Rezension über:

Kersten Krüger: Die Landständische Verfassung (= Enzyklopädie deutscher Geschichte; Bd. 67), München: Oldenbourg 2003, XI + 148 S., ISBN 978-3-486-55017-7, EUR 19,80
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Rezension von:
Raingard Eßer
University of the West of England, Bristol
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Raingard Eßer: Rezension von: Kersten Krüger: Die Landständische Verfassung, München: Oldenbourg 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/07/4812.html


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Kersten Krüger: Die Landständische Verfassung

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Die Auseinandersetzungen um Form und Gestalt frühneuzeitlicher Staatlichkeit gehören und gehörten zu den großen Themen der deutschen Geschichtswissenschaft. Vor allem das Verhältnis von Herrschern und Ständen auf den verschiedenen politischen Ebenen des Reiches hat die Historiker seit den Anfängen des Faches beschäftigt. Dieses Interesse ist allerdings von jeher zeitgenössischen Konjunkturen unterworfen gewesen, die sich sowohl an der politischen als auch an der jeweiligen geschichtswissenschaftlichen Agenda orientierten. Ein Überblickswerk zur landständischen Verfassung erscheint deshalb höchst willkommen, um die unterschiedlichen Interpretationen landständisch-landesherrlicher Beziehungen in ihrem jeweiligen Kontext vorzustellen. Leider bleibt der nun dazu vorliegende, schmale Band von Kersten Krüger hierbei eng auf die verfassungspolitische Analyse mit zwei Komponenten (Landesherr - Stände) fokussiert.

Für Krüger ist landständische Verfassung eine Vorform des Frühparlamentarismus (1). Aus dieser Perspektive begrenzt sich sein Überblick im modernisierungstheoretischen Raster auf die traditionellen Fragen politischer Macht im Staat und deren schrittweise erfolgter Übernahme durch den Landesherrn sowie auf die Darstellung von Typologien landständischer Verfassungen im Reich, die in einer umfangreichen, auf Johann Jacob Mosers Studien "Von der Teutschen Reichs-Stände Landen" beruhenden Übersicht über die Landstände von 1769 schematisch aufgelistet werden (18-26). Diese Schwerpunkte werden der älteren ständegeschichtlichen Forschung, die Krüger von Moser bis Karl Bosl datiert (danach beginnt bei ihm der Abschnitt zur "Aktuellen Forschung") und ausführlich vorstellt, sicherlich gerecht. Leider bleibt der Forschungsüberblick vor allem für das frühe 19. Jahrhundert etwas isoliert. Weder wird die tagespolitische noch die rechtsphilosophische Agenda der jeweiligen Autoren befriedigend gewürdigt. Besser kontextualisiert ist dann die Forschungslandschaft nach dem Ersten Weltkrieg, in der auch europaweite Initiativen und Vergleichsstudien vorgestellt werden.

Allerdings endet der Forschungsüberblick bei der Generation von Volker Press. Jüngere Wissenschaftler, die sich mit den Ständen unter anderen Fragestellungen beschäftigt haben, wie Wolfgang Neugebauer und Barbara Stollberg-Rilinger, werden mit einem Satz gestreift, ihre Forschungen als zu sehr auf "das Individuelle, eigentlich Unvergleichliche" fokussiert abgetan (68). Anstelle dessen fordert Krüger zunächst weiterhin stärkere Typologisierungen in modernisierungstheoretischer Absicht (68) und diskutiert hier vor allem Modelle von Peter Blickle, Helmut Koenigsberger und Volker Press. Doch am Ende kommt er zu dem Resümee, dass das breite Spektrum unterschiedlicher landständischer Verfassungen im Heiligen Römischen Reich eine Generalisierung unmöglich mache und dass hier eben doch die Einzelfälle, die durch die Zufälligkeit historischer Prozesse entstanden seien, für die Suche nach den Wurzeln und dem Wachsen des modernen Parlamentarismus herangezogen werden müssten (84).

Diese Verengung der Forschungsperspektive ist eine der Enttäuschungen des Buches. Gerade etwa Wolfgang Neugebauers Untersuchungen zu den ostpreußischen Landständen haben das historische Beziehungs- und Machtgeflecht ständischen Handels nicht länger nur in vertikaler, sondern gerade auch in horizontaler Perspektive überzeugend herausgearbeitet. [1] Auch Volker Press hat bereits in seinen Analysen von "Adelslandschaften" in den mittleren und kleineren Territorien des Reiches den traditionellen Dualismus von Landesherren und Landständen aufgebrochen. [2] Anstelle die Auseinandersetzung um die Macht im Staat auf die enge Bühne der Landtagsverhandlungen und deren Ergebnisse zu beschränken, scheint es sinnvoll, wie mit Wolfgang Neugebauer stärker nach den neuen Tätigkeitsfeldern zu fragen, die sich für die Stände außerhalb der Landtagsversammlungen eröffneten.

Schließlich ignoriert diese retrospektive Suche nach den Wurzeln des Parlamentarismus die Eigenständigkeit frühneuzeitlicher politischer Prozesse und die Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen politischen Parteiungen, die in den letzten Jahren von Wissenschaftlern wie Barbara Stollberg-Rilinger und André Holenstein und zuletzt besonders von Michael Kaiser und Stefan Brakensiek untersucht worden sind. "Vormoderne politische Verfahren"[3], symbolisches Handeln oder der Einsatz von Nähe und Distanz als Machtmittel eröffnen neue Sichtweisen auf das Verhältnis zwischen Landesherr und Landständen, die über die Analyse von Landtagsakten und -beschlüssen hinaus Licht auf das politische Selbstverständnis und den Handlungsspielraum der Zeitgenossen werfen. [4]

Handeln und Nicht-Handeln der am politischen Prozess Beteiligten wird schließlich bestimmt vom politischen Selbstverständnis der Akteure. Auch hier sind in den letzten Jahren unter anderem mit den Methoden der Begriffsgeschichte und der historischen Semantik Untersuchungen entstanden, die das Selbstverständnis der Stände untersucht und in den geistes- und ideengeschichtlichen Rahmen der politischen Theorien von Korporation und Naturrecht eingeordnet haben (zu nennen sind hier beispielsweise wiederum die Arbeiten von Barbara Stollberg-Rilinger, aber auch ältere Studien von Hasso Hofmann). Nach diesen Ansätzen sucht man im vorliegenden Buch vergeblich. Einschlägige Literatur ist allerdings in der Bibliografie aufgeführt. Hier hat sich der Autor eines nach den deutschen Ländern gegliederten Ordnungsprinzips bedient, das zwischen geistlichen und weltlichen Territorien unterscheidet und die spätmittelalterliche Forschung ebenso berücksichtigt wie Studien zum 18. Jahrhundert. Vor allem für die Erforschung einzelner Territorien ist diese Literaturübersicht wertvoll. Sie wird komplettiert von einer allgemeinen Bibliografie zu Fragen der Ständeverfassung.


Anmerkungen:

[1] Siehe beispielsweise: Wolfgang Neugebauer: Standschaft als Verfassungsproblem. Die historischen Grundlagen ständischer Partizipation in ostmitteleuropäischen Regionen. Mit einem Geleitwort von Klaus Zernack, Goldbach 1995; ders.: Politischer Wandel im Osten. Ost- und Westpreußen von den alten Ständen zum Konstitutionalismus (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa; Bd. 36), Stuttgart 1992; ders.: Adelsständische Tradition und absolutistische Herrschaft. Zur politischen Kultur Westpreußens nach 1772, in: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte NF 6 (1997), 629-647.

[2] Siehe beispielsweise Volker Press: Formen des Ständewesens in den deutschen Territorialstaaten des 16. und 17. Jahrhunderts, sowie ders.: Vom "Ständestaat" zum Absolutismus. 50 Thesen zur Entwicklung des Ständewesens in Deutschland, beides in: Peter Baumgart (Hg.): Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen. Ergebnisse einer Fachtagung, Berlin 1983, 280-318 und 319-326.

[3] Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.): Vormoderne politische Verfahren (= Zeitschrift für historische Forschung; Beiheft 25), Berlin 2001.

[4] Siehe dazu: Westfälische Forschungen 53 (2003), mit dem Themenschwerpunkt "Politisch-soziale Praxis und symbolische Kultur der landständischen Verfassungen im westfälischen Raum", hg. von Barbara Stollberg-Rilinger.

Raingard Eßer