Stephan Conermann: Islamische Welten. Einführung, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 3 [15.03.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
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Von Stephan Conermann
Vor uns liegen zehn Rezensionen zu Werken, die sich mit verschiedenen Aspekten der 1400-jährigen Geistes-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte islamisch geprägter Regionen befassen. Ein Buch bietet darüber hinaus eine "fragmentarische Ideengeschichte", worunter der Verfasser ein "Ensemble von Fragmenten, die mit anderen Fragmenten in Beziehung stehen, ohne dass wir von einem übergeordneten Ganzen ausgehen", verstehen möchte. Mir persönlich hat sich dieses Konzept bei der Lektüre nicht ganz erschlossen, der Text blieb im Grunde einfach nur bruchstückhaft. Der Rezensent kam zu einer etwas besseren Gesamteinschätzung, ohne jedoch ebenfalls große methodische Bedenken zu äußern. (Hubert-Köster über Lohlker). Und bei noch einer weiteren Studie weicht meine Sicht von derjenigen der Besprechung ein wenig ab: Angesichts der im Zuge der gegenwärtigen innenpolitischen Reformbewegungen angespannten Situation in vielen arabischen Ländern möchte man natürlich mehr über die dortigen Gesellschaften erfahren. Vor allem scheint es dringend geboten, sozialwissenschaftliche Analysen an die Hand zu bekommen, die endlich einmal von dem islamwissenschaftlichen Paradigma, im Islam einen allerklärenden Faktor dieser Staaten zu sehen, wegzukommen. Daher enttäuscht m.E. die von Mohammed Khlallouk vorgelegte Einführung zu den islamistischen Strömungen in Marokko, zumal sie bei Adam und Eva anfängt und sich nicht auf die Zeitgeschichte konzentriert. Aber, wie gesagt, man kann das Buch auch etwas anders lesen. (Al Ghouz über Khallouk)
Eine der Ikonen der islamistischen, oder besser gesagt salafitischen Gruppierungen stellt Muhammad Rašid Rida (1865-1935), der Herausgeber der Zeitschrift "Der Leuchtturm" (al-Manar), dar. Trotz seiner großen Prominenz liegen über Rašid Rida nur wenige Studien zu Einzelfragen seines Werkes und seines Wirkens vor. Aus diesem Grund kann man eine Arbeit nur begrüßen, die sich mittels einer genauen Lektüre entsprechender Artikel in al-Manar das Verhältnis von Rašid Rida zum Christentum im Allgemeinen und zu den intellektuellen Aktivitäten von Missionaren in Syrien und Ägypten im Besonderen genauer ansieht und die gesellschaftlichen Bedingungen des auszumachenden Diskurses analysiert. (Sajid über Ryad) Interessant sind ferner die auf politikwissenschaftlichen Zugängen aufbauenden Ausführungen von Melanie Carina Schmoll über das Verhältnis zwischen Jordanien und Israel. 1994 schlossen König Husain b. Talāl und Jitzchak Rabin einen Friedensvertrag, der bis heute Bestand hat und von beiden Seiten durch eine ständige Kooperation in Sicherheitsfragen getragen wird. (Teichgreeber über Schmoll). Ebenso erhellend kommt die von Anne Duncker angefertigte Dissertation über Menschenrechtsorganisationen in der Türkei daher. Wir erfahren viel über die bereits sehr profilierten "linken" NGOs İslam Hakları Deneği (İHD) und Türkiye İnsan Hakları Vakfı (TİHV) und über die eher dem "islamischen" Spektrum zuzuordnenden Mazlumder, wobei alle drei ein universalistisches Menschenrechtsverständnis vertreten und sich innerhalb des westlichen Diskurses verorten lassen. Zudem liefert die Autorin eine Reihe wichtiger und weiterführender Informationen über bislang kaum erforschte türkische Organisationen. (Sen über Duncker)
Einen kurzen Überblick über die moderne arabische Literatur zu geben, scheint stets ein gewagtes Unterfangen, da wir es mittlerweile mit einem sehr ausdifferenzierten, vielseitigen und umfangreichen Schrifttum zu tun haben. Auch David Tresilians "Brief Introduction to Modern Arabic Literature" weist daher nicht unerhebliche Defizite auf. So verzichtet er auf eine Darstellung der gesamten Maghreb-Literatur und lässt Dramen und Kurzgeschichten unberücksichtigt. Dennoch bietet das Buch einen ganz passablen Einstieg in die Materie. (Goddi über Tresilian) Schließlich hat sich Assia Harwazinski beim 10. Filmfest Frauenwelten in Tübingen den von Najma Najjar gedrehten Streifen "Pomegranates and Myrrh" (Palästina 2009) angesehen. Die Rezensentin empfand den Film, der in der Umgebung von und in Ramallah unter säkularen christlichen Palästinensern spielt, als eine angenehm ruhige Produktion, die ohne offene Gewalt und Blutvergießen auskommt und dem Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis die kreative, künstlerische Kulturarbeit entgegensetzt. (Harwazinski über Najjar)
Gehen wir nun zeitlich weiter zurück, so stoßen wir auf eine bemerkenswerte russischsprachige Studie über die Geschichte und Funktion des Gebets im europäischen Teil Russlands und in Sibirien. Der Autor kann zeigen, dass die imperialen Regulierungsmechanismen zum islamischen Gebet nicht aus einer systematischen Islampolitik resultierten, sondern Einzelfallregelungen per Gesetz normative Gültigkeit verliehen wurde. Die Architektur der Moscheen, für deren Bau man eine behördliche Genehmigung benötigte, richtete sich weitgehend nach islamischen Vorbildern. Den Imamen oblag das Gebet, wobei sie bei dessen Ausgestaltung freie Hand hatten. Diese Freiheit sollte letzten Endes dazu dienen, die Loyalität der Muslime gegenüber der imperialen Zentralmacht zu stärken. (Smolarz über Zagidullin) Ebenso spannend wie der zentralasiatische Raum ist der südasiatische Kontinent - und damit das für uns so wichtige Moghulreich. Es mag schon erstaunen, aber über die sechs bedeutenden Herrscher (Babur, Humayun, Akbar, Jahangir, Shah Jahan und Aurangzeb) existieren keine wirklich befriedigenden Biographien. Daran ändert auch André Winks Monographie zu Akbar nichts, die zwar ordentlich gemacht und akribisch recherchiert ist (Hartung über Wink), doch meiner Meinung nach einen soziokulturellen Zugriff und eine übergeordnete Fragestellung vermissen lässt. Bleibt zu guter Letzt noch Jens Scheiners verdienstvoller Versuch, die in der Islamwissenschaft gut etablierte Methode der isnad-cum-matn-Analyse auf die Überlieferungen (akhbar) über die Einnahme von Damaskus durch die Muslime während der ersten Eroberungszüge nach dem Tod des Propheten anzuwenden. Im Gegensatz zum Sira- und Hadith-Material ist es jedoch offenbar nicht möglich, gesicherte historische Überlieferungen zu rekonstruieren, die sich bis in die 2. Hälfte des 1. Jahrhunderts nach der Hidschra (nach 670) datieren lassen. (Conermann über Scheiner)
Also: Viel Spaß bei der Lektüre!