Rezension über:

Norbert Götz: Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim (= Die kulturelle Konstruktion von Gemeinschaften im Modernisierungsprozess; 4), Baden-Baden: NOMOS 2001, 598 S., ISBN 978-3-7890-7410-3, EUR 70,00
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Rezension von:
Kathrin Kollmeier
Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Rüdiger Graf
Empfohlene Zitierweise:
Kathrin Kollmeier: Rezension von: Norbert Götz: Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim, Baden-Baden: NOMOS 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 10 [15.10.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/10/2862.html


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Norbert Götz: Ungleiche Geschwister

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Ungleiche Geschwister - unter diese suggestive Metapher stellt der Politologe und Nordeuropaspezialist Norbert Götz seine vergleichende historische Begriffsuntersuchung der "parallelen Begriffsbildungen" der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" und des schwedischen "Volksheims" ("folkhemmet") sowie der an diese Kategorien geknüpften Politikfelder des Nationalsozialismus und der schwedischen Sozialdemokratie in den 1930er und 40er-Jahren, der entscheidenden formativen Phase beider Begriffe (15 f.). Genauer definiert er seinen Gegenstand als die doppelte Konstruktion von "Volksgemeinschaft" in Deutschland und "Volksheim" in Schweden durch politische Rhetorik einerseits, durch konkrete sozialpolitische Maßnahmen andererseits (45). Daraus ergibt sich der klare Aufbau: Der separaten Analyse der historischen und aktuellen Semantiken der Komposita "Volksgemeinschaft" und "Volksheim" und ihrer Komponenten folgen exemplarische Untersuchungen der realpolitischen Umsetzungen in den Bereichen der Jugendpolitik, Dienstpflichten, Wohlfahrtspflege und Bevölkerungspolitik.

Die Kontexte und heutigen Konnotationen der Vergleichspartner sind dabei radikal verschieden: Der nationalsozialistischen Diktatur, deren rassistisches Gesellschaftskonzept sich in der Figur der "Volksgemeinschaft" abbildet, stellt Götz das unter der politischen Hegemonie der Sozialdemokraten ausgebildete schwedische Modell der "Verschmelzung aus Wohlfahrtsstaat und Nation" (14) gegenüber, um die Vorstellungen der nationalen Integration des Einzelnen in unterschiedlichen politischen, aber zeitlich parallelen Kontexten zu untersuchen (45). Im Rahmen des Forschungsprojektes "Die kulturelle Konstruktion von Gemeinschaften im Modernisierungsprozeß: Deutschland und Schweden" versteht Götz seine Studie als Beitrag zur Klärung verschiedener Modernisierungsmodelle im 20. Jahrhundert (17). Diesen systemübergreifenden Vergleich semantischer und politischer Konzepte stützt er, basierend auf Jürgen Habermas' Theorie kommunikativen Handelns, theoretisch ab (55 ff.). Dessen Modell der "Kolonialisierung der Lebenswelt" sieht Götz in diktatorischen Regimen verwirklicht, während er demokratische Gesellschaften wie das moderne Schweden im Kreislaufmodell gesellschaftlicher Rationalität abgebildet sieht (60 f.) - eine Modellbildung, die das Ergebnis allerdings antizipiert.

Im begriffshistorischen Teil der Studie sammelt und analysiert Götz chronologisch empirische Belege der Verwendungen der Begriffe "Volksgemeinschaft" und "Volksheim" durch die je politischen Akteure, vorrangig also programmatische Texte. Da der "politische Grundbegriff des Nationalsozialismus" (Otto Brunner, 1939) über den Bereich politischer und gesellschaftlicher Propaganda und Agitation hinaus in die rechts- und staatswissenschaftlichen Diskurse der Zeit eindrang (120), zieht er auch Rechts- und Verwaltungstexte als Quellen heran. Für den Vergleichspartner Schweden konzentriert Götz sich hingegen auf die politische Debatte, deren Wirkungsfeld das "Volksheim" nicht verlassen habe (46). Götz fächert differenziert auf, von welchem breiten politischen Spektrum nationales Gemeinschaftsdenken in beiden Staaten propagiert wurde. Die aktuelle Identifizierung der "Volksgemeinschaft" mit dem nationalsozialistischen Rassedenken und des "Volksheims" mit dem schwedischen Wohlfahrtsstaat ist daher, so Götz' These, Resultat der unterschiedlichen historischen Entwicklungen (279). Interessant wird dieser materialreiche Überblick gerade durch die Zusammenschau verschiedener Prägungen - etwa die Verweise auf Volksgemeinschaftsvorstellungen im Widerstand oder auf den kurzlebigen DDR-Begriff der "Menschengemeinschaft".

Mit der Begriffsgeschichte "folkhemmet" arbeitet Götz ein Desiderat auf: Im "Heim" drücke sich das schwedische Ideal der Gemeinschaft aus, das persönliche Beziehungen und existenzielle Geborgenheit konnotiert. In konservativen Kontexten entstanden, habe die Heimideologie eine zentrale Rolle in der Sozialdemokratie ab 1900 gespielt und sich als politische Semantik bezeichnenderweise mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts nach 1918 durchgesetzt, (218) sodass Götz von einem "demokratischen Volksheimkonsens" spricht (245). Schon in den 1930ern stand das "Volksheim" synonym für die schwedische Variante und Utopie des Wohlfahrtsstaates mit den zentralen Prinzipien einer solidarischen Lohn- und aktiven Arbeitsmarktpolitik, dessen Gestalt grundsätzlich verhandelbar und am Wohle des Einzelnen orientiert sei, wie etwa Per Albin Hansson, sozialdemokratischer Ministerpräsident von 1932-1946, formulierte (418 f.). Damit repräsentiere es die schwedische Zivilgesellschaft und das Politikverständnis der schwedischen Sozialdemokratie (421). Rassische und politische Ausgrenzung sei, so urteilt Götz, bedeutungslos, die Exklusion von als erbgesundheitlich oder sozial abweichend eingeschätzten Personen im Rahmen der Sterilisationspolitik jedoch durch utilitaristisches Denken motiviert gewesen (535).

Die in der historischen Bewertung so unterschiedlichen nationalen und sozialen Integrationskonzepte der deutschen "Volksgemeinschaft" und des schwedischen "Volksheims" liest Götz exemplarisch als Versuche, den Herausforderungen des 20. Jahrhunderts zu begegnen. Kennzeichnend für die "destruktive" nationalsozialistische Begriffsprägung war nicht die wirklichkeitsfremde Verheißungskraft, sondern die Institutionalisierung in einer Vielzahl von Organisationen und ihre Verankerung in geltendem Recht, in deren "konkreten Ordnungen" (Carl Schmitt) sich die Lebenswelt gestaltete. Der "konstruktive" Volksheimbegriff umriss demgegenüber in den 1930/40er-Jahren eine "provisorische Utopie" (Ernst Wigforss), die ein allgemeineres Vorstellungspotenzial anbot und sich an Verfahren demokratischer Interessensaggregation orientierte (542).

Die Gegenüberstellung zweier entgegengesetzter Gesellschaftstypen ermöglicht es Götz, die nordeuropäische politische Kultur als Gegenmodell zur angloamerikanischen Variante der Verwestlichung zu empfehlen (543). Die modernisierungstheoretische Perspektive erschließt jedoch nicht das Potenzial der Vergleichsanordnung für das nach wie vor diskutierte schwedische Modell, wie es eine Analyse als Normalisierungsgesellschaft im Sinne Michel Foucaults nahe legt. Dabei zeigen Götz' Fallbeispiele, wie nahe beieinander in der Praxis schwedischer Bevölkerungspolitik die Beantragung von Unterstützungsleistungen und die staatliche Einleitung von Sterilisierungsmaßnahmen liegen konnten (522). Irritierend wie der dem Ergebnis, "Familienähnlichkeiten" erschöpften sich weitgehend in Äußerlichkeiten (543), unangemessene Titel wirkt Götz' Neigung zu forschen Metaphern - bis hin zu dem befremdlichen Kalauer, beim Vergleich "von schwedischen Stachelbeeren und deutschem Giftgas" sei Vorsicht geboten (532).


Kathrin Kollmeier