Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent, München 2009.
Eines der erzählerisch glänzendsten und originellsten Bücher, die ich kenne. Von 1900 bis 1914 ist jedes Jahr einem anderen Thema gewidmet, in dem der Erzähler aus konkreten Begebenheiten - von der Weltausstellung in Paris über die Entdeckung der Radioaktivität und das mörderische belgische Kolonialregime im Kongo bis zum Mord an Gaston Calmette 1914 - ein großes Panorama des frühen 20. Jahrhunderts entwickelt. So wird eine Zeit der dynamischen Bewegung, der Beschleunigung - Sechstagerennen waren der letzte Schrei - und der Verunsicherung lebendig, der die Elektrizität war, was dem 21. Jahrhundert die Algorithmen sind.
Ulrich Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung, München 2015.
Ein bisschen ist es wie Sherlock Holmes' Hund, der nicht bellte: im 20. Jahrhundert verschwand das Pferd aus dem Straßenbild und dem Alltag der Menschen, den es seit Menschengedenken geprägt hatte, bis es zum Gegenstand von Liebhabern wurde. Zuvor freilich, im 19. Jahrhundert, wurde es noch einmal zum Zugpferd der Moderne, in all ihren Facetten: das Foto vom Soldaten zu Pferde mit Gasmaske bildet die eine Seite ab, auf der anderen Seite brachten Pferde die Industrialisierung und die agrarische Revolution in Fahrt, durch die es schließlich verdrängt wurde. Die historiographische Leerstelle dieser Trennung von Mensch und Pferd füllt Ulrich Raulffs rhapsodisch-elegante Kulturgeschichte der Pferde, mit der die Geschichte der Moderne zugleich aus einer anderen Perspektive erzählt wird.
Basha Mikra: Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens, Frankfurt 2013.
Postkoloniale Theorie klingt abstrakt und akademisch. Wie tief verwurzelt die gefühlte Demütigung durch den Westen in der islamischen und asiatischen Welt tatsächlich ist, welche intellektuelle Anstrengungen vorgenommen wurden, um Antworten auf den unglaublichen Aufstieg des Westens und seine totale ökomische, militärische und kulturelle Dominanz seit dem 19. Jahrhundert zu finden, das demonstriert Mishras historischer Essay eindrucksvoll. Er zeigt, wie erhellend und noch dazu gut lesbar eine Umkehr der Perspektive auf die Geschichte sein kann und auch wie irritierend, wenn man versteht, dass für den Großteil der Menschheit, das 20. Jahrhundert nicht vornehmlich aus Weltkriegen, Kaltem Krieg und Fall der Mauer bestand, sondern in der Auflehnung ihrer Länder gegen den imperialen Westen.
Henryk Sienkiewicz: Quo Vadis.
Auch für den Leser von heute ist es kein Wunder, dass der Roman Quo Vadis des Polen Henryk Sienkiewicz von 1895 kurz nach seinem Erscheinen ein Bestseller wurde. Die teils fiktive, teils auf historischen Fakten basierende Liebesgeschichte um die schöne Christin Lygia und den römischen Patrizier Vinicius zieht den Leser förmlich mitten in die Zeit der Christenverfolgung unter Kaiser Nero hinein. Zweifellos wird das Christentum stark idealisiert und die Auseinandersetzung mit Nero zum Kampf gut gegen böse stilisiert. Und dennoch vermittelt Quo Vadis ein Gespür dafür, welche kulturelle "Revolution" das Auftauchen des Christentums für die römische Gesellschaft gewesen sein muss.
Fritz J. Raddatz: Tagebücher 1982-2001 und 2002-2012; Reinbek 2010 und 2014.
Der alte Kauz wird immer kauziger. Eitel und blasiert, zugleich entwaffnend offen, was seine Verletzungen und Eitelkeiten betrifft, eröffnet er in immer neuen Fortsetzungen Innenansichten über die "Verkommenheit des Kulturbetriebs": Animositäten, Verlogenheiten und Befindlichkeiten der Größen aus Geist und Kultur. Man erfährt alles Mögliche, was man eigentlich lieber gar nicht wissen wollte, und gewinnt zugleich ein plastisches Bild des intellektuellen Lebens der Bundesrepublik im Umfeld der großen Hamburger Publikationsorgane. Und am Ende mag man den alten Kauz. Farewell, FJR!