Rezension über:

Sebastian Prüfer: Sozialismus statt Religion. Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863-1890 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 152), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 391 S., ISBN 978-3-525-35166-6, EUR 42,00
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Rezension von:
Todd Weir
Columbia University, New York
Redaktionelle Betreuung:
Rüdiger Graf
Empfohlene Zitierweise:
Todd Weir: Rezension von: Sebastian Prüfer: Sozialismus statt Religion. Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863-1890, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 3 [15.03.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/03/1464.html


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Sebastian Prüfer: Sozialismus statt Religion

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Gehörte der Antiklerikalismus der frühen Sozialdemokratie zur Säkularisierung der Politik oder verbarg sich hinter ihm der Kampf einer "politischen Religion" mit der transzendenten Religion? Mit dem programmatischen "statt" des Titels versucht Sebastian Prüfer einen Ausweg aus diesem Entweder /Oder zu finden, das die Historiografie zum Verhältnis von Sozialismus und Religion lange Zeit prägte. Dies gelingt ihm durch eine methodisch innovative Diskursanalyse, die sowohl Religion als auch Antiklerikalismus auf der Ebene eines "Religionsdiskurses" einbezieht und dadurch den starren Gegensatz aufbricht.

In der Druckfassung seiner Dissertation (Freie Universität Berlin, 1999) geht Prüfer zunächst vom Grundergebnis der älteren Forschung aus, dass zwischen 1863 und 1890 die Sozialdemokratie stark religionskritisch blieb, jedoch die vielen religiösen und auch radikal antiklerikalen Elemente, die aus dem Vormärz noch mitschwangen, nach und nach ablegte. Prüfer kritisiert jedoch solche Erklärungen, die von einem Diffusionsmodell ausgehen, in dem die marxsche Religionskritik oder die taktischen Überlegungen der Parteispitze den Prozess vorangetrieben haben sollen. Anhand einer beachtlichen Materialsammlung von Äußerungen zur Religion aus rund sechzig sozialistischen Zeitschriften und Kongressprotokollen zeigt Prüfer überzeugend, dass die religiöse Frage offener, wichtiger und umkämpfter war als bisher angenommen.

Der Vorteil von Prüfers Methode besteht zum Beispiel gegenüber einer Rezeptions- oder Ideologiegeschichte darin, dass man mit dem Diskursbegriff Ideen, Ideologien, Mentalitäten und kollektive Identitäten auf einer sprachlichen Ebene erfassen kann. Als Diskurse definiert Prüfer "analytisch zu de- und rekonstruierende 'Denk- und Argumentationssysteme'", die nur durch eine "politik-, sozial- und kulturgeschichtliche Kontextualisierung" über ihre "Diskursautoren" und "-gemeinschaften" zu erfassen sind (27). Die diskurstheoretische Begrifflichkeit mag manch einen Leser befremden, jedoch erweist sich dieser Ansatz als ein überzeugender Weg, um Sozial-, Mentalitäts- und Religionsgeschichte miteinander zu verknüpfen.

Zuerst steckt Prüfer den Rahmen des sozialdemokratischen Religionsdiskurses ab. Den hohen Stellenwert und die Unabgeschlossenheit der religiösen Frage (Kapitel 1.1.) zeigt er am Beispiel August Bebels. Dieser verbrachte seine Festungshaft 1872 mit der Lektüre der Hauptwerke des naturwissenschaftlichen Materialismus und der Übersetzung von religionskritischen Werken. In Parlamentsreden von 1877 und 1881 bezeichnete Bebel den Sozialismus, den Republikanismus und den Atheismus als die drei Eckpfeiler des Fortschritts.

In Kapitel 1.2. werden die Topoi des Religionsdiskurses erläutert, die sämtlich kirchenkritisch und mit wenigen Ausnahmen (zum Beispiel der Vorbildfunktion der urchristlichen Gemeinschaft) auch religionskritisch waren. Hier traf populäre "Pfaffenschelte" auf "bürgerliche Religionskritik". Die Topoi basierten auf den Gegensätzen Dogma/Wahrheit, Heuchelei/Ehre, Glaube/Wissen, Unsitte/Sitte und wurden den Kirchen sowie dem Fortschritt und dem Sozialismus zugeordnet. Mal wurden sie scharf antiklerikal aufgefasst, um Existenz und Existenzrecht der Kirchen in Frage zu stellen. Mal wurden sie einem historischen Schema zugrundegelegt, um den wissenschaftlichen Sozialismus als den nächsten logischen Schritt eines Entwicklungsprozesses darzustellen, zum Beispiel als höhere Stufe der Sittlichkeit oder Kultur.

Die überwiegend antiklerikale Einstellung des sozialdemokratischen Religionsdiskurses stand im Kontrast zu ihrem religionspolitischen Programm (Kapitel 1.4.), das mit der Formel der "Erklärung der Religion zur Privatsache" höchst ambivalent war. Prüfer zeichnet nach, wie Wilhelm Liebknecht kurzfristig auf dem Gothaer Vereinigungskongress der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands im Mai 1875 diese Formel "erfand", die je nach Auslegung die religiöse Frage in der Parteiöffentlichkeit ausgrenzen oder fördern konnte. Damit trug sie dem Wunsch Rechnung, einerseits die gläubigen Wähler und Arbeiter vor allem in ländlichen und katholischen Gegenden nicht zu verprellen, und andererseits den hohen Stellenwert des Antiklerikalismus im Selbstverständnis der aktiven SPD-Mitglieder anzuerkennen.

Mit der Verwendung von Lepsius' Milieu-Theorie zeigt Prüfer die Interaktionen des sozialdemokratischen mit den anderen Religionsdiskursen des 19. Jahrhunderts (Kapitel 1.3.). Hier erweist sich sein methodischer Ansatz als besonders tragfähig und zukunftsweisend für die Erforschung des Zusammenhangs zwischen Milieus und Konfessionen im Kaiserreich. Denn über den "Religionsdiskurs" kann der Antiklerikalismus der Sozialdemokratie zusammen mit den Prozessen der Abgrenzung, Vereinnahmung und des Konflikts zwischen den konfessionellen Milieus gedacht werden.

Prüfer hebt die Bedeutung des Schreckgespenstes des Atheismus bei der Unterstützung der drei nicht sozialistischen Milieus für die Sozialistengesetze hervor. Interessant in dieser Hinsicht ist vor allem die Teilnahme auch des religionskritischen Flügels des "liberalen Milieus" an diesem Aspekt der "negativen Integration" der Sozialdemokratie.

Die zweite Hälfte des Buches wendet sich vier "Antworten" auf die religiöse Frage zu. Die erste war die von Freidenkern, Freireligiösen und "ethischen Sozialisten" geforderte Inanspruchnahme des Religionsbegriffes durch die Sozialdemokratie und seine Ausfüllung mit einem modernen, diesseitigen, humanistischen Inhalt (Kapitel 2.1.). Hier fördert Prüfer neue Erkenntnisse zu Tage über die wichtige Rolle dieser jetzt weitgehend in Vergessenheit geratenen Gruppierungen der Sozialdemokratie. Er ergänzt damit die Studie von Jochen-Christoph Kaiser über die "proletarischen Freidenker", die nach dem Ersten Weltkrieg und insbesondere nach 1928 eine rege religionskritische Tätigkeit entfalteten.

Die zweite gescheiterte Option stellte der radikale Antiklerikalismus dar, der vor allem in der Kirchenaustrittskampagne Johann Mosts 1878 zum Ausdruck kam (Kapitel 2.2.). Diese ersten zwei Optionen werden von Prüfer als zum Teil sektiererische Nebenströmungen in der Sozialdemokratie beschrieben, die von der Parteispitze als gefährlich erkannt und dementsprechend bekämpft wurden.

Hinter der dritten und der vierten Antwort auf die religiöse Frage standen keine Parteiungen, die sich in programmatischen Theorien geäußert haben. Sie sind insofern Entwürfe des beobachtenden Historikers. Zunächst kam die Vorstellung vom "Sozialismus als Religion" in den persönlichen Bekenntnissen vieler Sozialdemokraten zum Ausdruck. Prüfer weist auf die breite Übernahme der christlichen Metaphorik und Denkstrukturen hin, unter anderem in der Messias-Figur und in den Ritualen des Lassalle-Kultes.

Die zweite und letztlich "dominante" Antwort im sozialdemokratischen Milieu war "Sozialismus statt Religion". Sozialdemokratie ersetzte nicht so sehr die Religion, als dass sie "in Funktionssegmenten der Sinnorientierung und Lebensbewältigung an die Stelle der christlichen Religion trat, in der sie [die Mitglieder und Sympathisanten der Sozialdemokratie] zum ganz überwiegenden Teil sozialisiert worden waren" (342). Diese Tendenz wurde von der den "Diskurs 'überwachenden' Parteielite" befördert, "da 'Sozialismus statt Religion' als Element sozialdemokratischer Deutungskultur die heterogenen innerparteilichen Positionen vom stark religionskritisch Bewegten bis zum Traditionschristen vermitteln zu können schien [...]" (342).

"Sozialismus statt Religion" ist auch Prüfers programmatischer Beitrag zu den Debatten über Säkularisierung und "politische Religion". Er zeigt die künstliche Verengung des Theorems der "politischen Religion" auf die "totalitären" Regime des 20. Jahrhunderts, indem er fragt, ob nicht jeder Religionsdiskurs in seiner milieustiftenden Funktion zwangsläufig "politische Religion" produziert (330-333).

Das Wort "statt" wurde wegen seiner Zweideutigkeit gewählt, da Prüfer Sozialismus an Stelle von und zugleich in Abwendung von der Religion (und des radikalen Antiklerikalismus) sieht. Seine Studie schließt mit dem paradoxen Fazit: "Die frühe deutsche Sozialdemokratie blieb in der religiösen Frage in einem Zwiespalt," denn einerseits bemächtigte sie sich des wissenschaftlichen Diskurses und lehnte eine religiöse Selbstbegründung ab, andererseits knüpfte sie an das "visionäre Erbe des jüdisch-christlichen Denkens" an (350).

Vielleicht kommt man nicht um ein solches Paradox herum, wenn es darum geht, Prozesse der Ent- und Wiederverzauberung der Welt in ihrer Gleichzeitigkeit zu zeigen. Nur ist überraschend, dass eine analytisch so durchdachte Studie wie diese ihre theoretische Botschaft erst auf den letzten zehn Seiten des Hauptteils verkündet, und das mit einem Konzept, das selbst ent- und doch wiederverzaubernd wirkt.

Ein weiterer problematischer Aspekt des Aufbaus ist, dass der Anschein erweckt wird, als seien die "religiösen" Optionen (Freireligiösität, radikaler Atheismus und zum Teil auch ethischer Sozialismus) mit gewissen Zäsuren im Untersuchungszeitraum endgültig "gescheitert". Wirft man jedoch einen Blick auf die Kirchenaustrittsbewegung vor und nach dem Ersten Weltkrieg oder auf den freigeistigen Hintergrund vieler führender USPD- Mitglieder (zum Beispiel Ernst Däumig, Adolph Hoffmann, Curt Meyer und Kurt Löwenstein), scheinen diese "Optionen" immer weiter bestanden zu haben.

Obwohl die Annahme von Lepsius' vier Milieus überzeugend gerechtfertigt wird, scheint Prüfers Zuordnung von Demokraten, Freisinnigen und Nationalliberalen sowie Kulturprotestanten und Freidenkern zum selben Milieu insofern eine fragwürdige Komplexitätsreduktion zu sein, als er selber später konstatiert, dass die Annahme eines eindeutigen liberalen Milieus oder Religionsdiskurses "anfechtbar" sei (340).

Diese wenigen Einwände sollen die Gesamtbewertung nicht trüben, dass Prüfer ein analytisch nuanciertes und schön geschriebenes Buch vorgelegt hat, das die Buntheit und Bewegtheit der Kämpfe um die Religion in der frühen Sozialdemokratie plastisch vermittelt.


Todd Weir