Rezension über:

Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen - Methoden - Begriffe, Stuttgart: J.B. Metzler 2003, VIII + 410 S., ISBN 978-3-476-01880-9, EUR 39,95
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Rezension von:
Heinrich Dilly
Institut für Kunstgeschichte, Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Heinrich Dilly: Rezension von: Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen - Methoden - Begriffe, Stuttgart: J.B. Metzler 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 4 [15.04.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/04/4979.html


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Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft

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Gern würde ich testen, welche der folgenden beiden Begriffsreihen dem Lexikon spontan zugeordnet würde, das hier zu rezensieren ist: a) Abstrahieren, Ästhetik, Akademie, Angemessenheit, Anthropologie, Antiquarische Forschung, Archiv- und Quellenforschung, Artes liberales / artes mechanicae, Attribution, Aufklärung, Ausstellung, Autonomie und Avantgarde oder b) Abbild, Abstrakte Kunst, Abstraktion, Absurdes Theater, Achtundsechziger, Action Film, Agitprop, AIDS, Akademien, Aktionskunst, Akustik Design, 47 weitere Lemmata, die mit dem Buchstaben A beginnen und deren Reihe ebenfalls mit dem Begriff "Avantgarde" endet. Von einer Synekdoche wie "Angry young Men" und schlichten Nomina wie "Autorenlesung" abgesehen, wäre ich jedenfalls geneigt, die zweite Reihe als die eines Lexikons aktueller, wahrlich unbefangen offener Kunstwissenschaft anzunehmen. In allen Streit- und Zweifelsfällen würde ich es liebend gern zurate ziehen, weil darin Lemmata wie "Anagramm", "Androgynität", "Antimoderne", "Antiquariat", "Art brut" und "Arte povera" erläutert werden. Doch weit gefehlt! Genau diese finden sich ausgerechnet in einem anderen Nachschlagewerk allerdings des gleichen Verlags, - im "Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart" nämlich, das bereits im Jahr 2000 vom Literaturwissenschaftler Ralph Schnell herausgegeben worden ist.

Der Erfolg von Schnells Lexikon hat den Verlag wahrscheinlich ermutigt, nun noch ein paar fachspezifische Wörterbücher gleicher Größe, doch minderer Stärke nachzuschieben, darunter eben auch das "Lexikon Kunstwissenschaft". Dessen Herausgeber, der Kunsthistoriker Ulrich Pfisterer, jedoch ist dennoch so keck, dieses 410 Seiten starke Buch als das überhaupt erste Lexikon auszugeben, das "zentrale Termini der Kunstwissenschaft" als "Schlüssel zu historischen und aktuellen Denk- und Wahrnehmungsmodi" (VII) definiert. Dementsprechend hoch hängt er sein Werk. Denn mit den einschlägigen Wörterbüchern der Philosophie, der Geschichte und der Ästhetik von Ritter, von Brunner, Conze und Koselleck sowie von Barck vergleicht er es, nur nicht mit dem etwas umfangreicheren "Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart" von Schnell. Und dies obwohl sich darin, wie gesagt, viele zentrale Termini auch der Kunstgeschichte finden, die Pfisterer aus leicht durchschaubaren verlegerischen Gründen in seinen Band nicht erneut aufnehmen konnte beziehungsweise nicht durfte: "Abstrakte Kunst", "Bedeutung", "Collage", "Denkmal", "das Erhabene", "Fluxus" oder auch "Fragment", "Gesamtkunstwerk", "Geschmack", "Happening", "Informel", "Kunstkritik" und viele andere mehr. Dennoch wird dies nicht an- und ausgesprochen, wohl weil man die Zielgruppen mit dem Angebot eines Grundwerks samt mehreren Ergänzungsbänden nicht abschrecken mochte.

Auch die Autoren ließen sich offensichtlich nicht in ein vorgegebenes Schema zwängen und zu bloßen Zuträgern abrichten. Dies verraten die 21 Artikel unter den Lemmata, die in beiden Büchern vorkommen. Mitnichten sind sie identisch. Doch schon bei der ersten Stichprobe im allerersten Artikel, dem über die "Abstraktion", erweist sich das Lexikon der "Kultur der Gegenwart" als viel konkreter denn das der Kunstwissenschaft. Während hier der Terminus "Abstraktion" aus dem lateinischen mit "Abziehung" übersetzt wird, - wäre das korrekte deutsche Wort eigentlich nicht "Abzug"? - sagt das kulturwissenschaftliche, dass abstractio die "Wegnahme eines bestimmten Teils" meint und "ursprünglich den Denkprozess" bezeichnet, "durch den mathematische Größen aus der sinnlich wahrnehmbaren Welt gewonnen" wurden. Dort wird auch auf Aristoteles und Boethius verwiesen, während man sich im kunstwissenschaftlichen Werk mit den allgemeinen Quellenbereichen "griechische Philosophie" und "Scholastik" begnügen muss und erklärt bekommt, dass trotz "unterschiedlicher Bezugssysteme Abstraktion stets die Überführung des Einzelnen in ein Allgemeines" berührt (1). Auf ähnliche Weise verengt sind die Erläuterungen der Lemmata "Akademie", "Bild", "Künstler/Künstlerin", "Stil", "Werk" und vermutlich noch einige mehr. Ausnahmen bilden "Film", "Fotographie" und "Fantasie". Doch selbst das Kompositum "Kunstgeschichte" ist selbstverliebt verschlankt: Den zu erforschenden Sachverhalt, die Geschichte der bildenden Kunst, gibt es darunter nicht mehr. Allein die akademische Disziplin zählt, die offenbar einen Sachverhalt abstrakt konstruiert und ohne konkretes Korrektiv diskutiert. Warum dem eleganten Artikel dann aber noch ein anderer über die "Kunstgeschichte als Geistesgeschichte" behäbig folgen muss, ist nicht plausibel. Und warum ausgerechnet einer über die "Kunstwissenschaft als Kunstgeschichte" fehlt, erst recht nicht. Friedrich Schlegels Diktum - durch Hubert Lochers Buch über die "Kunstgeschichte als historische Theorie über Kunst" (München, 2001) erst vor drei Jahren aktualisiert - ist schon wieder vergessen!

Der Vergleich dieser 21 von insgesamt 167 Artikel über bestimmte "Ideen, Methoden, Begriffe" der Kunstwissenschaft, die sich nominal mit den 21 von 646 "Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945" im anderen Band decken, führt unwillkürlich auf einige Charakteristika einer abgrenzbaren Fachkultur der Kunsthistoriker, die nunmehr Kunstwissenschaftler genannt werden sollen: 1. Ein Begriff wird hier nicht wie von den Literaturwissenschaftlern nach seinem allgemeinen, gegenwärtigen Gebrauch bestimmt und erst danach sprachgeschichtlich abgeleitet. Nein, von den Kunsthistorikern wird gleich die Etymologie bemüht; dann wird die Geschichte seiner Bedeutungen ausgebreitet; um eine Entscheidung jedoch für eine aktuelle Definition drückt man sich gern herum. 2. Über die nationalen und internationalen Organisationen, die bestimmte Ideen und Methoden fördern und selbst zu Begriffen werden, ist abgesehen vom Fall des Museums und der Restaurierung höchst selten die Rede. 3. Im Vergleich zu den Literatur- und Kulturwissenschaftlern sind alle Artikel sehr lang und umständlich im wörtlichen Sinne. 4. Die Literaturlisten am Ende eines jeden Eintrags sind so ausführlich, dicht gedrängt und zudem noch so klein gedruckt, dass sie eher abschrecken denn dazu ermuntern, durch die Lektüre von zwei, drei Büchern und Aufsätzen das gewonnene Sachwissen zu vertiefen. Es bleibt auch unverständlich, warum in den Literaturlisten häufig die zweiten und spätere Auflagen bestimmter Titel aufgeführt sind, obwohl daraus nicht mal zitiert worden ist. So kommt es zu bösen Verzerrungen wie, dass Walter Benjamins berühmtester Essay über das Kunstwerk 1936 erstmals und dann erst wieder 1977 publiziert worden ist (103), dass Johann Joachim Winckelmanns "Werke" 1847 erschienen sind (46 und 252), dass Wolfgang Kemp eine Reihe ausgerechnet für die Medienwissenschaften unentbehrlicher Essays erst 1992 unter dem Titel "Der Betrachter ist im Bild" herausgegeben hat (237), und dass Pierre Bourdieu wieder einmal mehr "P.Bordieu" heißt (126).

Deshalb sollte man auf jeden Fall beide Bände - den von Schnell und den von Pfisterer - erwerben beziehungsweise konsultieren und wiederholt mit einem dritten vergleichen, will man nicht zum kunsthistorischen Fachidioten verkommen. Dann hat man zwei, wenn auch heterogene Publikationen einer immerhin grenzüberschreitenden Wissenschaft zur Hand, die wahrlich Kunstwissenschaft und Kunstwissenschaft der Gegenwart genannt werden könnte. Die anderen Gebiete künstlerischen Schaffens werden darin ebenfalls erschlossen: von der derzeit verbreitetsten aller Künste, der Musik, über die Literatur, die darstellenden und bildenden Künste, die Architektur bis zur um ästhetische Anerkennung ringenden Oral Poetry. Und es werden dann nicht bloß "Denk- und Wahrnehmungsmodi" (VII), sondern auch Handlungsmodi erläutert. Dann werden auch die Informationen über Struktur und Geschichte solcher Selbstverständlichkeiten erfreuen, wie etwa der "Ausstellung", des "Einflusses", des "Katalogs", des "Lebendigen", der "Neugierde und des Staunens", der "Zeitschriften" und anderer mehr, wodurch sich das kunstwissenschaftlich genannte Lexikon dann doch noch auszeichnet. Dann braucht man auch nicht zu älteren Nachschlagewerken zu greifen, wenn man Grundinformationen über den "Kunstverein", über die "Land Art", die "Pop Art", eine "Schule", die "Tradition" und so weiter, geschweige denn zum Vergleich den nahe liegenden "Linguistic Turn", die mächtigen "Musikerorganisationen" und vieles andere mehr benötigt. Denn diese stehen, wie gesagt, im "Lexikon Kultur der Gegenwart" des gleichen Verlags, dem Grundwerk, zu dem das hier angezeigte Buch einen von mehreren Ergänzungsbänden bildet. Hätten Verlag und Herausgeber dies den Autoren mitgeteilt und hätten alle den Mut, dies den Lesern offen zu sagen, dann wäre gewiss eine runde Sache daraus geworden!

Heinrich Dilly