Rezension über:

Yvonne Yiu: Jan van Eyck. Das Arnolfini-Doppelbildnis. Reflexionen über die Malerei (= nexus; 51), Frankfurt a.M. / Basel: Stroemfeld 2001, 251 S., 79 Abb., 8 Farbbildtaf., ISBN 978-3-86109-151-6, EUR 24,00
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Rezension von:
Stephan Kemperdick
Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Kemperdick: Rezension von: Yvonne Yiu: Jan van Eyck. Das Arnolfini-Doppelbildnis. Reflexionen über die Malerei, Frankfurt a.M. / Basel: Stroemfeld 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 6 [15.06.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/06/2298.html


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Yvonne Yiu: Jan van Eyck

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Das Zimmer, in das der Blick fällt, wirkt mit seiner wie greifbar geschilderten Ausstattung und dem heimeligen Helldunkel, als könne man es betreten, und ist doch mehr als fünfhundert Jahre entfernt. Auch das Paar darin ist nah und zugleich unerreichbar: Rätselhaft bleibt der Gesichtsausdruck des Mannes; die Gesten beider sind spontan nicht verständlich, aber offenbar bedeutungsschwer. Bei aller Wohnlichkeit des Raumes umgibt die Figuren etwas Feierliches, das auf die übrigen Gegenstände ausstrahlt.

Diese Verschränkung von Zugänglichkeit und Unzugänglichkeit, von Nähe und Ferne, dürfte, neben dem puren Staunen über Jan van Eycks Malkunst, der Grund sein, weshalb das 1434 datierte so genannte Arnolfini-Doppelbildnis in der National Gallery London andauernde Faszination ausübt und immer wieder zu gelehrten Untersuchungen anregt. Die Arbeit von Yvonne Yiu ist die bislang jüngste in einer zuletzt erstaunlich dichten Folge. Bei den meisten der bisherigen Untersuchungen war von zentralem Interesse, was das Gemälde überhaupt darstellt: Handelt es sich um eine Vermählung - vielleicht heimlich, zumindest ohne Priester vollzogen - oder um eine Verlobung oder eben bloß um das repräsentative Bildnis eines Ehepaars? Nachdem zunächst die Hochzeitsthese in unterschiedlichen Spielarten favorisiert worden war [1], wurde sie 1994 von Edwin Hall widerlegt.[2] Er verstand die Darstellung stattdessen als eine Verlobungsszene.

Nach einer ausführlichen Beschreibung des Bildes und einem sehr umfangreichen Forschungsüberblick schließt sich Yiu Halls Annahme an und nimmt sie als Basis für ihre eigenen Überlegungen. Obgleich die Autorin letztlich andere Fragen verfolgt, zeigt sich an diesem Punkt jedoch ein schwerwiegender Mangel der Arbeit: Sie wurde 2001 veröffentlicht und zitiert mehrere Literaturtitel mit Erscheinungsjahr 1998, nicht aber den Londoner Bestandskatalog von Lorne Campbell [3] aus eben jenem Jahr, der dem fraglichen Gemälde einen umfangreichen Eintrag widmet. Campbell vermag darin klarzustellen, dass auch die Verlobungsthese nicht haltbar ist. Bei dem Bild handelt es sich schlicht um das Doppelporträt eines Ehepaares. Dieses präsentiert sich selbst und seinen Wohlstand, und zwar gewissermaßen mit dem angedeuteten Handlungskontext, dass der Mann mit der erhobenen Rechten zwei Gäste begrüßt, die, im Spiegel auf der Rückwand erkennbar, soeben das Zimmer betreten wollen. Ergänzend zu Campbells Argumenten, die hier nicht wiederholt werden können, sei noch angemerkt, dass die Frau bereits die Haube einer verheirateten Frau trägt - sie kann daher weder bei der Heirat noch bei der Verlobung dargestellt sein.

Yius eigentliches Interesse gilt indes der Selbstreferentialität des Bildes, wobei sie den gemalten Konvexspiegel zum eigentlichen Zentrum des Interesses erhebt und als Brennpunkt der Selbstreflexion deutet. Die Überlegungen der Autorin bauen dabei zu einem guten Teil auf modernen Zeichentheorien auf. Mit solchem Rüstzeug ein frühneuzeitliches Bild zu betrachten, ist ganz legitim, schließlich können wir ja überhaupt nur von unserer Warte, von heute aus den Blick darauf richten. Problematisch scheint mir bei Yiu allerdings eben die Verknüpfung mit der Suche nach Jans Reflexionen über mimetische Malerei, denn unter solchen müssen doch wohl dem Künstler bewusste Gedankengebilde verstanden werden, die er dann ebenso bewusst in das Bild hineinmalt. Immer wieder gewinnt man bei der Lektüre des Buches den Eindruck, als habe auch Jan van Eyck schon eine Vorstellung von Signifikant und Signifikat und deren komplexer, beweglicher Beziehung gehabt. Geradezu drollig wird dies bei der Erörterung unterschiedlicher Realitätsgrade, deren höchsten sie offenbar im Spiegel erkennt: Zunächst stellt die Autorin zu Recht fest, dass das auf dem Bild sichtbare Paar und das Zimmer von Jan komponiert wurden, nicht eins zu eins eine vergangene Realität abschildern - die Tafel, mit anderen Worten, kein handgemaltes Foto ist. Dies führt zu der Feststellung "die Signifikanten des Hauptbildes haben also imaginäre Signifikate" (140), woraus Yiu wiederum folgert, dass das gemalte Spiegelbild "realer" als das gemalte Doppelbildnis sei, denn das im Spiegel sichtbare Paar (ebenso das Zimmer) hätte ja ein konkret vorhandenes Signifikat, nämlich die im großen Maßstab gemalten Figuren. Solche Überlegungen einem Maler des 15. Jahrhunderts zu unterstellen, mutet doch einigermaßen befremdlich an. Abgesehen davon ist der Gedanke meines Erachtens aber auch logisch falsch: Was der gemalte Spiegel zeigt, sind Rückansichten, diese sind jedoch im übrigen Bild gar nicht vorhanden und also auch nicht auf "Wiedergabetreue" hin befragbar (schließlich hat eine gemalte Figur keine Rückseite); darüber hinaus aber zeigt der Spiegel einige nur dort abgebildete Dinge wie die kleinen Betrachterfiguren, die keine irgendwo anders gemalten Signifikate besitzen - sollte man hier etwa beim "Spiegelbild" von Ding zu Ding unterschiedliche Realitätsgrade annehmen?

Yiu zufolge betreibt Jan van Eyck also derartige Reflexionen zum Verhältnis von Signifikant zu Signifikat mittels des Spiegels. Dieser verweise aber auch auf das Bild als Spiegel; in Anbetracht des auf der Londoner Tafel geradezu prägnant herausgearbeiteten Unterschieds zwischen dem runden, extrem verzerrenden Spiegelbild und dem rechteckigen, die Formen klar und präzise wiedergebenden Gemälde scheint mir der Spiegelmetapher hier vielleicht doch etwas zu viel Gewicht beigemessen. Zum Schluss erweist sich der Spiegel für Yiu aber als noch weit mehr, nämlich als "Auge Gottes". Die Autorin beruft sich unter anderem auf einen um 1453 verfassten Text des Nikolaus von Kues, in dem dieser vom allsehenden Auge Gottes spricht, dessen Gesichtswinkel einer Kugel gleiche. Im Londoner Bild "sähe" der Spiegel mehr, als die restliche Bildfläche zeige, etwa die beiden kleinen Figuren in der Türöffnung. Diese Interpretation lässt sich allerdings mit einem Blick auf das Londoner Gemälde selbst widerlegen: Mitnichten ist der Spiegel allsehend wie das Auge Gottes; die Gesichter der Hauptpersonen, das Hündchen, den Kirschbaum vor dem Fenster "sieht" er nicht. Und sein "Blick" ist eben nicht wie der vom Cusaner beschriebene Blick Gottes, nämlich auf unendlich viele Punkte zugleich fokussiert und diese klar erkennend. Der Spiegel verzerrt zum Rand hin in extremer, den einzelnen Gegenstand unkenntlich machender Weise - man betrachte etwa den roten Strich am unteren Spiegelrand, der offenbar die Reflexion der Bank meint. Und mehr noch betonen die blau-rote Einfassung des Spiegels und das tunnelartige Spiegelbild des Raumes geradezu die Begrenztheit dieses Bildes im Bild, das, ähnlich dem schmalen Fensterausblick, nur eine kleine Öffnung des ansonsten abgeschlossenen, gemalten Kastenraumes darstellt.

Abschließend sei noch ein grundlegender Aspekt angesprochen, die Frage nach der Identität der Dargestellten. Wie die allermeisten Forscher sieht Yiu in dem Mann ein Mitglied der Luccheser Kaufmannsfamilie Arnolfini; der noch kürzlich einmal wieder gemachte Vorschlag, es handle sich vielleicht um ein Selbstporträt Jan van Eycks, wird mehr oder weniger als unwissenschaftlich disqualifiziert. Grundlage der gängigen Identifikation sind bekanntlich zwei Inventare der Margarete von Österreich von 1516 beziehungsweise 1523/24, in denen ohne Zweifel das heute in London befindliche Gemälde aufgeführt wird. Bei allem kritischen Umgang mit der Forschung zu dem Gemälde, den herangezogenen Vergleichen und so weiter zeigt sich indes bei Yiu genauso wie bei dem gründlichen Campbell, bei Hall und anderen ein starkes Widerstreben, mit den beiden angeführten Quellen gleichfalls kritisch zu verfahren. Im Grunde werden sie einfach als klare und zuverlässige Aussagen genommen, deren Angabe nicht einmal mit einem Fragezeichen versehen werden muss. In den Inventaren wird der Mann des Gemäldes als "Hernoul le Sin (oder fin)" beziehungsweise "Arnoult Fin" bezeichnet. Ohne Zweifel soll das erste Wort der Vorname sein, an den sich ein Beiname anschließt. Am Hof der Margarete von Österreich hat man also in jedem Falle nicht bewusst den Nachnamen Arnolfini wiedergeben wollen. Es könnte sich also allenfalls um eine phonetische Schreibweise des Nachnamens (wie allgemein angenommen wird, Yiu 80ff) bei gleichzeitiger Unkenntnis eben dieses Namens handeln. Nun einfach anzunehmen, die Inventarschreiber hätten, immerhin über 80 Jahre nach Entstehung des Bildes, den Familiennamen des Dargestellten zwar nicht als solchen erkannt, ihn aber dennoch - der im Mittelalter wichtigere Vorname des Mannes müsste zudem einfach verloren gegangen sein - irgendwoher gesagt bekommen, ist nun keineswegs zwingend. Hier bleibt schlicht eine große Unsicherheit, die durch drei ungesicherte Hypothesen (1. die Namensangaben sind Umsetzungen von "Arnolfini"; 2. irgendwann vor 1516 war der Name Arnolfini mit dem Bild verknüpft; 3. diese Verknüpfung ist richtig) nicht einfach aufzuheben ist.

Hält man sich zunächst nur an die Bildtafel, so nimmt die Inschrift "Johannes de eyck fuit hic.1434." in der Bildmitte mitnichten wie von selbst Bezug auf die beiden winzigen Gestalten im Spiegelbild (142). Ohne die vorausgesetzte Annahme, hier sei ein Arnolfini dargestellt, würde man die Inschrift wohl einfach auf den groß dargestellten Mann beziehen, neben dessen Kopf sie steht. Die Bedeutung beziehungsweise Bedeutungen der Inschrift allerdings geben weiter Rätsel auf. Sicherlich nimmt sie direkten Bezug auf Anwesenheitsnotizen, wie Yiu völlig überzeugend herausarbeitet (43-45). Ferner dürfte sie Bedeutungen haben wie "Johannes de Eyck war dieser (der es gemalt hat)", aber ebenso, wie Yiu zwar zugibt, sogleich aber wieder verwirft, auch "Johannes de Eyck war dieser (der hier dargestellt ist)". Wenn Doppelbedeutungen von der Autorin überall in Bild und Inschrift gesehen werden, warum dann diese eine, doch mögliche, nicht zulassen? Wäre der Mann Jan selbst und in der Inschrift als einziger genannt, könnte tatsächlich die kleine geschnitzte Figur einer heiligen Margarete neben der Frau auf deren Namen verweisen, nämlich Margareta van Eyck (die gemalte Skulptur kann nur Margarete, nicht, wie Yiu meint, auch Martha darstellen, da die Figur mit gefalteten Händen, also durch ihr Gebet, aus dem Rücken des Drachen, der sie verschlungen hatte, hervorbricht, während Martha den Drachen an einer Leine führt). Der von Yiu gegen die Selbstbildnisthese durchgeführte Vergleich zwischen der Frau des Londoner Bildes und dem gesicherten Porträt von Jans Frau Margareta van Eyck aus dem Jahr 1439 in Brügge (Abbildung 34, 35) ist tatsächlich aufschlussreich: Man kann beim Vergleich kaum sagen, dass ein und derselbe Mensch, mit einem Altersunterschied von fünf Jahren, dargestellt sei. Ebenso wenig aber lässt sich behaupten, und darin möchte ich Yiu widersprechen, dass hier nicht derselbe Mensch porträtiert sei. Es gibt - eher kleinere - Unterschiede, zugleich aber auch viel mehr Übereinstimmungen, als sie bei zwei verschiedenen natürlichen Menschen ohne weiteres denkbar wären. Der vorgenommene Vergleich vermag in meinen Augen daher einiges mehr über den "Realismus" von Jans (Frauen-) Bildnissen auszusagen als über Identität oder Nichtidentität der Dargestellten. Wie fast alles an dem Gemälde, bleibt damit auch dieser Aspekt rätselhaft.

Campbell hat in seinen, von Yiu wie gesagt nicht mehr berücksichtigten, Forschungen versucht, für die männliche Hauptperson des Bildes einen passenden Arnolfini zu finden. Von den nachweisbaren Familienmitgliedern eignet sich allein ein gewisser Giovanni di Nicolao, dessen 1426 von ihm geheiratete Frau vor 1433 starb, der aber, wie Campbell meint, durchaus wieder (zwangsläufig vor 1434) geheiratet haben könnte. Das wäre natürlich möglich, bleibt aber wiederum pure Spekulation. Im Grunde kann Campbell keinen Arnolfini finden, der richtig auf das Bildnis passen würde, doch lässt ihn das in der Benennung des Mannes unbeirrt.

Das bei Campbell wie bei Yiu und anderen so starke Festhalten an der Arnolfini-These und der gleichzeitige vehemente Widerstand gegen die Idee vom Selbstbildnis Jan van Eycks scheinen mir letztlich andere als rationale Gründe zu haben. Vermutlich liegen diese darin, dass der Mann auf dem Londoner Gemälde so gar nicht unserer Vorstellung vom großen Künstler entspricht: Er wirkt, zumindest auf heutige Betrachter, schlicht unsympathisch und gestreng, jedenfalls weder wie das Genie, das sich über die alltäglichen Eitelkeiten erhebt, noch wie der unbestechliche, distanzierte Beobachter mit intelligentem Blick. Der Porträtierte scheint im Gegenteil ganz angepasst und mit seinem kostbaren Besitz sowie seiner Frau repräsentieren zu wollen. Dem hoch bezahlten "varlet de chambre" des Burgunderherzogs, Jan van Eyck, wäre das eigentlich durchaus zuzutrauen.

Es lässt sich gegenwärtig nicht sicher feststellen, ob der Mann auf der Londoner Tafel ein Arnolfini, Jan van Eyck selbst oder eine dritte, unbekannte Person darstellt. Die Annahme eines Selbstbildnisses besitzt aber keinesfalls weniger Wahrscheinlichkeit als die beiden anderen Möglichkeiten. Yiu stellt fest (91): "Für die Analyse der reflexiven Strukturen des Arnolfini-Doppelbildnisses ist es von größter Wichtigkeit, dass die männliche Hauptfigur nicht ein Selbstbildnis Jan van Eycks ist." Für das Verständnis des Bildes wäre es ebenso von größter Wichtigkeit, wenn der dargestellte Mann Jan van Eyck selbst sein sollte.

Anmerkungen:

[1] Grundlegend ist der berühmte Aufsatz von Erwin Panofsky: Jan van Eyck's "Arnolfini" Portrait, in: Burlington Magazine 64, 1934, S. 117-127

[2] Edwin Hall: The Arnolfini Betrothal, Berkeley/Los Angeles/London 1994

[3] The Fifteenth Century Netherlandish Schools. National Gallery Catalogues, London 1998, S. 174-211


Stephan Kemperdick