Eva-Bettina Krems: Raffaels römische Altarbilder. Kontext - Ikonographie - Erzählkonzept. Die Madonna del Pesce und Lo Spasimo di Sicilia, München: Akademischer Verlag 2002, 371 S., 75 s/w-Abb., ISBN 978-3-932965-67-8, EUR 48,00
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Eva-Bettina Krems hat mit dem vorliegenden Buch, mit dem sie 1999 an der Universität Würzburg promoviert wurde, eine exemplarisch ausgerichtete Untersuchung zu Raffaels "Madonna del Pesce" und "Lo Spasimo di Sicilia" vorgelegt. Es gelingt ihr, anhand dieser beiden Altartafeln eine instruktive Analyse zu den zentralen Problemfeldern der Malerei der römischen Hochrenaissance vorzulegen.
Trotz der wahrlich nicht geringen Menge an laufenden Metern publizierter Raffaelforschung harrt die römische Malerei Raffaels nach wie vor einer Gesamtschau. Zwar fehlt es nicht an überblicksartigen Zusammenfassungen der Jahre 1508 bis 1520, in denen Raffael in Rom arbeitete. Doch handelt es sich bei ihnen in der Regel um einzelne Kapitel aus monographischen Zusammenhängen, die naturgemäß nur generalisierend argumentieren können (eine kontrovers diskutierte Ausnahme bildet die programmatisch gemeinte Ausstellung "Roma e lo stile classico di Raffaello 1515-1527", herausgegeben von Konrad Oberhuber, bearbeitet von Achim Gnann, Mailand 1999). Für den Bereich der Tafelmalerei ist jedoch nach wie vor der von Krems eingeschlagene Weg, anhand von konkreten Werkanalysen sich dem Œuvre des Künstlers zu nähern, der einzig gangbare Ansatz. Völlig richtig ist zudem ihre Konzentration auf eine Kunstgeschichte nach Aufgaben, in ihrem Fall auf die Gattung des Altarbildes.
Nach einem einführenden Überblick über Raffaels römische Altarbilder (15ff) werden in zwei eingehenden Interpretationen die beiden Altartafeln, die im Zentrum der Studie stehen, untersucht (49ff. beziehungsweise 171ff.). Grundlegend werden das Dekorum des Auftrags, das heißt Aufstellungsort und Auftraggeberallusionen, geklärt. Ebenso werden die Narration der Gemälde und die Neuheit ihrer Umsetzung detailliert herausgearbeitet. Im Ergebnis kann die Autorin ihre These von der "Modernität" der Bildlösungen Raffaels klar vor Augen stellen: die thematisch und bildlogisch überzeugende Neuformulierung des jeweiligen Bildkonzepts korrespondiert mit einer Dynamisierung der Kompositionsstruktur. Nicht zuletzt auf Grund der Quellenstudien zu den Auftragsumständen der beiden Gemälde besitzen diese Ergebnisse eine Verbindlichkeit für die weitere Forschung. Das abschließende vierte Kapitel (275ff.) bietet eine zugleich gelehrte wie anschauliche Analyse der bildkünstlerischen Überlegungen, die Raffael im Kontext der Hochrenaissance geleitet haben dürften. Eine gezielte Aneignung der Antike, so das Ergebnis, werde nicht nur auf formaler, sondern auch auf inhaltlicher Ebene angestrebt. Zudem könne die überzeugende Visualisierung von Affekten nicht allein rhetorisch begründet werden, vielmehr müsse im Falle der Altartafeln eine Aktualisierung durch Begriffe aus der Passionsandacht vorausgesetzt werden. Neben der Relevanz der "varietà" schließlich erkundet Krems die demonstrative Umsetzung einer "vivacità" und unterstreicht das Verfahren verdeutlichender Antithesen in der Bildfindung. Gerade letztere werden als ein künstlerisches Leitmotiv Raffaels erkannt (299ff.), allerdings bezieht die Studie die von Leonardo als "retti contrari" definierten Kontrastverfahren nicht auf die Farbgebung der römischen Hochrenaissance.
Mit der "Thronenden Madonna mit dem Erzengel Raphael, Tobias und dem hl. Hieronymus" sowie der "Kreuztragung" (beide Madrid, Museo del Prado) hat die Autorin eine glückliche Wahl getroffen. Sie erhält damit als Analyseobjekte zwei miteinander konkurrierende Ausprägungen derselben Gattung. Erstere Tafel, die "Madonna del Pesce", steht in der Tradition der Sacra Conversazione und wird als "hieratisch-repräsentativ" gekennzeichnet, zudem fungierte sie als Andachtsbild in einer privaten Grabkapelle. Das zweite Bild, das vermutlich für einen Hochaltar bestimmt war, integriert dagegen Elemente des Historiengemäldes und kann solcherart zu Recht als "szenisch-narrativ" (11) deklariert werden. Bekanntlich hatte Sixten Ringbom (Icon to narrative. The rise of the dramatic close-up in fifteenth-century devotional painting, Abo 1965) für das Quattrocento eine Matrix der Konkurrenz des Narrativen und Repräsentativen erstellt, die Krems hier aktualisiert und gattungsspezifisch in Anschlag bringen kann.
Mit den Entstehungsdaten der beiden Tafeln konzentriert sich die Studie bewusst auf die spätere römische Schaffensphase des Künstlers, auf das Pontifikat Leos X., ohne jedoch eine fortschreitende Stilgeschichte schreiben zu wollen. Vielmehr kann sie die Epochenschwelle zum so genannten Spätwerk, die gemeinhin auf die Jahre 1515/16 datiert wird, kritisch hinterfragen (vgl. zuletzt Eva-Bettina Krems: Il nuovo Raffaello romano. Anmerkungen zum späten Raffael aus Anlass zweier Ausstellungen und einer Monographie; in: Kunstchronik 53, 2000, 453-468, hier 455ff.). Der Ansatz der Studie schlägt sich nieder in der Forderung nach einer Synthese der ästhetischen Analyse mit Aspekten der Frömmigkeitsgeschichte, das heißt mit Fragen der Ikonographie und des Dekorum des Aufstellungsortes: eine "Trennung zwischen der Bewunderung für die Kunst des Malers und der Funktion des Bildes als eines Andachtsgegenstandes für die Gläubigen kann nur eine Scheintrennung sein [...]" (47). Die Kohärenz der beiden Vektoren haben Rudolf Preimesberger in einer exemplarischen Analyse zur theatralischen Malerei der "Transfiguration" oder jüngst Christoph Wagner für die Farbgebung des frühen Raffael herausarbeiten können (siehe Rudolf Preimesberger: Tragische Motive in Raffaels "Transfiguration"; in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 50 (1987), 89-115, und Christoph Wagner: Farbe und Metapher. Die Entstehung einer neuzeitlichen Bildmetaphorik in der vorrömischen Malerei Raphaels, Berlin 1999). Künstlerische Ausführung und thematische Aufgabe gehen bei Raffael eine individuelle Verbindung ein, die sich immer in der Anschaulichkeit artikuliert und solcherart als Teil der historischen Betrachteransprache erschlossen werden kann.
Es kann hier nicht der Ort sein, die beiden monographischen Studien zu den Altarwerken zusammenzufassen. Vielmehr sei unterstrichen, dass es der materialreich argumentierenden Studie gelingt, die kunsttheoretischen Problemstellungen, denen sich Raffael und die römische Hochrenaissance ausgesetzt sahen, in der Analyse der malerischen Umsetzung zu eruieren und auszudeuten. In einem doppelten Sinn erweisen sich die Ergebnisse dabei als grundlegend. Zum einen in der Konsequenz und Stringenz der Interpretation und Kontextbildung, die Krems für die "Madonna del Pesce" und "Lo Spasimo di Sicilia" vorlegen kann. Zum anderen wird immer wieder Grund gelegt mit der Rückkehr zu den anschaulichen Bedingungen, die der Interpretin wie dem Lesenden in Gestalt der beiden Altartafeln vor Augen stehen. Die jeweilige thematisch wie zugleich auch ästhetische Einheit der Altartafeln aus Raffaels römischem Œuvre werden dadurch anschaulich entwickelt und begriffsgeschichtlich historisiert.
Eingedenk bleibt der Analyse dabei immer der Vorbehalt der Autorin gegenüber der kunsttheoretischen, insbesondere rhetorisch orientierten Reflexion der Zeitgenossen, die der "Modernität" der Bilder als nachlaufend gedacht werden müsse. Einmal mehr erweist sich nämlich hier, in Bezug auf das fatto storico sacro, ihr Ansatz als überzeugend, den Kunsttraktaten "konkrete literarische, aus einer mittelalterlichen Tradition stammende Texte" (279) flankierend beiseite zu stellen und die kunstwissenschaftliche Ausrichtung in ausschließlich literaturtheoretischen Kriterien kritisch hinterfragen zu wollen. Krems gelingt dadurch die Sichtbarmachung eines "Erzählkonzepts", das die "historia" des römischen Raffael kennzeichne (277ff.). Dieses Erzählkonzept wird in einer wesentlich differenzierteren Form greifbar als es die bisherigen, vorrangig an rhetorischen Modellen orientierten Forschungen leisten konnten. Keineswegs leugnet die Autorin die begriffsgeschichtliche Fundierung, die die Wirkungsästhetik durch die Rhetorik erhält und erhalten muss. Auch ihre Analyse macht sich den Sachverhalt zunutze, dass die "neuzeitlichen Forderungen und praktischen Beispiele von der antiken Formenwelt und den Prinzipien antiker Rhetorik kaum zu trennen sind" (287f.). Doch sollte ihre Überlegung aufgegriffen werden, dass im allfälligen Wettstreit der Künste die Malerei zum Teil über die Dichtung gestellt wurde und solcherart eine unmittelbare Übertragung literaturtheoretischer Prinzipien auf die konkurrierende Gattung problematisch gewesen sein muss (310f.). Somit ist die vorliegende Studie ein anschauliches und überzeugendes Plädoyer, die im Kunstwerk jeweils individuell gefundene Bildlösung als eine von Raffael zielgerichtet betriebene Metamorphose bereits bestehender Bildfindungen zu verstehen. Und diese Metamorphose betrifft nicht nur, das macht Krems deutlich, die Kompositionsstruktur oder die Vielfalt der Affektmalerei, sondern ebenso die thematische Aussage wie auch die Einbindung in das Dekorum des Ortes.
Andreas Henning