Rezension über:

Frieder Günther: Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970 (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 15), München: Oldenbourg 2004, 363 S., ISBN 978-3-486-56818-9, EUR 69,80
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Rezension von:
Oliver Lepsius
Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Allgemeine und Vergleichende Staatslehre, Universität Bayreuth
Empfohlene Zitierweise:
Oliver Lepsius: Rezension von: Frieder Günther: Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970, München: Oldenbourg 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 5 [15.05.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/05/5714.html


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Frieder Günther: Denken vom Staat her

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Es gibt kaum ein soziales Verhalten, das nicht in irgendeiner Weise Gegenstand rechtlicher Betrachtung wäre. Recht ist überall. Es beeinflusst zukünftiges menschliches Verhalten und sanktioniert Geschehenes. Recht bewältigt die Zeit institutionell, sowohl in die Zukunft gerichtet als auch mit Blick auf die Vergangenheit. Was könnte Historiker folglich mehr interessieren als Recht? Leider hat die moderne deutsche Geschichtswissenschaft Recht als historischen Erkenntnisgegenstand noch nicht hinreichend beachtet. Rechtsgeschichte gilt als Terrain der Juristen. Für die jeweilige Dogmen- und Wissenschaftsgeschichte mag dies seine Berechtigung haben, wohl kaum aber für die Sozial- oder Zeitgeschichte, die mit rechtlich aufgearbeiteten sozialen Tatsachen eine vorzügliche Quellenbasis hat. Daher lässt sich Sozialgeschichte auch als Rechtsgeschichte thematisieren. Und seitdem die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland existiert, gibt es keine soziale Bewegung und kaum ein zeitgeschichtlich bedeutendes politisches Ereignis, welche nicht in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Widerhall gefunden hätte.

Um so beeindruckender ist es für einen Juristen, mit welcher Bravur Frieder Günther die Eingangshürden der juristischen Terminologie überwunden, sich in das Denken von Juristen eingearbeitet hat und mit welcher Genauigkeit er rechtliche Problemstellungen zu analysieren versteht. Die Arbeit ist eine Pionierleistung. Eine Wissenschaftsgeschichte des bundesdeutschen Staatsrechts hat es bislang nicht gegeben. Günther behandelt die 1950er und 1960er-Jahre mit einer zeitgeschichtlichen Fragestellung. Anknüpfend an Thesen seines Doktorvaters Doering-Manteuffel untersucht er, wann die bundesdeutsche Staatsrechtslehre "westernisiert" worden ist. Dabei geraten die beiden von ihm untersuchten Jahrzehnte zur Antithese: Während die 1950er-Jahre sich als Fortführung traditioneller Debatten darstellten, vollziehe die Staatsrechtslehre in den 1960er-Jahren einen tiefgreifenden Bruch mit ihrer Vergangenheit. Mit tadelloser Fachkompetenz zeichnet Günther die wesentlichen staatsrechtlichen Debatten nach, und er vermag auch die personellen und inhaltlichen Hintergründe der Kontroversen aufzudecken. Auch beim juristischen Detail bleibt die Arbeit immer zuverlässig. Sie geht in drei zeitlichen Schritten vor: Einem Überblick über die Staatsrechtslehre vor 1945 folgt in zwei großen Abschnitten die Behandlung der fünfziger und Sechzigerjahre als "Wiederaufbau" und "Umbruch", an die sich ein übergreifendes Kapitel anschließt, das die Entwicklung als "gewandelte Wissenschaft" zusammenfasst. Am Beispiel der Wissenschaftsgeschichte des deutschen Staatsrechts wird insgesamt die These der "Westernisierung" der bundesdeutschen Gesellschaft in den 1960er-Jahren überprüft.

In den 1950er-Jahren war das Fach - man kann es ruhig so sagen - mehrheitlich von etatistischen, antipluralistischen und auch antiparlamentarischen Grundüberzeugungen geprägt. Die Debatten kreisten immer wieder um die Zentralkategorie des Staates. In den Fünfzigerjahren verkörperte er eine vorgegebene antipluralistische Einheit, der sich die Staatsrechtslehre normativ verpflichtet sah. Aktuelle Themen pflegten auf ihre Auswirkungen auf den "Staat" befragt zu werden. Der Staat war sowohl ideeller als auch reeller Untersuchungsgegenstand und sollte zugleich die juristischen Analysekategorien liefern. Dadurch wurden Fragestellungen erschwert, die sich nicht staatstheoretisch verankern lassen, die den Staat also nicht voraussetzen, sondern ihn entstehen lassen. In ihrer Themen- und Kategorienwelt zeigte sich die Staatsrechtslehre der Fünfzigerjahre dem 19. Jahrhundert verhaftet.

In den 1960er-Jahren änderte sich das Bild. Der Wandel ist in mehrfacher Hinsicht spürbar: thematisch, methodisch, institutionell, personell. Aktuelle verfassungsrechtliche Fragestellungen wurden am Maßstab des Grundgesetzes gelöst und nicht mehr mit überkommenen staatstheoretischen Kategorien. Sie ließen sich nicht mehr zu staatstheoretischen Problemen umformulieren, sodass das "Denken vom Staat her" durch ein "Denken von der Verfassung her" ergänzt werden musste. Beispielsweise stellte der gesellschaftliche Pluralismus für die deutsche Staatstheorie mit ihrer Einheitsidee immer eine Bedrohung dar. Jetzt aber begann sich das Staatsrechtpositiv auf die Aufgabe zu beziehen, den Pluralismus als Tatsache zu akzeptieren und rechtlich zu organisieren.

Dass gerade die deutungsmächtigen Teile der Staatsrechtslehre an einer seit 1919 veralteten Kategorienwelt festhielten, ist wahrscheinlich auch mitverantwortlich für die wissenschaftliche Dominanz, welche die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den 1960er-Jahren erlangt hat. Denn die in den 1950er-Jahren verteidigten genuin wissenschaftlichen (staatstheoretischen) Kategorien hatten sich für das Verfassungsrecht der Bundesrepublik überlebt. Praktische Probleme traten an die Stelle theoretischer und eine junge Generation öffnete sich der neuen Institution und den neuen Fragestellungen. Wesentliche inhaltliche und perspektivische Anstöße kamen aus Karlsruhe. Indes: Die wichtige Rolle des Bundesverfassungsgerichts kommt in der Arbeit zu kurz. Der Verfasser vertraut hier zu sehr den Selbstbeschreibungen der Wissenschaftler.

Schwerpunktmäßig wird diese Entwicklung an den wissenschaftlichen, aber auch personellen Kontroversen zweier Schulen geschildert, die sich um Carl Schmitt (der selbst nicht mehr Mitglied der Staatsrechtslehrervereinigung werden durfte) und Rudolf Smend gebildet hatten. Zahlreiche namhafte Gelehrte werden diesen beiden Schulen zugerechnet. Die Ansichten und Schriften dieser Gelehrten untersucht Günther in wissenschaftsbiografischen Abrissen, die prägnant und differenziert sind. Vereinfacht lässt sich sagen: Im Ablösen des Staatsdenkens durch das Verfassungsdenken wird ein Sieg der Smend- über die Schmitt-Schule gesehen. Angesichts des weitverbreiteten Interesses an Carl Schmitt dürfte die Wissenschaftsgeschichte des Staatsrechts hier auf interdisziplinäres Interesse stoßen, zumal Günther den jedenfalls in den sechziger Jahren deutlich nachlassenden Einfluss Schmitt'scher Gedanken im bundesdeutschen Staatsrecht belegt - eine Beobachtung, die mit dem wachsenden Einfluss Schmitts in der politischen Theorie und Philosophie kontrastiert.

Günther liefert zugleich einen Beleg für die Bedeutung der wissenssoziologischen Thesen Ludwik Flecks über die Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Tatsachen. Am Beispiel der Debatten auf den Tagungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer illustriert er die Fleck'sche Lehre vom Denkkollektiv mit seinen Abhängigkeitsverhältnissen und Beharrungstendenzen. Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer dürfte wissenssoziologisch eine einzigartige Formation darstellen. Durch eine an die Habilitation geknüpfte Kooptation ihrer Mitglieder gelang es hier, eine Wissenschaftsdisziplin sowohl personell als auch inhaltlich zu definieren. Der inhaltlichen Verpflichtung auf eine rechtliche Einheit namens Staat entsprach eine institutionelle Verpflichtung, diese Einheit auch organisatorisch als Fachdisziplin auszudrücken. Es wird deutlich, wie die Organisationsstruktur der Staatsrechtslehrer einen idealiter personell und inhaltlich offenen wissenschaftlichen Diskurs durch die Selbstverpflichtung zum Staatsdenken kanalisiert hat. Man kann das Buch daher auch als einen Beitrag zu der Diskussion in der Geschichtswissenschaft lesen, wie wissenschaftliche Diskurse durch Zitierkartelle und einflussreiche Seilschaften geprägt werden.

Interessant auch: Der nur wenige Jahre zurückliegende Nationalsozialismus spielte weder personell noch thematisch in den staatsrechtlichen Diskussionen eine Rolle. Die Staatsrechtslehre reflektierte weder ihre eigene Verantwortung noch überprüfte sie ihren Traditionsfundus. Niemand scheint auch den personellen Verlust beklagt zu haben, der durch den Nationalsozialismus eingetreten war, oder die inhaltliche Weimarer Diskussionsvielfalt vermisst zu haben. Von den großen Weimarer Theoretikern waren nur Schmitt und Smend geblieben, die dadurch in der Nachkriegszeit eine größere Wirkung entfalten konnten als in der methodisch vielfältigeren Weimarer Republik. Das Ausscheiden der Positionen vor allem von Hans Kelsen und Hermann Heller (der in den Sechzigerjahren aber wieder rezipiert zu werden begann) war das unmittelbare Ergebnis der NS-Zeit. Die Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit verdankt ihre polare Schulenbildung dem Nationalsozialismus, ohne dass dieser Umstand von ihr selbst in irgendeiner Weise thematisiert worden wäre - auch nicht von der damals jüngeren Generation. Personelle oder inhaltliche Verluste hat man offensichtlich nicht verspürt. Dies beleuchtet erneut die auch wissenschaftsgeschichtlich wichtige Stellung des Bundesverfassungsgerichts, denn dessen Senate setzten sich ganz überwiegend aus Richtern zusammen, die 1933 aus ihren Positionen entlassen worden waren. Einige hatten fliehen müssen. Durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wurden gerade jene Positionen wirkmächtig, die 1933 aus dem staatsrechtlichen Diskurs in Deutschland ausgeschieden waren und die in der deutschen Staatsrechtslehre nach 1945 so deutlich unterrepräsentiert blieben, dass sie keinen wissenschaftlichen Einfluss ausüben konnten.

In der historischen Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte ist die Arbeit Günthers präzise und differenziert, sie hat die übergreifende Entwicklung jederzeit im Blick. Da Archivmaterialien (Gelehrtennachlässe) verarbeitet wurden, fördert die Arbeit auch viel Unbekanntes zu Tage. Überzeugend wird die These vom Wandel des bundesdeutschen Staatsrechts in den 1960er-Jahren belegt. Aber liegt in diesem Wandel bereits eine "Westernisierung", wie Günther meint? Die Antwort hängt natürlich von der Definition dieses Begriffes ab, der wohl letztlich eine transatlantische Annäherung meint. Gerade dann aber hege ich Zweifel, ob sich das deutsche Staatsrecht bis heute, geschweige denn in den 1960er-Jahren, "verwestlicht" hat oder ob nicht eher von unverzichtbaren verfassungsrechtlichen Anpassungen unter möglichst weitgehender Bewahrung der spezifisch deutschen Staatstheorie gesprochen werden sollte. Diese Vorbehalte können an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden, zumal sie eine innerjuristische Frage betreffen und weder die vorzügliche Wissenschaftsgeschichte Günthers noch die These vom Wandel beeinträchtigen. Ein Beispiel mag daher genügen: Als signifikantes Merkmal des "westlichen" Verfassungsrechts lässt sich sein herrschaftsbegründender Grundcharakter ausmachen, wie ihn etwa Adolf Arndt mit der prägnanten Formel auf den Punkt brachte, in einer Demokratie gebe es nur so viel an Staat, wie die Verfassung entstehen lasse. Im Primat der Verfassung über den Staat manifestiert sich die revolutionäre Tradition in den USA oder in Frankreich sowie der Verlauf der britischen Verfassungsgeschichte - jeweils mit signifikanten, nationalen Besonderheiten. Deutsches Staatsrecht hingegen denkt bis in die Gegenwart nicht herrschaftsbegründend, sondern herrschaftsbegrenzend. Dies beflügelt etwa die Perfektionierung des Rechtsstaatsprinzips und die deutsche Grundrechtstheorie, die auch im internationalen Vergleich wahrscheinlich bedeutendste Leistung der deutschen Staatsrechtslehre im Verbund mit dem Bundesverfassungsgericht. Umgekehrt bremst es die wissenschaftliche Behandlung des staatsorganisatorischen Teils der Verfassung (vor allem das Demokratieprinzip), der bis in die Gegenwart erstaunlich theorielos geblieben ist - im Unterschied zu den herrschaftsbegrenzenden Elementen wie Rechtsstaatsprinzip oder Grundrechten. Sollte man nicht im Ergebnis mit Günther einen Wandel konstatieren und sich dann als Jurist selbstkritisch fragen, ob die "Westernisierung" auf halbem Wege stecken geblieben ist? Hat sich letztlich doch das "Denken vom Staat her" behauptet?

Günthers Buch wird die deutsche Staatsrechtslehre sicher zur Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit anregen und zur Überprüfung ihres Traditionsfundus auffordern. Der Rezensent gesteht gerne, wie faszinierend, mitunter aber auch ernüchternd es ist, die Wissenschaftsgeschichte des eigenen Faches nachzuvollziehen. Möge das Buch aber gerade auch unter Historikern viele Leser finden und die Einsicht verbreiten helfen, welch ein gewinnbringender Untersuchungsgegenstand die Rechtsentwicklung ist!

Oliver Lepsius