Rezension über:

Rivka Ulmer: Turmoil, Trauma, and Triumph. The Fettmilch Uprising in Frankfurt am Main (1612-1616) According to Megillas Vintz. A Critical Edition of the Yiddish and Hebrew Text Including an English Translation (= Judentum und Umwelt. Realms of Judaism; Bd. 72), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2001, 216 S., 8 fig., ISBN 978-3-631-36957-9, EUR 35,30
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Rezension von:
Matthias Schnettger
Institut für Europäische Geschichte, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Schnettger: Rezension von: Rivka Ulmer: Turmoil, Trauma, and Triumph. The Fettmilch Uprising in Frankfurt am Main (1612-1616) According to Megillas Vintz. A Critical Edition of the Yiddish and Hebrew Text Including an English Translation, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 7/8 [15.07.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/07/3792.html


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Diese Rezension erscheint auch in PERFORM.

Rivka Ulmer: Turmoil, Trauma, and Triumph

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Der sogenannte Fettmilch-Aufstand der Jahre 1612-1616 ist ein Ereignis, das nicht nur für die Frankfurter Stadtgeschichte, sondern auch und nicht zuletzt für die Geschichte der Juden in der Mainmetropole wie allgemein in Deutschland von zentraler Bedeutung ist. Richtete sich doch die nach ihrem Anführer, dem Feinbäcker Vinzenz Fettmilch, benannte Empörung nicht nur gegen das patrizische Stadtregiment, sondern auch gegen die jüdische Gemeinde - eine der bedeutendsten im Reich. Am 22. August/1. September 1614 stürmten und plünderten die Aufständischen die Frankfurter Judengasse, und am folgenden Tag wurden alle Juden aus der Stadt ausgewiesen. Dem energischen Eingreifen des Kaisers und seiner Kommissare, des Kurfürsten von Mainz und des Landgrafen von Hessen-Darmstadt, war es zu verdanken, dass nicht nur der Aufstand niedergeworfen und das patrizische Stadtregiment restauriert wurde, sondern am 28. Februar/10. März 1616 auch die feierliche Wiederzulassung der Juden erfolgte - am selben Tag, an dem die Haupträdelsführer exekutiert wurden.

Zur jüdischen Perspektive auf diese dramatischen Ereignisse gibt es eine einzigartige Quelle, das Lied Megillas Vintz, das in der Frankfurter Gemeinde über Jahrhunderte hinweg einen festen Bestandteil der Liturgie zum Gedenktag des Fettmilch-Aufstands beziehungsweise zur Wiederaufnahme der Juden in Frankfurt (Purim Vintz, 20. Adar) darstellte. Kein Wunder, dass Megillas Vintz, schon im 17. und 18. Jahrhundert mehrfach gedruckt, große Aufmerksamkeit in der Wissenschaft gefunden hat. Bereits 1916 erschien zum 300jährigen Jubiläum der Wiederzulassung der Juden eine Übertragung ins Hochdeutsche. Was aber bislang noch fehlte, war eine kritische Edition. Diese wird nun von Rivka Ulmer vorgelegt. Präsentiert wird in parallelen Kolumnen nicht nur der hebräische und der jiddische Text auf der Grundlage der frühneuzeitlichen Drucke (die Basis bilden die hebräische Amsterdamer Edition von 1648 beziehungsweise der von Johann Jacob Schudt in seinen "Jüdischen Merckwürdigkeiten" gedruckte jiddische Text), sondern auch eine moderne englische Übersetzung. Der Kommentar im Anmerkungsteil ist eher knapp gehalten und beschränkt sich über weite Strecken auf das Anführen von Textvarianten, auf die Erläuterung jiddischer Termini, die Aufschlüsselung von Datumsangaben et cetera. Gelegentlich werden aber auch Sachverhalte knapp erläutert, Parallelen zu anderen Quellen aufgezeigt oder Bezugnahmen auf Stellen der Heiligen Schrift angegeben.

Gerade weil der Kommentar nicht sehr ausführlich ist, kommt der umfangreichen Einführung (knapp 80 Seiten), der ein Vorwort von Christopher Friedrichs, selbst ein profilierter Erforscher antijüdischer Ausschreitungen im frühneuzeitlichen Reich, vorangestellt ist, ein um so größeres Gewicht zu. Hier stellt die Herausgeberin den Fettmilch-Aufstand in einen weiteren Zusammenhang. Sie beginnt mit einem kurzen Abriss der deutsch-jüdischen Geschichte bis zu den Ereignissen der Jahre 1612 - 1616, mit dem Schwergewicht auf der Frankfurter Gemeinde. Man gewinnt den Eindruck, als sei dieser Teil der Einleitung für ein Publikum formuliert, das sich mit der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen deutschen Geschichte nicht besonders auskennt. Nicht alle hergestellten Zusammenhänge leuchten unmittelbar ein - so scheint beispielsweise die Erwähnung des römischen Limes in dieser knappen Zusammenfassung entbehrlich (15) -, und manche Formulierungen wirken schief: So sollte man Kaiser Lothar I. nicht als "German Emperor" (16) bezeichnen. Was eine frühneuzeitliche Policey-Ordnung ist, scheint der Herausgeberin nicht recht klar zu sein (21). Auf wesentlich sichererem Terrain bewegt sie sich hingegen, wenn es gilt, den sich seit dem Hochmittelalter allmählich verschlechternden rechtlichen Status der Juden im Reich und insbesondere in Frankfurt zu charakterisieren.

Ausführlich schildert Ulmer in ihrer Einführung die Ereignisse der Jahre 1612-1616, deren unmittelbare Vorgeschichte sie mit der Frankfurter Rabbinerversammlung von 1603 beginnen lässt. Verständlicherweise tritt in ihrer Darstellung der allgemeine Verfassungskonflikt gegenüber den Übergriffen gegen die jüdische Gemeinde zurück, ohne jedoch völlig ausgeblendet zu werden. Mit dem Buch Yosif Ometz des Rabbi Joseph Juspa Nördlinger wird eine jüdische Parallelquelle vorgestellt (Kapitel 6, 46 - 48). Hinsichtlich der Bewertung des Fettmilch-Aufstands erscheint mir problematisch, dass der Terminus "Anti-Semitism" weitgehend unreflektiert verwandt und nicht auf die Besonderheiten des frühneuzeitlichen Antijudaismus im Vergleich zum Antisemitismus des 20. Jahrhunderts eingegangen wird. Auch die ideologische Parallele, die Ulmer im Anschluss an Arno Lustiger zwischen dem Fettmilch-Aufstand und den antijüdischen Maßnahmen der Nationalsozialisten bis zum Kriegseintritt zieht, wäre zumindest zu hinterfragen.

Besonders gelungen sind die Teile der Einleitung, die sich unmittelbar mit der Quelle beschäftigen, mit den Editionen (Kapitel 8), der Sprache (Kapitel 9), den literarischen Besonderheiten (Kapitel 10), aschkenasischen Ritualen zur Bewältigung der Katastrophe (Kapitel 11) sowie der Musik - Megillas Vintz wurde nach der Melodie des deutschen Marschlieds "Die Schlacht von Pavia" gesungen (Kapitel 12). Der Einführung ist ein Notenanhang, der verschiedene Varianten und Bearbeitungen der Melodie vorstellt, und eine Abbildung der Frankfurter Judengasse beigegeben.

Bei allen kritischen Bemerkungen im Detail stellt die Edition durch die wissenschaftliche Aufbereitung dieser zentralen und außergewöhnlichen Quelle einen wichtigen und verdienstvollen Beitrag zur Erforschung der Geschichte der deutschen Juden in der Frühen Neuzeit dar.

Matthias Schnettger