Rezension über:

Dietrich W. Poeck: Rituale der Ratswahl. Zeichen und Zeremoniell der Ratssetzung in Europa (12.-18. Jahrhundert) (= Städteforschung. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster. Reihe A: Darstellungen; Bd. 60), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003, XI + 364 S., ISBN 978-3-412-18802-3, EUR 49,90
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Rezension von:
Ruth Schilling
Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Ute Lotz-Heumann
Empfohlene Zitierweise:
Ruth Schilling: Rezension von: Dietrich W. Poeck: Rituale der Ratswahl. Zeichen und Zeremoniell der Ratssetzung in Europa (12.-18. Jahrhundert), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/07/5697.html


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Dietrich W. Poeck: Rituale der Ratswahl

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Gleich drei Kirchen waren im Bordeaux des späten Mittelalters Bühne für das dramatische Ritual der Ratswahl (6): In der städtischen Kirche St. Eloi fand die eigentliche Wahl statt, in der Kathedrale, zu dieser Zeit Sinnbild der englischen Herrschaft in Frankreich, leisteten die Herren den Treueid auf den englischen König, und in St. Seurin schwor der Bürgermeister, das Wohl der Stadt zu fördern (7). Die Neugewählten ließen sich vor der Kathedrale mit Trompetenschall herrschaftlich feiern: Die Symbolkraft des sakralen Gebäudes diente so nicht allein den englischen Königen, sondern auch dem Herrschaftsanspruch des städtischen Rates (8).

Dietrich W. Poecks Untersuchung 'Rituale der Ratswahl' macht in beeindruckender Weise die Dramatik des Geschehens 'Ratswahl' deutlich, eines alteuropäischen Zeremoniells, das die Forschung bislang weitgehend ignoriert hat: [1] In ihr behauptete der städtische Rat immer wieder seine legitime Existenz. Das Ritual kondensierte in sich Vergangenheit und Zukunft, indem es den 'Rat' als dauerhafte Einrichtung - unabhängig vom Wechsel der Personen - symbolisch darstellte: "Die Wandlung des Rates betont jedes Jahr im Blick auf die Zeit die gleichmäßige Wiederkehr, im Wandel der Personen die Ewigkeit"(323). Die Ratswahl ist daher mit der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen memoria vergleichbar, in der mittels Grablegungen und Stiftungen die Präsenz des Toten als Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft zur Perpetuierung der von ihm repräsentierten Gruppen- und Amtsbeziehungen gesichert werden sollte. So gelangte Dietrich W. Poeck in seinen wissenschaftlichen Arbeiten von der Frage nach einer spezifisch ratsherrlichen memoria [2] zu der Untersuchung der Ratswahl: In noch notwendigerer Weise als eine Wahlmonarchie war die städtische Ratsherrschaft darauf angewiesen, im Zeremoniell der Neusetzung die Dauerhaftigkeit und Legitimität des Amtes zu repräsentieren. In komplexer Weise dient das Zeremoniell der Ratswahl als Indikator für innere und äußere Machtverhältnisse innerhalb eines städtischen Gemeinwesens.

Dietrich W. Poecks Buch ist die Summe eines reichen Forscherlebens. Es spiegelt die Faszination deutlich wider, die das dramatische Geschehen der Ratswahl auf den Mediävisten ausübt. Die Beispiele sind sowohl geografisch - von London bis Thorn, von Bordeaux bis Reval - als auch systematisch außerordentlich breit gewählt. So kann Poeck deutlich machen, dass sich zwar viele Parallelen in den einzelnen europäischen Beispielen ergeben, diese aber von vielschichtigeren Zusammenhängen als zum Beispiel einzig einem gemeinsamen Stadtrecht abhängen. So stellt er für die Städte Osnabrücker Rechts fest, dass mit der Übernahme des Osnabrücker Stadtrechts nicht zwingend auch eine Übernahme des Wahlzeremoniells erfolgte (79). Gemeinsamkeiten und Unterschiede ergeben sich eher aus strukturellen Gründen, wie aus vergleichbaren Machtverhältnissen innerhalb der Stadt, die eine entsprechende polyzentrische Gestaltung der rituellen Topografie bedingten. Bedauerlich an dem außerordentlich weit gestreuten Spektrum an Beispielen ist nur, dass sich die ausgewählten Fälle zum größten Teil auf den nicht-mediterranen Raum beschränken. Eine Einbeziehung italienischer oder spanischer Städte hätte womöglich noch deutlicher den europäischen Rahmen des Ratswahlzeremoniells unterstrichen und noch stärker den Blick auf strukturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten, die Poeck mehr implizit denn explizit anspricht, gelenkt.

Thematisch ordnet Poeck das vielfältige Material nach den Gesichtspunkten "Zeichen und Zeremoniell", "Orte und Tage", "Der Stuhl" und "Die Bilder". Poeck begründet diese Gliederung mit der Auswahl der Fallbeispiele (5). In "Zeichen und Zeremoniell" umreißt er anhand von Gesamtdarstellungen das dramatische Panorama der Ratswahl, um in den folgenden Teilen einzelne Aspekte der zeitlichen und räumlichen Dimension des Geschehens näher zu verdeutlichen. So zeigt er anschaulich, dass das Einnehmen des Ratsstuhls so eng mit der Ratsmitgliedschaft verbunden war, dass es zum Beispiel in Hamburg Pflicht eines wegen Verstoß gegen seinen Amtseid unehrenhaft entlassenen Ratsmitglieds war, "den stoel" zu "kussen unde nimmermeir in den raet" zu "komen" (172). Die Bedeutung des Ratsgestühls zeigt sich auch in seiner aufwändigen, da mehrere symbolische Ebenen miteinander kombinierenden künstlerischen Gestaltung. Eid und Einnehmen des Sitzes sind häufig miteinander kombinierte Elemente der Visualisierung des Rats und der Ratswahl, wie Poeck im Kapitel "Die Bilder" deutlich macht.

Unter der Überschrift "Die Wandlung" zieht Poeck ein Fazit aus seiner Gesamtschau: Die Ratswahl kann als Maßstab für die Autonomie und Struktur der Stadtgemeinde angesehen werden. Die Legitimation und Unabhängigkeit des Rates kommt deutlich in der räumlichen und zeitlichen Gestaltung des Übergangs von einem nicht ratsässigen Bürger zu einem Ratsmitglied zum Ausdruck. Die wichtige Rolle der sakralen Dimension der stadtherrlichen Legitimität ist laut Poeck auch nach der Reformation ungebrochen: Erst in der Aufklärung sollten Zweifel am Wirken des Heiligen Geistes bei der Konstitution des städtischen Rates laut werden (314-320).

War es Poecks erklärtes Vorhaben, die "Besonderheit" und den "Glanz städtischer Kultur" (322) deutlich werden zu lassen, so ist ihm dies zweifelsohne gelungen. Es ist in der Tat erstaunlich, dass dieses faszinierende Zeremoniell als Forschungsobjekt bis jetzt auf so wenig Interesse gestoßen ist, bietet es doch Gelegenheit, Dauer und Wandel städtischen Selbstverständnisses über Epochen-, Konfessions- und Landesgrenzen hinweg zu untersuchen. Seine Forschungen eröffnen somit ein ideales Feld für eine vergleichende Betrachtung europäischer politischer Kultur.

Dennoch kann sein Buch nur als ein Anfang betrachtet werden, dem alle Meriten, aber auch alle Schwächen eines ersten Schrittes zu Eigen sind: Selbst wenn die untersuchten Fälle jeder für sich genommen aufgrund der abwechslungsreichen Schilderung, die Poeck durch eine Verbindung textueller und visueller Quellen und Beschreibungen erreicht, außerordentlich plastisch vor Augen treten, ergibt sich doch der Eindruck eines nicht unbedingt zwingend einem bestimmten Vorgehen geschuldeten Aneinanderreihens von Beispielen. Vielmehr ist so eine Art Kompendium für verschiedene Ratswahltypen in Europa vom 12. bis zum 18. Jahrhundert entstanden. Dadurch, dass Poeck außerdem ein geschlossenes, idealtypisches Verlaufsmuster der jeweiligen Ratswahl entwirft, indem er aus teilweise sehr unterschiedlichen historischen Situationen stammende Quellen kombiniert, wird auch nicht deutlich, ob und in welchem Zusammenhang die Gestaltung der Ratswahl mit internen Konflikten zu sehen ist. Eine solche Mikroanalyse hätte den Rahmen des Buches gesprengt, hätte aber vermutlich zu komplexeren Ergebnissen geführt als der Aussage, dass "mit der Inszenierung der Wahl [...] die Ordnung der Stadt jedes Jahr wiederhergestellt" (322) wurde. Auch wenn es aufgrund der Beispiele plausibel erscheint, dass es Strukturen langer Dauer wie etwa die Verbindung sakraler mit politischer Legitimation auch über die Reformation hinweg gab, wäre es doch wichtig, danach zu fragen, warum zu einem bestimmten Zeitpunkt die schriftliche Niederlegung der Wahlzeremonien erfolgte, reagierten doch die Räte hier oft auf interne und externe Entwicklungen. Außerdem wären wohl nicht nur die bildlichen Gruppendarstellungen der Räte zu einer Untersuchung des Ratswahlzeremoniells hinzuziehen, sondern auch die Gestaltung der Rathäuser und die Porträts einzelner Ratsmitglieder, die dort vermehrt im 16. Jahrhundert aufgehängt wurden. Eine solche Einbeziehung auch der architektonischen Erfahrbarkeit des Ratswahlzeremoniells müsste sich aber auf funktionale Studien der Rathausbauten stützen, die bislang weitgehend fehlen. [3]

Diese Kritikpunkte betreffen aber Einzelheiten der vorliegenden Studie: Sie verlangen im Grunde genommen Weiterführungen des von Poeck so solide gezimmerten Fundaments.


Anmerkungen:

[1] Als einzige größere monografische Arbeit wäre die Dissertation von Bruno Schlotterose zu nennen: Bruno Schlotterose: Die Ratswahl in den deutschen Städten des Mittelalters, Masch. Phil. Diss. Münster 1953.

[2] Vergleiche zum Beispiel Dietrich W. Poeck: Rat und Memoria, in: Dieter Geuenich / Otto Gerhard Oexle (Hg.): Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 111), Göttingen 1994, 286-335.

[3] Eine Ausnahme ist hingegen die Dissertation von Matthias Ohm: Das Braunschweiger Altstadtrathaus. Funktion - Baugeschichte - figürlicher Schmuck (= Braunschweiger Werkstücke; Reihe A Bd. 49), Hannover 2002.

Ruth Schilling