Rezension über:

Carl-Hans Hauptmeyer / Jürgen Rund (Hgg.): Goslar und die Stadtgeschichte. Forschungen und Perspektiven 1399-1999 (= Beiträge zur Geschichte der Stadt Goslar; Bd. 48), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2001, 320 S., ISBN 978-3-89534-349-0, EUR 24,00
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Rezension von:
Matthias Meinhardt
Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Holger Zaunstöck
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Meinhardt: Rezension von: Carl-Hans Hauptmeyer / Jürgen Rund (Hgg.): Goslar und die Stadtgeschichte. Forschungen und Perspektiven 1399-1999, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 12 [15.12.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/12/2935.html


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Carl-Hans Hauptmeyer / Jürgen Rund (Hgg.): Goslar und die Stadtgeschichte

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Aus Anlass der 600-Jahr-Feier des Goslarer Stadtarchivs veranstalteten das Niedersächsische Institut für Historische Regionalforschung e.V. in Hannover und die Stadt Goslar 1999 ein Symposium. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, dokumentiert der hier zu besprechende Band die Referate dieser Tagung und spannt dabei zeitlich einen weiten Bogen, der vom Hohen Mittelalter bis zum Nationalsozialismus reicht.

Am Anfang des Bandes steht ein Beitrag von Jürgen Bohmbach über Struktur und Entwicklung des niedersächsischen Archivwesens. Der Text spiegelt anschaulich die Defensive, in die insbesondere Kommunalarchive durch die Sparpolitik der Städte und Gemeinden geraten sind.

Einen Epochen übergreifenden Versuch, den Zusammenhang von "Stadt und Nation in Deutschland" zu erhellen, unternimmt anschließend Wilhelm Ribhegge (25 ff.). Dabei bedient er sich zum Teil problematischer Begriffe, wie etwa dem der "Adelsnation", mit dem er "Deutschland im 10. Jahrhundert" charakterisiert (27). Die bereits bis in die Handbuchliteratur vorgedrungenen Zweifel daran, dass für diese Zeit überhaupt von irgendeiner Art von 'deutscher Nation' gesprochen werden kann, vermag er jedoch nicht auszuräumen. Auch führt er ausgerechnet Heinrich den Löwen als typisches Beispiel für einen mittelalterlichen Fürsten an, der systematisch Städte gegründet und ausgebaut habe (28). Damit ignoriert er den aktuellen Forschungsstand, denn vom einstigen Bild des 'Städtegründers Heinrich' hat sich die moderne Mediävistik weitgehend verabschiedet.

Die übrigen Beiträge des Sammelbandes sind nach Epochen geordnet. Am Anfang steht in der Regel ein Übersichtsaufsatz über Schwerpunkte und Entwicklung der allgemeinen stadtgeschichtlichen Forschung zu der jeweiligen Epoche, auf den dann speziellere Arbeiten zur Goslarer Geschichte folgen.

Im ersten der vier Übersichtsaufsätze versucht Franz Irsigler, die aktuellen Tendenzen der Forschung zur mittelalterlichen Stadt zu skizzieren. Doch sein Bild gerät arg verzerrt. Der Blick beschränkt sich zu sehr auf die süd- und westdeutsche Forschung, mittel- und ostdeutsche Gebiete kommen nur am Rande vor; Forschungen aus und über Norddeutschland vermisst man ganz. Schon ein flüchtiger Blick auf die zahlreichen Untersuchungen zu den norddeutschen Hansestädten zeigt, dass dies kein überzeugendes Vorgehen ist. Gelungener sind hingegen die Forschungsüberblicke, die sich den neuzeitlichen Zeitabschnitten widmen. Carl-Hans Hauptmeyer benennt in seinem Beitrag nicht nur wesentliche Hauptlinien der stadtgeschichtlichen Frühneuzeitforschung, sondern plädiert außerdem für die Lösung von der traditionellen Epochengrenze zwischen dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit im 16. Jahrhundert (119 ff.). Kontinuitäten scheinen ihm zwischen 1250 und 1750 so charakteristisch, dass er empfiehlt, diesen Zeitraum in der Stadtgeschichte als Einheit zu betrachten. Gerade Goslars Entwicklung hält er für geeignet, dieses zwar nicht ganz neue, aber dennoch bedenkenswerte Epochenkonzept zu stützen. Allerdings scheinen weder die übrigen Autoren des Bandes noch Hauptmeyers Mitherausgeber sich dieser Meinung angeschlossen zu haben, folgen doch der Sammelband insgesamt wie auch die meisten Einzelbeiträge weitgehend konventionellen Epochengrenzen.

Sehr konzentriert beschreibt ein Aufsatz von Clemens Zimmermann Schwerpunkte stadtgeschichtlichen Forschens über das 19. und frühe 20. Jahrhundert. Detlef Schmiechen-Ackermann verweist in seinem Aufsatz über die Stadt im Nationalsozialismus zunächst auf die Ambivalenz von städtefeindlichen Komponenten in der nationalsozialistischen Ideologie und der zentralen Funktion, die den Städten für Aufstieg und Herrschaft des Nationalsozialismus zukam. Im Weiteren skizziert er dann Schwerpunkte der regionalhistorischen Forschung zur Stadt in den Jahren 1933-45. Stärker als den anderen Autoren der Übersichtsbeiträge gelingt es ihm, Bezüge zwischen der Geschichte Goslars und den Schwerpunkten der allgemeinen Stadtgeschichtsforschung aufzuzeigen.

Anders als die bisherige Forschung über Goslar, die sich vor allem mit der mittelalterlichen Geschichte der Harzstadt beschäftigte, richtet der vorliegende Band sein Augenmerk besonders auf jüngere Zeitabschnitte. Lediglich ein solider Überblick über die Forschung zur mittelalterlichen Stadtgeschichte Goslars von Sabine Graf und ein Beitrag von Hannelore Dreves, der die zunehmende Kommunalisierung und Institutionalisierung des Goslarer Armenwesens um 1500 behandelt, sind der Zeit bis zum 16. Jahrhundert gewidmet.

Mit der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung Goslars in der Frühen Neuzeit setzt sich der Aufsatz von Angelika Kroker auseinander. Die in der Forschung lange tradierte These von den 'erstarrten Verfassungsstrukturen' der frühneuzeitlichen Stadt möchte die Autorin angesichts der von ihr beobachteten Konflikte und Wandlungen zu Recht in Zweifel ziehen. Allerdings kann man sich an dem allzu sehr auf die Ratsstruktur verengten Verfassungsbegriff der Autorin stören. Das für die Goslarer Stadtgeschichte noch vergleichsweise junge Feld der Frauen- und Geschlechtergeschichte betritt Ingeborg Titz-Matuszak mit einem Beitrag zu Eherecht und Ehealltag. Insbesondere die Praxis der Eheschließung und die bewusst erschwerte Trennung von Eheleuten werden behandelt.

Ralf Tappe beschreibt den Weg der neuzeitlichen Armenpolitik in Goslar von den frühneuzeitlichen Verhältnissen hin zur Ausbildung einer kommunalbehördlichen Armutsfürsorge moderner Prägung. Damit verfolgt er gewissermaßen den Entwicklungsstrang, den Hannelore Dreves für die Zeit um 1500 in den Blick genommen hat, bis ins frühe 20. Jahrhundert weiter. Zeitlich enger konzentriert behandelt Martin Stöber wesentliche Aspekte der Goslarschen Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts.

Zwei Beiträge des Sammelbandes widmen sich der Geschichte Goslars in der Spätzeit der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Nach der Mitverantwortung der Goslarschen Zeitung für den Aufstieg des Nationalsozialismus fragt Frank Heine und kommt zu dem Schluss, dass sich die zunächst eher der DVP nahe stehende Tageszeitung ab 1932 offensiv für Hitler eingesetzt und damit maßgeblich zu den nationalsozialistischen Wahlerfolgen in der Spätphase der Weimarer Republik in der Harzstadt beigetragen habe. Der Funktion Goslars als "Reichsbauernstadt", der Bedeutung des Rammelsberges in der NS-Zeit und der bis in die Gegenwart reichenden Langlebigkeit nationalsozialistisch geprägter Geschichtsbilder geht der Aufsatz Peter Schygas nach. Der Rammelsberg verdanke seine montanwirtschaftliche Nutzung über die Grenzen ökonomischer Rationalität hinaus vor allem der nationalsozialistischen Autarkiepolitik und einer ideologisch-mythischen Überhöhung. Bis heute fehle es an einem Bewusstsein dafür, dass man das heute zum Weltkulturerbe gezählte Bergwerk nicht zuletzt als ein Zeugnis nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik und Ideologie betrachten müsse.

Eine große Stärke des vorliegenden Sammelbandes liegt in der Präsentation mehrerer neuerer Forschungen. Nicht zuletzt mit den Untersuchungen von Kroker über die frühneuzeitlichen Verfassungsstrukturen oder den kritischen Betrachtungen zum Rammelsberg bei Stöber und Schyga scheint das Stemmeisen an die Mauern verfestigter Klischees über die Goslarer Stadtgeschichte angesetzt zu sein. Das in der Einleitung formulierte Ziel, mit den Übersichtstexten den Stand der stadtgeschichtlichen Forschung in Deutschland zusammenzufassen (10), ist allerdings nur teilweise erreicht worden. Zu unausgewogen geriet hier manches.

Worunter das Buch jedoch leidet, ist der extrem unterschiedliche und teils schlicht unzureichende Ausarbeitungsgrad der Beiträge. Neben ausgereiften Aufsätzen findet man Texte, die offenbar kaum bearbeitete Redemanuskripte darstellen. Da mehrere Beiträge ohne Fußnoten zum Druck kamen, fehlen dort die notwendigen Nachweise, was Vertiefungen und Überprüfungen erschwert. Die im Beitrag von Franz Irsigler angebotene Stichwortaufzählung über 6 (!) Seiten ist eine Herausforderung an die Geduld des Lesers. Auf einen Schlussbeitrag, der das doch sehr disparate Feld des Bandes noch einmal im Zusammenhang betrachtet oder zumindest einen Ausblick auf der Grundlage des zuvor Dargestellten bietet, haben die Herausgeber leider verzichtet. Die knappe Einleitung bietet hier keinen Ausgleich. Und warum man im Autorenverzeichnis Angaben über Sabine Graf und Frank Heine vergeblich sucht, bleibt offen. So wird der Gesamteindruck durch Nachlässigkeiten in der redaktionellen und konzeptionellen Betreuung letztlich getrübt.


Matthias Meinhardt