Rezension über:

Richard van Dülmen / Sina Rauschenbach (Hgg.): Denkwelten um 1700. Zehn intellektuelle Profile, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, VIII + 219 S., 24 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-07102-8, EUR 24,90
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Rezension von:
Karin Hartbecke
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Gudrun Gersmann
Empfohlene Zitierweise:
Karin Hartbecke: Rezension von: Richard van Dülmen / Sina Rauschenbach (Hgg.): Denkwelten um 1700. Zehn intellektuelle Profile, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 4 [15.04.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/04/4617.html


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Richard van Dülmen / Sina Rauschenbach (Hgg.): Denkwelten um 1700

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Sich den intellektuellen Protagonisten einer Zeit über ihre historiografischen Rückseiten zu nähern, dies hat für die Wissenschafts- und Philosophiegeschichtsschreibung zum 17. und 18. Jahrhundert seit längerem schon Konjunktur. Da kehrt man Newtons alchemistische Studien hervor (Beitrag Fischer) [1], macht vermeintliche Fantasten zu eigentlichen Genies [2], oder liest das Aufklärerische im Aufklärer als zornigen Impuls eines religiös Verfolgten (Beitrag Treskow). Unser Bild eines Denkers oder Forschers ist, so das ständige methodische Gebot, um die vergessenen, geleugneten und vernachlässigten Aspekte zu ergänzen.

In verschiedenen geschichtswissenschaftlichen Strömungen macht man dies Vergessene, Geleugnete, Vernachlässigte derzeit im historischen Individuum und dessen Bezugnahmen auf seine soziokulturelle, politische, ökonomische und wissenschaftliche Wirklichkeit aus. Margaret Osler forderte jüngst für die 'history of science', die Vorannahmen und Begrifflichkeiten, die theoretischen Anliegen und Ansprüche der "historischen Akteure" in den Blick zu nehmen, in denen diese sich die Ideen, Theorien, Praktiken ihrer Vorläufer "aneignen". [3] Richard van Dülmen wiederum machte die Frage, wie vorgefundene Strukturen durch "den konkreten Menschen" angeeignet und interpretiert werden, zum Ausgangspunkt der von ihm in Deutschland mitbegründeten "historischen Anthropologie" und zentrierte deren methodischen Ansatz um die Kategorien des "Besonderen", "Eigensinnigen" und "Subjektiven". [4] Beiden, Osler wie van Dülmen, geht es (freilich auf verschiedene Weise) darum, die Blindheit der sozialwissenschaftlich geprägten Wissenschafts- und Kulturhistoriografie für den subjektiven Akteur der Geschichte zu korrigieren. Die Aufgabe der Historiografie besteht ihnen zufolge in einer integralen Analyse von äußerem Bedingungskontext und subjektiver Binnensicht.

"Denkwelten um 1700" soll den subjektbetonten Ansatz der historischen Anthropologie nun offenbar für die Geistesgeschichte der Frühneuzeit realisieren. Die Herausgabe besorgten die Philosophin Sina Rauschenbach und der bereits erwähnte, vor wenigen Wochen verstorbene Neuhistoriker van Dülmen (beide Saarbrücken). Mit dem Begriff der Denkwelt bezeichnen sie die Ideen und das Wissen, aber auch die "Lebens- und Wertvorstellungen" (VII) eines Denkers, Literaten oder Komponisten. Diese Ideen, Vorstellungen et cetera werden in den jeweiligen Kontext aus intellektuellen Traditionen, soziokulturellen Gegebenheiten und biografischen Verläufen "eingebettet" (VIII). Die im Band präsentierten Denkwelten sind Beiträge zur "intellektuellen Kultur" (VII) um 1700; "profiliert" werden Vertreter aus Naturphilosophie und Musik, Architektur, Philosophie, Ethnografie und Pädagogik, Theologie und Literatur.

In ihrem Fokus auf Einzelfiguren und der bunten interdisziplinären Anlage bietet die Sammlung durchaus ein Novum der kultur- und ideenhistorischen Forschung. [5] Zudem nimmt der Band sich weniger die für uns heute kanonischen "Klassiker" als vielmehr Prominenzen in ihrer Zeit vor (VIII, 209): nicht John Locke, aber John Toland (Beitrag Rauschenbach), nicht Johann Sebastian Bach, aber Arcangelo Corelli (Beitrag Monheim-Semrau), nicht Charles Perrault, aber Alain-René Lesage (Beitrag Keilhauer). So nähert man sich der bislang unbesehenen Rückseite eines Jahrhundertwechsels. Dabei kommen überwiegend jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Wort. Der "gewisse[n] Eigenwilligkeit", die den vorgelegten Denkwelten ihren Herausgebern nach gemeinsam ist (213), korrespondiert in mehreren Beiträgen eine erfrischende Eigenwilligkeit in der Form der Darstellung. Leichtfüßige Einstiege, essayistische Durchführung, pointierte Schlüsse - auch stilistisch schreiben die Autoren gegen den Strich einer Lehrbuch-Geschichte mit akademischem Gestus.

Mitnichten muss diese Leichtigkeit in der Darstellung auf Kosten der akademischen Qualität gehen. Dies beweist etwa der Beitrag von Friedrich Niewöhner (Wolfenbüttel / Berlin), der in der gekonnten Verbindung von fachlicher Souveränität und schriftstellerischem Witz sicherlich einen der Glanzpunkte des Bandes bildet. Niewöhner stellt den später als Antisemit geltenden Heidelberger Professor Johann Andreas Eisenmenger und sein 1700 gedrucktes "Entdecktes Judentum" vor, eine nach den Regeln der Kunst gelehrte, aber eben doch anti-jüdische Apologie des Christentums. Dass die Schrift bei aller Polemik gegen den jüdischen Glauben nicht ganz so übel war wie Eisenmengers Ruf, macht Niewöhner anhand der Tatsache geltend, dass ihr Verfasser im selben Zug auch das Christentum kritisiert und sogar den Dialog beider Religionen fordert. Niewöhner grenzt das "Entdeckte Judentum" folgerichtig gegen seine plumpen Vereinnahmungen und Vulgär-Bearbeitungen ab, so gegen die Hetzschrift "Die Jüdischen Augen-Gläser" (1743) des Elias Librorius Roblik.

Ein Doppelporträt des Baumeisters der spätbarocken Klosteranlage Melk, Jakob Prandtauer, und seines Bauherren Abt Berthold Dietmayr legt der Augsburger Kunsthistoriker Meinrad von Engelberg (inzwischen Darmstadt) vor. Die architektonische Sprache der Abtei liest von Engelberg als Manifestation des Selbstverständnisses ihres Prälaten und macht glaubhaft, dass Dietmayr der eigentliche Urheber des Neubaus war, sein Architekt Prandtauer hingegen eher als Ausführender denn als Stifter des Entwurfs gelten muss. Dass Dietmayr als geistlicher Vorsteher der Abtei und als politischer Machtträger im habsburgischen Staatsgefüge eine Doppelrolle ausfüllte und monastische Bescheidenheit wie auch herrscherliche Machtfülle gleichermaßen repräsentieren musste, spiegelt sich im baulichen Janusgesicht der Anlage mit ihrer prachtvoll-imposanten Südhälfte und schlicht gehaltenen Nordhälfte wider. Von Engelberg liefert in seinem gut arrangierten Beitrag vielfältige Informationen zur Ordensgeschichte der Benediktiner, zur Ökonomie barocker Klöster oder etwa zum historisierenden Umgang der Mönche mit den für den Neubau beseitigten mittelalterlichen Elementen.

Hans-Jürgen Lüsebrink (Saarbrücken) wirft ein Licht auf den Weltumsegler William Dampier und seine Reisebeschreibung "New Voyage around the World" (1697). Ist Dampier, der sich in den dreizehn Jahren seiner Reise unter anderem als Seeräuber verdingte, auch heute weitgehend unbekannt, so war sein Bericht in der Aufklärungszeit doch überaus einflussreich, wurde rasch ins Französische und Deutsche übersetzt, in Teilausgaben nachgedruckt und als Inspirationsquelle genutzt, so im Fall von Defoes Roman "Robinson Crusoe" (1719). Lüsebrink illustriert in einem "Subjektivität und Empirie" überschriebenen Abschnitt, wie Dampier die faktografische Wiedergabe seiner ethnologischen und naturhistorischen Beobachtungen mit Selbstbetrachtungen und utopischen Entwürfen durchsetzt. Obwohl Dampiers Wahrnehmung "von einem Bewußtsein der Hierarchie von Völkern und Kulturen durchzogen" (72) ist, bringt er Empathie und Faszination für die studierten fremden Kulturpraktiken auf und verzichtet auf religiöse Deutungsmuster, wie sie in den zeitgleichen Beschreibungen jesuitischer Missionare zur Anwendung kommen. Lüsebrinks Aufsatz ist nicht zuletzt deshalb besonders interessant, weil er mit dem fernreisenden "Datenerheber" William Dampier einen ungewöhnlichen, nicht an Gelehrtenstuben und sonstige zeittypische Bildungseinrichtungen gebundenen epistemischen Standard vorstellt.

Ein plastisches, geradezu beklemmendes Bild vom pädagogischen Engagement des Bildungs- und Sozialreformers August Hermann Francke in Halle zeichnet der Theologe Marcel Nieden (Neuendettelsau). Am Erzieher Francke macht Nieden deutlich, wie sehr eine "Denkwelt" von der Biografie ihres Trägers abhängig sein kann. Selbst groß geworden vor pietistischem Hintergrund, erklärt Francke die "Ehre Gottes" zum höchsten Erziehungsziel. Die Zöglinge, die er der totalen Kontrolle eigens eingesetzter "Präzeptoren" überlässt, sind herausgefordert, diese Fremdkontrolle als Selbstkontrolle zu verinnerlichen. Francke vertritt dabei, wie Nieden herausstreicht, eine Anthropologie des zum Bösen neigenden Willens, der durch den Erzieher folglich gebrochen werden muss. Im Gehorsam bezwingen die Kinder die Verderbungsdynamik ihres Willens dann selbst und vergewissern sich so der Liebe Gottes. Nieden vermittelt einen vielschichtigen Eindruck vom Bildungsverständnis eines Pädagogen avant la lettre, das heißt vor den aufklärerischen Entwürfen der eigentlichen Disziplinbegründer Rousseau und Kant, und bereichert die Aufsatzsammlung um einen in der Frühneuzeitforschung oft übergangenen Aspekt.

In einem Nachwort fragt das Herausgeber-Duo nach "Denkstrukturen [...], die eine bestimmte Gruppe von Menschen in einer bestimmten Zeit über die Grenzen aller Wissenschaften und Künste hinweg kennzeichnen" (VIII). Die Mikrohistorie der intellektuellen Profile soll also in eine (wenigstens angedeutete) Makrohistorie des Jahrhundertwechsels übergehen, "da eine Mikrogeschichte ohne Makroperspektive an Erkenntnisfähigkeit verliert". [6] Rauschenbach und van Dülmen verpflichten die einzelnen Denkwelten daher auf gemeinsame "Problemdiskussionen" (209) und "intellektuelle Signaturen" (210). Als eine dieser Signaturen wird die in ihrem Charakter eher konziliatorische als radikal brechende Auseinandersetzung mit traditionellen Sichtweisen benannt, sodass die Zeit um 1700 mit ihrem charakteristischen "Schwanken zwischen Altem und Neuem" als Zwischenzeit "nach dem Aufbruch und vor der Moderne" zu würdigen sei (214).

Doch so sinnvoll das Anliegen, die Einzelbeiträge zu rekapitulieren, am Ende eines Sammelbandes sein kann: das Quodlibet der Beiträge wird hier ganz unvermittelt in eine vermeintliche thematische Klammer gedrückt. Die vor allem im Beitrag von Rauschenbach selbst überstrapazierte Dichotomie von "Alt" und "Neu" bleibt den übrigen Denkwelten als Leitmotivik größtenteils ebenso grundlos aufgesetzt wie die fortgesetzte Dominanz des "christlich-aristotelischen Weltbild[es]" (210). Die Schlagwortketten vom Hochhalten der Vernunft, von der Ausdifferenzierung der Wissenschaften oder der Betonung von Beobachtung und Erfahrung in der frühen Moderne (211-213) erinnern eher an die unvermeidlichen Schemata philosophiegeschichtlicher Einführungsliteratur, als dass sie übergreifende "Denkstrukturen" verbindlich machten. Die versuchte Ableitung makrohistorischer Kategorien ist auf der Grundlage des Bandes weder inhaltlich noch methodisch gedeckt. Das Nachwort der Herausgeberin und des Herausgebers erweist sich damit als Einbruchstelle für eine Problematik, die im Methodendiskurs der historischen Anthropologie selbst noch nicht abschließend verhandelt sein dürfte.

Von diesen Mängeln der Konzeption abgesehen bietet der Band eine ausgewogene Mischung anregender, lebendiger und in jedem Fall sehr fundierter Darstellungen. Nicht alle Beitragenden verstehen sich gleich gut darauf, die Interiora ihres Faches zu verlassen und ihre gelegentlich detailbelasteten Ausführungen zu einer systematischen Aussage im Sinne der Programmatik des Bandes zuzuspitzen. Doch wo dies gelingt, bescheren die "Denkwelten" eine abwechslungsreiche Lektüre: bald spritzig und prickelnd, bald auch ein wenig fad, doch immer ohne aufdringlichen Abgang. Ein junger Wein - der Jahrgang: um 1700.

Anmerkungen:

[1] Wegweisend in dieser Hinsicht war Betty Dobbs: The Janus Faces of Genius: The Role of Alchemy in Newton's Thought, Cambridge 1991.

[2] Vergleiche Paula Findlen: The Janus Face of Science in the Seventeenth Century: Athanasius Kircher and Isaac Newton, in: Margaret Osler (Hg.): Rethinking the Scientific Revolution, Cambridge 2000, 221-246.

[3] Vergleiche Margaret Osler: Introduction, in: dies. (Hg.): Rethinking the Scientific Revolution, Cambridge 2000, 3-22.

[4] Vergleiche Richard van Dülmen: Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben, Wien / Köln / Weimar 2000, 2. Auflage 2001.

[5] In der Interdisziplinarität und kulturhistorischen beziehungsweise kulturphilosophischen Ausrichtung, wenn auch nicht im methodischen Ansatz, sind noch am ehesten vergleichbar Federica La Manna (Hg.): Commercium. Scambi culturali italo-tedeschi nel XVIII secolo. Deutsch-italienischer Kulturaustausch im 18. Jahrhundert, Florenz 2000; Peter J. Burgard (Hg.): Barock. Neue Sichtweisen einer Epoche, Wien / Köln / Weimar 2001.

[6] Vergleiche Richard van Dülmen: Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben, Wien / Köln / Weimar 2000, 2. Auflage 2001, 97.

Karin Hartbecke