Rezension über:

Christian Pletzing: Vom Völkerfrühling zum nationalen Konflikt. Deutscher und polnischer Nationalismus in Ost- und Westpreußen 1830-1871 (= Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien; Bd. 12), Wiesbaden: Harrassowitz 2003, XI + 528 S., ISBN 978-3-447-04657-2, EUR 74,00
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Rezension von:
Magdalena Niedzielska
Nikolaus-Kopernikus-Universität, Toruń
Redaktionelle Betreuung:
Marco Wauker
Empfohlene Zitierweise:
Magdalena Niedzielska: Rezension von: Christian Pletzing: Vom Völkerfrühling zum nationalen Konflikt. Deutscher und polnischer Nationalismus in Ost- und Westpreußen 1830-1871, Wiesbaden: Harrassowitz 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 3 [15.03.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/03/5513.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Christian Pletzing: Vom Völkerfrühling zum nationalen Konflikt

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Die vorzustellende Dissertation von Christian Pletzing ist seit der vor dreißig Jahren erschienenen, vorzüglichen Arbeit Peter Böhnings [1] die erste Untersuchung des Problems der Herausbildung des polnischen Nationalbewusstseins in Westpreußen aus der Feder eines deutschen Historikers. Pletzing hat sich jedoch etwas noch viel Schwierigeres vorgenommen, da er neben der polnischen Nationalbewegung auch die Entstehung des modernen deutschen Nationalbewusstseins in der gesamten Provinz Preußen zum Gegenstand seiner Analyse macht. Damit verdient dieses Buch besondere Aufmerksamkeit, denn während es neben der genannten Untersuchung Böhnings auch wertvolle, dem deutschen Leser hier zum Teil erstmals vorgestellte polnische Arbeiten zu den nationalen Integrationsprozessen innerhalb der polnischen Gesellschaft in Westpreußen gibt (zum Beispiel von Szczepan Wierzchosławski), war das Thema des deutschen Nationalbewusstseins in diesem Gebiet bisher noch nicht aufgegriffen worden.

Pletzings detaillierte und kenntnisreiche Untersuchung stützt sich auf breite Archivrecherchen in Deutschland und Polen sowie, was besonders hervorzuheben ist, auf die Auswertung der deutschen Provinzialpresse, die von deutschen Historikern bislang nur selten herangezogen worden ist. Bemerkenswert ist zudem die für deutsche Arbeiten über die östlichen Provinzen Preußens ebenfalls nicht selbstverständliche Nutzung zahlreicher polnischer Arbeiten. All dies macht Pletzings Werk zu einer wertvollen Einzeldarstellung, die viele und zum Teil völlig neue Materialien zur Entwicklung der deutschen, nationalpolitischen Bewegung erschließt.

Was jedoch die Interpretation der breiten Quellengrundlage im Hinblick auf die Herausbildung der nationalen Identitäten in Ost- und Westpreußen anbelangt, so ergibt sich ein grundsätzliches Problem. Zwar ist die Gegenüberstellung der innerhalb desselben Territoriums und nicht zuletzt unter gegenseitiger Abgrenzung ablaufenden deutschen und polnischen Nationsbildungsprozesse legitim und wünschenswert. Indem sich der Verfasser aber vornehmlich einer detaillierten Analyse von Presseartikeln und archivalischen Quellen widmet, gelangt er unbewusst auf einen falschen Deutungsweg: Pletzing betrachtet nämlich die beiden nationsbildenden Prozesse auf einer Ebene, als den jeweiligen Ausdruck von Phänomenen, die ausschließlich auf den Grad der inneren Mobilisierung der beiden ethnischen Gruppen zurückgeführt werden können. Der preußische Staat als entscheidender Akteur, der über seine Institutionen auf den Verlauf und das Tempo der Veränderungen eingewirkt hat (sei es durch Zensur, die Schulpolitik oder den Ausschluss der polnischen Sprache aus dem öffentlichen Leben seit den 1840er-Jahren), wird in seinen Überlegungen nicht berücksichtigt. Dies führt zu merkwürdigen Schlussfolgerungen, etwa der, dass sogar die Eindeutschung der polnischen Ortsnamen "auf Initiative der deutschen Öffentlichkeit" stattgefunden habe. Insbesondere in Bezug auf die polnische Gesellschaft ist Pletzings Ansatz problematisch, da er eine Gleichheit der Bedingungen, unter denen sich das deutsche und das polnische Nationalbewusstsein herausbildeten, unterstellt und diese ausschließlich auf wirtschaftliche Faktoren und sozialen Wandel reduziert. So sieht er den polnischen Nationalismus (die Definition dieses Begriffs durch den Verfasser als neutral erscheint fragwürdig) als eine sich unter analogen juristischen und politischen Bedingungen wie der deutsche entwickelnde Bewegung. In keinem der anderen Staaten, die Polen im 18. Jahrhundert unter sich aufgeteilt hatten, Russland eingeschlossen, kam es jedoch im 19. Jahrhundert zu einem vergleichbaren, völligen Ausschluss der Polen aus dem politischen Leben und der Staatsverwaltung, wie dies in Preußen der Fall war. Das politische und rechtliche System Preußens hatte grundlegenden Einfluss auf die Struktur der polnischen Gesellschaft und bedingte damit auch ein vom Verfasser nicht erkanntes Spezifikum der polnischen Nationalbewegung, nämlich das weitgehende Fehlen des Bürgertums und der Intelligenz als deren Führungselite. Anders als Pletzing annimmt, der allein die Ära Manteuffel als Phase staatlicher Repression ansieht, war die polnische Nationalbewegung während der gesamten Teilungszeit starkem obrigkeitlichen Druck ausgesetzt. Gleichzeitig stellt er etwa fest, der "deutsche Adel, das Offizierskorps, Geistliche wurden während der Revolution 1848/49 mehrheitlich nicht nationalisiert" - als ob sich deren Identifizierung mit der preußischen Staatlichkeit im Gegensatz zu deutschem Nationalbewusstsein befunden hätte.

Pletzing stützt seine Analyse der nationsbildenden Prozesse auf Miroslav Hrochs bekanntes Drei-Phasen-Modell, das allerdings für so genannte 'kleine' Nationen konzipiert worden ist. Er unterstellt damit, dass die polnische Bevölkerung in den östlichen preußischen Provinzen eine abgetrennte und selbstständige Gruppe dargestellt habe, die erst im 19. Jahrhundert das Bewusstsein einer eigenen nationalen Identität hervorgebracht habe, ganz so, als habe bis 1795 kein territorial relativ großer polnischer Staat existiert, der nach den Teilungen als Orientierungspunkt polnischen Nationalbewusstseins hätte fungieren können. Zentraler Kern der polnischen Identität war und ist die Sprache, was eine ähnliche Situation ausschloss, wie sie zwischen Deutschland und Österreich herrschte. Wer polnisch sprach, gehörte automatisch zur polnischen Nation. Kurios erscheint die konsequente Anwendung des Begriffs "polnischsprachige Bevölkerung" bei der Beschreibung der polnischen nationalen Haltungen gegenüber der Revolution von 1848 angesichts der gleichzeitigen Verwendung des Terminus "deutsche Bevölkerung". Hier wird nämlich das Fehlen einer stärker präzisierten Identität unterstellt. Der Verfasser setzt das Ausbleiben nationalpolitischer Agitation, etwa des polnischen Adels aus dem ehemaligen Königlichen Preußen, mit einem Mangel an Nationalgefühl gleich, was jedoch fraglich ist. Diskussionswürdig sind auch manche Urteile zu den nationalpolitischen Beziehungen in der Provinz Preußen, so zum Beispiel die "vormärzliche Solidarität von deutscher und polnischer Nationalbewegung", was die Verortung der Geburtsstunde der "Kulturträgertheorie" erst in den 1860er-Jahren impliziert und "Nationalisierung" ausschließlich als Identifikation mit einem vereinigten deutschen Staat, nicht aber mit Preußen versteht, und damit die Konservativen aus diesem Prozess ausnimmt.

Mit diesen Bemerkungen ist die Diskussion über Pletzings Arbeit, deren großer Wert hier noch einmal betont werden soll, freilich noch keineswegs abgeschlossen.

Anmerkung:

[1] Peter Böhning: Die nationalpolnische Bewegung in Westpreußen 1815-1871. Ein Beitrag zum Integrationsprozeß der polnischen Nation (= Marburger Ostforschungen, Bd. 33), Marburg 1973 .

Magdalena Niedzielska