fragment gebliebenen Werk erkennen lassen, die Rückschlüsse auf die innere Entwicklung des Verfassers vom Beginn des Peloponnesischen Krieges 431 bis zu der auf die Niederlage von 404 folgenden Arbeitsphase erlauben. Weil die thukydideische Frage eine der "frühesten" ist, "die sich die althistorische Forschung gestellt hat" (321, Anm. 1), die Beiträge zu ihr also Legion sind, und nahezu jeder diesbezügliche Gedanke schon einmal durchexerziert worden ist, verwendet Will ungeheure Mühe auf die Darstellung seiner Position [3], und nur wenn man diese teilt, kann man auch die darauf aufgebaute These akzeptieren, dass der "Peloponnesische Krieg" des Thukydides eine postume Rechtfertigung des Perikles gegen die öffentliche Meinung nach 404 vor Christus darstellt (so 229-241 in dem bezeichnenderweise "Der Held" betitelten Kapitel).

Es kann nicht die vordringliche Aufgabe dieser Rezension sein, dass ich nun meine eigene Position zur thukydideischen Frage darlege und vom Ausmaß der Übereinstimmungen mit Will meine abschließende Würdigung abhängig mache. Stattdessen will ich noch auf einen Punkt hinweisen, der mir jenseits dieser zentralen Frage wichtig erscheint.

In dem Kapitel "Der moderne Perikles" (282-318) zeigt Will, ausgehend von seiner Grundthese, auf, wie konstruiert und geradezu falsch die moderne Sicht vom so genannten perikleischen Zeitalter der 460er-Jahre bis 429 vor Christus gewesen ist. In der Tat lässt sich ein stärkerer Einfluss des Perikles erst ganz am Ende der 450er-Jahre nachweisen (mit dem Bürgerrechtsgesetz von 451/50 vor Christus), und die Zeit, die Thukydides die "Herrschaft des ersten Mannes" genannt hat (Thuk. 2,65), kann allenfalls die Zeit von 443 an (Ostrakisierung des Thukydides Melesias' Sohn) gewesen sein. Diese Ergebnisse Wills bleiben unabhängig von der Überzeugungskraft seiner Grundthese gültig und überzeugend, und sie können angesichts der Idealisierung, die Perikles und das nach ihm benannte Zeitalter in der Forschung erfahren haben, nicht genug betont werden: Der Sohn des Xanthippos war ein aggressiver Politiker, verhaftet dem tagespolitischen Kampf mit aristokratischen Rivalen im Inneren ebenso wie dem Geltungsdrang des attischen Demos nach außen. Die schöngeistige Milderung dieses Eindrucks verdanken wir einer seit Plutarch aufgekommenen Tendenz in der Überlieferung. [4]

Wolfgang Wills Buch ist nicht nur ein gewichtiges, sondern in vielen einzelnen Punkten auch anregendes und überzeugendes Werk. Ob die auf der analytischen Thukydides-Interpretation fußende Grundthese tragfähig ist, muss sich in der zweifellos nun folgenden wissenschaftlichen Diskussion erst noch erweisen. Doch selbst wenn die vom Autor angeführten Argumente für zu leicht befunden werden sollten, wird "Thukydides und Perikles" ein Buch bleiben, das das Ringen um die Lösung der thukydideischen Frage befruchtet hat - ein bleibender Beitrag ganz sicher und ein Ausgangspunkt für die künftige Forschung.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Wolfgang Will: Alexander der Große, Stuttgart 1986 und ders.: Julius Caesar. Eine Bilanz, Köln 1992.

[2] Zu nennen wären hier Wolfgang Will: Perikles, Reinbek 1995; ders.: s.v. Perikles (1), in: Der Neue Pauly 9 (2000), 567-572 u. ders.: Perikles. Eine Konjektural-Biographie des Thukydides, in: Kai Brodersen (Hg.): Virtuelle Antike. Wendepunkte in der alten Geschichte, Darmstadt 2000, 27-36.

[3] Zusammenhängend wird sie im Anhang (321-367) präsentiert, etwas kürzer gefasst schon 227-229.

[4] Gerade die über das ganze Buch verstreuten, der Analyse von Plutarchs Perikles-Vita gewidmeten Passagen Wills sind sehr gelungen.

Timo Stickler