Rüdiger Lohlker: Islam. Eine Ideengeschichte, Stuttgart: UTB 2008, 282 S., ISBN 978-3-8252-3078-4, EUR 18,90
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Theoretische Reflexion ist den Historikern wichtig - inzwischen auch den Islamhistorikern. In den letzten Jahren wurden zahlreiche neue Ansätze aus den Kulturwissenschaften übernommen und in der Islamwissenschaft angewendet. Verweisen lässt sich dafür beispielsweise auf die Diskursanalyse, deren Transfer auf die Islamwissenschaft von Marco Schöller in seinem Band "Methode und Wahrheit in der Islamwissenschaft" (Wiesbaden 2000) angeregt worden ist. Auch die Bonner Ringvorlesung "Islamwissenschaft als Kulturwissenschaft", dokumentiert in einem von Stephan Conermann und Syrinx von Hees herausgegebenen Sammelband (Schenefeld 2007), ist ein gutes Beispiel dafür. Die Vorstellung "des Islam" als starres, unveränderliches Gebilde, der das Denken, Fühlen und Handeln seiner Anhänger definiert - mit einem Ausdruck von Stefan Weidner: "Islam als Hardware" - wird weitgehend als Essentialismus gebrandmarkt und abgelehnt.
Nun hat also Rüdiger Lohlker, Professor für Islamwissenschaft an der Universität Wien, eine Ideengeschichte des Islam vorgelegt. Was sollte man von einer solchen erwarten können?
Ideengeschichte ist keine neue Erfindung; eine "Geschichte der herrschenden Ideen des Islams" veröffentlichte Alfred von Kremer bereits 1868 (mit den Hauptthemen Gottesbegriff, Prophetie und Staatsidee). Lohlkers Ansatz ist jedoch ein anderer: Seine Darstellung "versteht sich als fragmentarische Ideengeschichte: Geschichten von Relationen und Brüchen, ein Versuch, die scheinbare Ganzheit fragmentarisch zu denken" (9). Das Konzept eines Ganzen "des Islam" wird von ihm abgelehnt; seine Ideengeschichte denkt er "als Ensemble von Fragmenten, die mit anderen Fragmenten in Beziehung stehen, ohne dass wir von einem übergeordneten Ganzen ausgehen" (9). Er sieht die Geschichte als das "Kraftfeld der Geschichte der muslimischen Gemeinschaften [...], in dem wir verschiedene Feldlinien versuchen zu verfolgen. Transformationen können wir dann als Rekonfigurationen des Kraftfeldes verstehen, die die Integrität des Feldes nicht gefährden." (10)
Da sich die Frage nach dem Geteilten oder Integrierten einer Kultur/Identität aber nicht ausblenden lasse, verwendet Lohlker als Klammer den Begriff der Glaubenssequenz nach Danièle Hervien-Léger (Pilger und Konvertiten, Würzburg 2004) und geht davon aus, "dass eine besondere Kontinuität von der Religion zwischen den aufeinanderfolgenden Generationen hergestellt wird" (11). Als Teile einer solchen islamischen Glaubenssequenz nennt er "das Faktum der Offenbarung des Korans [...] und das Faktum der prophetischen Begründung der muslimischen Gemeinschaft" (11). Explizit grenzt sich der Autor von dem Anspruch ab, zu erklären, "was der Islam ist oder was er sein soll. [...] Erklärung bedeutet auch immer einen Ausschluss des Heterogenen und ist damit ein Akt der Politik [...] In diesen Zusammenhang der Welterklärung begibt sich die übliche Behandlung 'des Islams'." (12)
Lohlker beginnt - ganz im Sinne der "klassischen" Darstellungen der islamischen Geschichte - mit den Kapiteln "Muhammad" und "Koran". Das erste Kapitel stellt zunächst den sozialen, politischen und ökonomischen Hintergrund dar, vor dem sich das Denken des Propheten entwickelt. Mit den wichtigsten Meilensteinen der Prophetenbiographie stellt Lohlker die religiösen Ideen Muhammads konzise dar, klammert aber auch die Quellenproblematik und die Entwicklung des Hadith und der Hadithkritik als literarische Gattungen nicht aus. Bei der Darstellung der Bedeutung des Propheten für die Muslime spannt er den Bogen bis hin zum Karikaturenstreit und zur Diskussion über die angebliche Illiteralität Muhammads.
Es folgt das Kapitel über den Koran, in dem neben Inhalten wie dem Tag des Gerichts oder Paradiesvorstellungen auch auf die Unnachahmlichkeit des Korans sowie auf strukturelle und ästhetische Fragen eingegangen wird.
Vor dem Hintergrund des eher knappen Umfangs (die Kapitel "Muhammad" und "Koran" haben zusammen gerade 28 Seiten) zeigt die Behandlung dieses Themenkomplexes bereits das, was sich im gesamten Buch fortsetzt: Viele interessante Themen werden angerissen, aber aus Platzgründen nicht sehr tief behandelt. Die Literaturhinweise verweisen eher auf Einzelaspekte, seltener auf grundlegende Literatur zum jeweiligen Kapitel: So findet sich in der Bibliographie beispielsweise kein Hinweis auf den für die ersten beiden Kapitel wichtigen "Klassiker" von Rudi Paret (Mohammed und der Koran).
Die folgenden Abschnitte behandeln so unterschiedliche Themen wie Gebet, Politik, Theologie, Paradiesvorstellungen, Musliminnen, Sufismus und Volksreligion. Auch sonst eher selten angesprochene Aspekte kommen vor: Es gibt ein Kapitel "Minderheiten", in dem verschiedene Gruppen oder Sekten vorgestellt werden (darunter Ismailiten, Drusen, Aleviten), und ein kurzes Kapitel "Halal", in dem vor allem die Zulässigkeit islamischer Finanzprodukte und Fragen des Schlachtens angesprochen werden. Moderne Akzente werden mit den Themen Neue Medien (Fernsehen, Internet, Popmusik), Islam in Europa und Dschihadismus gesetzt.
Die Themenauswahl und die Schwerpunktsetzung wirken auf den ersten Blick etwas beliebig; es ist weder eine chronologische noch eine systematische Gliederung zu erkennen. Allerdings unterstreicht dies gerade den Ansatz des Autors, kein geschlossenes Modell eines einheitlichen Ganzen darstellen zu wollen. Die umfangreichsten Kapitel behandeln die Zwölferschia (35 Seiten!), Reformbewegungen im 17.-19. Jhd. (23 Seiten), sowie Islam und Moderne (22 Seiten, regional nach Ländern gegliedert, mit Exkursen zu transnationalen Missionsbewegungen, islamischem Lifestyle und Bilderverbot). Hingegen sind die Darstellungen der sunnitischen Theologie (17 Seiten) sowie der Philosophie und Naturwissenschaften (7 Seiten) für eine Ideengeschichte recht knapp ausgefallen. Dafür bieten aber alle Kapitel interessante Einblicke in die jeweilige Thematik: im Theologie-Kapitel werden die wichtigsten Streitfragen (Willensfreiheit versus Prädestination, Attribute Gottes) aufgezeigt und die Positionen einiger relevanter Gruppen historisch nachgezeichnet.
Um einen weiteren Eindruck zu geben, soll hier noch ein Kapitel herausgegriffen werden, für das der Autor als ausgewiesener Experte gelten kann: Das islamische Recht wird auf immerhin 20 Seiten behandelt. Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung werden die verschiedenen Gestaltungskräfte beschrieben (Richter und Rechtsgelehrte), die zur Entwicklung des islamischen Rechts beigetragen haben sowie zur Herausbildung von Lehrsystemen, die einem bestimmten Namensgeber zugeschrieben werden (sogenannte Rechtsschulen). Lohlker beschreibt die Rolle der "ahl al-hadith" und behandelt die Frage nach der Definition der Scharia sowie die Abgrenzung derselben zum Begriff des Rechts. Anschließend geht er auf Rechtsmethodik (er diskutiert exemplarisch den Analogieschluss), modernes Recht (insbesondere den "fiqh al-aqalliyat", das islamische Recht muslimischer Minderheiten in nicht primär islamischem Gebiet) und das zeitgenössische Fatwa-Wesen (Fernsehen und Internet) ein. Das Kapitel zeigt sehr eingängig, dass islamisches Recht in Teilen etwas völlig anderes ist als kodifiziertes Recht nach westlichem Verständnis. Materielle Aspekte bleiben - für eine Ideengeschichte konsequent - außen vor. Aber man vermisst doch wieder die Hinweise auf Basisliteratur: Recht häufig werden Johansen, Jokisch und einige andere zitiert; ein Joseph Schacht hingegen ist im Literaturverzeichnis nicht zu finden.
Dort, wo es angebracht schien, bezieht Lohlker auch aktuelle Diskussionen in islamischen Internet-Foren ein. Im Text selber wird mit Kurzbelegen auf relevante Literatur verwiesen, auch auf rezente Studien und Internetpublikationen; auf erläuternde Fußnoten hat der Autor verzichtet. Den Schluss des Bandes bilden ein ausführliches Literaturverzeichnis (etwa 350 Titel) und ein Personenregister, in dem alle Namen zusätzlich zur verwendeten eingedeutschten Schreibweise auch in wissenschaftlicher Umschrift verzeichnet sind. Aufgrund des sehr weitgespannten inhaltlichen Spektrums wäre es allerdings hilfreich gewesen, das Literaturverzeichnis den Kapiteln des Buches entsprechend zu gliedern.
Der Schwerpunkt der meist flüssig geschriebenen Darstellung insgesamt liegt auf der Vielfältigkeit islamischen Denkens von Beginn des Islams bis in die Gegenwart. Erfreulich ist, dass zahlreiche Bezüge hergestellt werden zwischen den Diskussionen in der Vergangenheit und unter heutigen Muslimen. Außerdem fällt positiv auf, dass Erscheinungsformen des Islams außerhalb seines ursprünglichen Kerngebietes, beispielsweise in Ostasien, Afrika und Europa, stark berücksichtigt werden. Man könnte allerdings bedauern, dass der Begriff der Glaubenssequenz, der laut Einleitung der Betrachtung zugrundegelegt wird, doch sehr im Hintergrund bleibt. Das Ringen verschiedener Ideen darum, was denn nun als wirklich islamisch zu verstehen sei, wird zwar in den meisten Themengebieten anschaulich dargestellt; dass aber - wie eingangs gesagt - "das Faktum der Offenbarung des Korans [...] und das Faktum der prophetischen Begründung der muslimischen Gemeinschaft" die wichtigsten Bestandteile einer islamischen Glaubenssequenz seien, wird nicht explizit nachgewiesen.
Für wen ist dieser Band nun geeignet? Als grundlegende Einführung ist er zu wenig systematisch und strukturiert. Seinen eigentlichen Anspruch aber, nämlich "Reisen durch Regionen beinahe aller Kontinente [zu unternehmen], auf der wir verschiedene Dimensionen des Phänomens 'Islam' erfahren werden, die ein Ensemble von Fragmenten bilden" (11), erfüllt der Autor. Er bietet dabei eine Vielzahl von interessanten, teilweise ungewohnten Perspektiven auf diese "Fragmente" und erliegt nicht der Versuchung, eine Erklärung "des Islams" anzubieten. Jeder, der bereits ein gewisses Vorwissen mitbringt und sich für die vielfältigen Phänomene islamischen Denkens in Geschichte und Gegenwart interessiert, findet in Lohlkers Ideengeschichte eine anregende Lektüre.
Volker Hubert-Köster