Rezension über:

Uwe Fraunholz: Motorphobia. Anti-automobiler Protest in Kaiserreich und Weimarer Republik (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 156), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 304 S., 6 Tab., 10 Schaub., 5 Abb., ISBN 978-3-525-35137-6, EUR 34,00
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Christoph Maria Merki: Der holprige Siegeszug des Automobils 1895-1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien: Böhlau 2002, 471 S., 44 s/w-Abb., ISBN 978-3-205-99479-4, EUR 45,00
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Rezension von:
Alexa Geisthövel
Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Rüdiger Graf
Empfohlene Zitierweise:
Alexa Geisthövel: Geschichte des Automobils (Rezension), in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 1 [15.01.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/01/2898.html


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Diese Rezension ist Teil des Forums "Sammelrezension: Geschichte des Automobils" in Ausgabe 3 (2003), Nr. 1

Geschichte des Automobils

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Das Auto ist uns als ubiquitäres "Alltagsding" vertraut [1]. Ob lustvoll, leidend oder pragmatisch nehmen wir seine Allgegenwart als selbstverständlich hin. Das aus einer Dissertation hervorgegangene Buch von Uwe Fraunholz und die nun publizierte Habilitationsschrift von Christoph Maria Merki widmen sich der Frühgeschichte dieses "Leitfossils" der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie blicken dabei auf einen Zeitraum zurück, der kurz vor 1900 mit dem erstmaligen Gebrauch von Automobilen einsetzt und um 1930 abschließt, als der Personenkraftwagen zu einem akzeptierten und verbreiteten, wenngleich noch längst nicht allgemeinen Individualtransportmittel avancierte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das "Auto" in Europa - wie zuvor in den USA - eine demokratische Fortbewegungsware.

Beide Arbeiten gewinnen ihre Fragestellungen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die Zwischenkriegszeit erscheint, bei Fraunholz mehr als bei Merki, recht pauschal als Fortsetzung von Entwicklungen, die um 1900 ihren Anfang nahmen. Qualitativ neuen Dynamiken in den Zwanzigerjahren wird dagegen kaum nachgegangen. Beide Autoren grenzen sich von Erfolgserzählungen ab, die als Technik- oder Unternehmensgeschichten von der "Erfindung" des Automobils geradlinig auf dessen - in seiner überlegenen Technik bereits vorgezeichnete - "Durchsetzung" als Massentransportmittel zuschreiben. Dagegen setzt Fraunholz "eine gesellschaftswissenschaftlich orientierte Geschichte der Motorisierung", die die "sozialen Begleiterscheinungen der Automobilisierung ins Zentrum der Analyse" stellt (13) und nicht zuletzt modernisierungstheoretische Herangehensweisen um die Perspektive der "Modernisierungsgeschädigten" (12) ergänzen will. Merki geht es um das Wechselspiel zwischen der "Anpassung des Automobils an die Bedürfnisse der Gesellschaft" und der "Anpassung der Gesellschaft an das Automobil" (20).

Fraunholz zeichnet zunächst die "Grundzüge der Motorisierung des Straßenverkehrs" nach. In vier Abschnitten behandelt er "Ursachen und Manifestationsbedingungen des Protests", präsentiert eine quantitative Auswertung des Motorisierungsprotests und analysiert verschiedene gewalttätige und gewaltlose Formen der "Motorphobia". Einem Kapitel über staatliche Interventionen folgt abschließend ein Blick auf die "Autofeindschaft" in anderen europäischen Ländern und den USA.

Ähnlich verfährt Merki, der zum Auftakt einen dichten motorisierungshistorischen Kontext herstellt: zur Geschichte des Personenkraftwagens gehört die Ablösung von Pferdedroschken und -Omnibussen durch Taxis und Autobusse bis etwa 1930, der Durchbruch zum motorisierten Güterverkehr per Lkw im Ersten Weltkrieg, die große Verbreitung des Motorrades vor allem im Deutschland der Zwanzigerjahre. Es folgt eine Darstellung der Widerstände gegen das Automobil, doch anders als Fraunholz beschäftigt sich Merki mit der Auto-Sympathie ebenfalls in einem großen Kapitel. Ein dritter Teil ist den "Leitplanken der Politik" gewidmet, den Reaktionen und Auswirkungen der Verkehrs- bzw. Steuer- und Infrastrukturpolitik auf den zunehmenden Automobilverkehr.

Die problemorientierte Neufassung der frühen Autogeschichte gelingt innerhalb der beiden Texte unterschiedlich gut. Bemerkenswert sind die oft kollektiven, zum Teil äußerst gewalttätigen Aktionen gegen den frühen Automobilverkehr. Nicht nur Pannen, sondern auch Beschimpfungen und handgreifliche Aggressionen dürften demnach zu den Erfahrungen sehr vieler früher Autofahrerinnen und Autofahrer gehört haben. Fraunholz macht drei markante Züge der "Motorphobia" aus:

Automobilprotest war ein Phänomen der ländlichen Lebenswelt. Insbesondere in Regionen, die nicht Ziel-, sondern Durchfahrtgebiet waren und von touristischer Mobilität kaum profitierten, wurden Fahrzeuge und Fahrer überdurchschnittlich häufig Ziel autofeindlicher Aktionen. Kinder und Jugendliche warfen Steine, platzierten Nägel und Scherben auf der Straße, nicht selten mit Unterstützung erwachsener Dorfbewohner und Billigung der Dorfpolizei. Fuhrleute ließen nicht überholen, stellten sich quer oder griffen zur Peitsche.

Die Straße war nicht nur auf dem Lande ein automobil umkämpfter öffentlicher Raum. Auch in den Städten wurden langsamere Verkehrsteilnehmer an den Rand oder auf die Bürgersteige gedrängt. Auseinandersetzungen mit Radfahrern traten dabei erst in den Zwanzigerjahren vermehrt auf; zuvor waren Auto- und Radfahrer sogar in gemeinsamen Vereinen organisiert. Verbreitete, weniger gravierende Protestformen wie Steinewerfen praktizierten auch in den Städten vor allem Kinder und Jugendliche, die sich vor dem Verkehr von der Straße in die Höfe zurückziehen mussten.

Konflikte ergaben sich nicht allein aus der Kollision unterschiedlicher Bewegungstempi und -modi; bei autofeindlichen Aktionen scheint es sich fast immer auch um Distinktionskonflikte gehandelt zu haben. Hohe Anschaffungs- und Unterhaltskosten machten das Automobil in den frühen Jahren zum Privileg der Besitzenden. Wenn rücksichtslose "Herrenfahrer", von raumgreifenden Staubwolken gefolgt, über poröse Landstraßen rasten, sahen sich von Fragen des Sports und des Geschmacks unberührte Zeitgenossen demonstrativer Nötigung ausgesetzt. Vor allem der nutzlose Geschwindigkeitsexzess bei Autorennen wurde von Anwohnern, meist im Verein mit lokalen und regionalen Behörden, zum Teil intensiv bekämpft.

Fraunholz berichtet zudem von Fällen, in denen der Tod von Fahrerinnen und Fahrern in Kauf genommen oder vorsätzlich herbeigeführt wurde. Gefährlich waren über die Straße gespannte Drahtseile, sodass die Automobilhersteller eigens Durchschneidevorrichtungen entwickelten. Unmittelbar vom Kriegsausbruch waren im Sommer 1914 eine Reihe von tödlichen Schüssen auf Fahrerinnen und Fahrern geprägt, die Opfer einer Spionage-Paranoia wurden.

Hier lässt sich einwenden, dass die Bereitschaft, gegen autofahrende Personen tödliche Gewalt anzuwenden, ebenso wie prämierte Denunziationen oder Vandalismus gegen Automobile erst einmal in den Kontext zeitgenössischer Normen und Praktiken der Gewalt gestellt werden müsste, um ihre autospezifischen Dimensionen freizulegen. Auch die Erhebung kommunaler Straßennutzungsgebühren ("gewaltlose Autofeindschaft") hatte mit Motorphobie vermutlich wenig zu tun. Insgesamt stehen Fraunholz' Diagnosen auf einer relativ schwachen empirischen Grundlage. Sein Sample von Protesthandlungen stützt sich auf die Berichterstattung in fünf deutschen Automobilzeitschriften zwischen 1902 und 1932. Diese Foren der Automobillobby haben autofeindliche Aktionen aufmerksam verzeichnet, allerdings fragt sich selbst mit Rücksicht auf den geringen Autoverkehr der frühen Jahre, ob die 372 registrierten Protestfälle als Datenbasis durchgehen können. So ermittelt Fraunholz in neun Prozent der Fälle den Tatbestand "Behinderung freier Fahrt", was bei insgesamt 39 berichteten Fällen in einem Zeitraum von 30 Jahren schwerlich das Indiz einer kollektiven Proteststrategie und spezifisch motorphobischen Haltung ergibt. Die Hinzunahme weiterer Quellengattungen hätte nicht nur das Sample verbreitert, sondern auch zusätzliche Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand eröffnet. Fraunholz hebt selbst hervor, wie wichtig die zahlreichen Berichte über Unfälle und rücksichtsloses Fahren in Amts- und Lokalzeitungen für den ländlichen Antiautomobilismus gewesen seien (197), wertet aber kein einziges solches Blatt aus. Verschiedene Konfliktsituationen werden geschildert; verdichtete Fallstudien, die Handlungsgefüge und Dynamiken des antiautomobilen Protests analysieren könnten, fehlen dagegen. Angeboten hätten sich beispielsweise die Aktivitäten des hessischen Landwirts Philipp Köhler, Reichs- und Landtagsabgeordneter, Antisemit und Mitglied im Bund der Landwirte, der 1910 gegen den Automobilverkehr agitierte (198/199).

Dagegen setzt Merki, der sich in seinem Kapitel über die Widerstände gegen das Automobil zum großen Teil auf Fraunholz' (noch unpublizierte) Dissertation stützt, geschickt ein signifikantes "Kuriosum" ein, um anti-automobile Motivationen und Handlungen herauszuarbeiten: Der Graubündener Autoboykott machte den größten, am dünnsten besiedelten Schweizer Kanton von 1900 bis 1925 zu einer autofreien Zone. Mit direktdemokratischen Partizipationsmöglichkeiten kamen in der Schweiz - im Vergleich zu anderen europäischen Ländern - zusätzliche Formen des Protests ins Spiel. Die (männlichen) Graubündener Wahlbürger bestätigten in mehreren Volksabstimmungen immer wieder das Verbot jeglichen Automobilverkehrs, zur Enttäuschung ihrer Regierungen.

Zudem stellt Merki den autophoben Aktivitäten jene gegenüber, die das Projekt "Automobilverkehr" forcierten und ihm zum Erfolg verhalfen. Bei der Lektüre von Fraunholz' Buch fragt man sich gelegentlich, wieso sich überhaupt jemand autofahrend auf die Straße wagte. Die von Merki so genannte "automobile Lebenswelt" formierte sich vor allem in distinguierten Clubs. In Frankreich und der Schweiz standen sportlich-gesellige Anliegen im Vordergrund. In Deutschland dominierten wissenschaftlich-technische; außerdem lieh der Kaiser dem Automobil seine Protektion. Mit Lobbyarbeit, spektakulären Rennen und Ausstellungen wurde in der Öffentlichkeit eine elegante, zukunftsweisende, den individuellen Bewegungsspielraum erweiternde Technik vorgeführt.

Die von Merki behauptete Schlüsselposition von Journalisten in der "automobilen Lebenswelt" ("Milieukohäsion", "Diskurskontrolle", 303 ff.) wird jedoch nicht belegt. Das Widerstreben, ein weiteres Mal die Diskurse um das Automobil aufzurollen, hinterlässt eine Lücke. Ebenso kommen Repräsentationen des Autofahrens, des Automobils, seiner Nutzer- und Gegner/innen zu kurz. Fraunholz schneidet in einem Abschnitt über "intellektuelle Automobilkritik" immerhin Verbindungen etwa zum Nervositätsdiskurs an. Der Vergleich nationaler Automobilkulturen, bei Merki systematisch, bei Fraunholz eher kursorisch angelegt, ist nicht immer aufschlussreich und erschöpft sich zuweilen in der Aneinanderreihung von Daten aus den Vergleichsländern. Historische Vorläufer des Automobilprotests bleiben in beiden Studien unterbelichtet: Bereits die Pioniere moderner Selbstbeweglichkeit, die Radfahrer, sahen sich einige Dekaden früher in ländlichen Gegenden mit Steinwürfen und Drahtseilen attackiert [2]. Bei Merki verstellt die Geringschätzung der "Essayisten, Weltverbesserer und 'Philosophen'" (24) zudem den Blick auf inspirierende Deutungsangebote. Es hat nichts mit empiriefernem Schwadronieren zu tun, das Auto beispielsweise als Teil einer "kinetischen Revolution" (Ruppert, 143) zu betrachten, in der Geschwindigkeit, Selbststeuerung und ungebundene Zirkulation imaginär wie praktisch neue Maßstäbe setzten.

Beide Autoren kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Nach den zum Teil massiven Widerständen gegen den Automobilverkehr bis zum Ersten Weltkrieg zeichnet sich in den Zwanzigerjahren eine Trendwende ab. Dies ist der Zunahme "nützlicher" Gebrauchsweisen wie Warentransport und Arbeitsmobilität zuzurechnen, die gegenüber sportlichem oder Vergnügungsverkehr mit sehr viel größerer Zustimmung rechnen konnten. Wichtig für diesen Prozess waren außerdem staatliche Interventionen, die eine Pazifizierung des Straßenverkehrs und eine gewissen Abfederung der "sozialen Kosten" (Merki) beinhalteten: Straßenbeläge wurden dem neuen Fahrzeug nach und nach angepasst und der Verkehr mit Zeichen öffentlich reguliert, zuverlässige Messverfahren für Geschwindigkeiten etablierten sich langsam, die Besteuerung der Fahrzeughalter sowie Initiativen zur Verkehrserziehung trugen zur Akzeptanz des Automobils bei. Und nicht zuletzt wurde die Autoindustrie in den Zwanzigerjahren zu einem volkswirtschaftlich bedeutenden Faktor.

Die beiden Arbeiten haben - dieses Wortspiel sei gestattet - eine schwierige Anfahrt am Berg versucht. Es bleibt zu wünschen, dass die sozial- und kulturhistorische Erforschung des Automobilverkehrs bald weiter in Fahrt kommt.


Anmerkungen:

[1] Wolfgang Ruppert: Das Auto. "Herrschaft über Raum und Zeit", in: Ders. (Hg.): Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge, Frankfurt am Main 1993, 119-161.

[2] Für diesen Hinweis danke ich Anne-Katrin Ebert, Bielefeld.

Alexa Geisthövel