Rezension über:

Netzwerk Körper (Hg.): What Can a Body Do? Praktiken und Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften, Frankfurt/M.: Campus 2012, 434 S., ISBN 978-3-593-39641-5, EUR 25,00
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Rezension von:
Barbara Lüthi
Anglo-Amerikanische Abteilung, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Barbara Lüthi: Rezension von: Netzwerk Körper (Hg.): What Can a Body Do? Praktiken und Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften, Frankfurt/M.: Campus 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 7/8 [15.07.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/07/22464.html


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Netzwerk Körper (Hg.): What Can a Body Do?

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"The body is the medium or raw material through which we navigate the world, but it is also an entity that is invested with meanings." [1] Seit den späten 1980er-Jahren erlebt der Körper im deutschsprachigen Raum in den Kulturwissenschaften einen regelrechten Boom. Das Interesse hat bisher kaum nachgelassen. Das manifestiert sich bis in die Gegenwart in einer Reihe von Veröffentlichungen an Überblicksdarstellungen, Artikeln und Monografien zum Thema. [2] Die Debatten, beispielsweise in den Geschichtswissenschaften, um die "Unmittelbarkeit des Körpers", um die transhistorische Substanz jenseits von Diskursen und um die "erlebte Körperlichkeit" sind schon fast wieder Geschichte. [3] Der Körper als Träger von Bedeutung, der Körper in den Medien, der verletzliche und versehrte Körper; embodiment, Cyberculture und neue Medientechnologien sind nur einige Stichworte, die darauf hindeuten, dass der Körper in den Sozial- und Kulturtheorien neu gedacht und neu verortet wird.

Von der Entwicklung der Debatten in den Kulturwissenschaften ist im vorliegenden Band weniger zu erfahren. Umso klarer ist das Programm der Herausgeberinnen und Herausgeber. Entstanden im Rahmen des von der DFG geförderten interdisziplinären Netzwerkes "Körper in den Kulturwissenschaften" nähern sich die Beiträge aus zwei Perspektiven dem Thema: Einerseits den "Praktiken", andererseits den "Figurationen" des Körpers. Und das besonders Reizvolle an dem Band ist sichtbar: Es ist nicht nur ein Buch, sondern es sind zwei Bücher zugleich. Der Band ist als Wendebuch gestaltet, sprich: Man kann es auf den Kopf stellen und von zwei Seiten her lesen. Sehr sorgfältig entfalten die Herausgeberinnen und Herausgeber des Bandes ihr Programm in den zwei Einleitungen. Figurationen werden hier nicht, wie im herkömmlichen Sinne, als Sozialfiguren oder Typen verstanden; gefragt wird vielmehr nach den "Politiken der Ordnungen", nach den relativ "stabilen Verhärtungen grundsätzlich fluider, historisch kontingenter, immer unterschiedlicher Körper" (13, von der Figurationsseite her gelesen), die zugleich die Subjektivierungsprozesse verdeutlichen. Damit drücken Figurationen körperliche Dimensionen auch jenseits von gesellschaftlichen Rollen- und Bedeutungszuweisungen aus. Praktiken hingegen verweisen auf die Konstituierung des Körpers durch verschiedene Techniken, die körperliche Bewegung zugleich ermöglichen oder unterbinden können. Immer aber ist der Körper hier ein agierender (ein "doing body"), der ein Handlungsvermögen in sich birgt. Diese handlungsorientierte Sicht limitiert den Körper nicht auf einen passiven, disziplinierten Körper, sondern erweitert die Sicht um die geschichtlichen und kulturspezifischen Bewegungen des Körpers und ihren gesellschaftlichen Effekten. Praktiken, so wird in der Einleitung erklärt, sind den Figurationen vorgängig, durchkreuzen diese und gehen darüber hinaus.

Die Themenauswahl des zweiteiligen Buches ist breit gefächert. Die Körperfigurationen beinhalten etwa Themen wie Beauty Queen (Gabriele Dietze), Butch (Eveline Kilian), Digitalkörper (Claudia Reiche), Folterin (Michaela Hampf), Großwildjäger (Elahe Haschemi Yekani), Kokser (Tim Stüttgen), Punk (Bodo Mrozek), Radrennfahrer (Michael Gamper) oder Wasserleiche (Uta Fenske). Bei den Körperpraktiken figurieren beispielsweise Themen wie Arbeiten (Gudrun Löhrer), Essen (Maren Möhring), Modifizieren (Eva Bischoff), Reproduzieren (Christiane König), Sex haben/Sex machen (Henriette Gunkel/Olaf Stieglitz) oder Sprechen (Arne Klawitter).

Das Niveau der Beiträge ist durchgängig sehr hoch. Hatte eine Vielzahl von Publikationen im deutschsprachigen Raum sich über lange Zeit mit Repräsentationen und dem Reden über Körper auseinander gesetzt, ist der hier erarbeitete Fokus auf Körperpraktiken und -figurationen sehr erfrischend. Während das Buch vielerlei Anregungen gibt, hätte man sich in der Einleitung eine klarere Situierung innerhalb der breitgefächerten Ansätze der Körpergeschichte und Kulturwissenschaften gewünscht. In welchem Verhältnis etwa stehen die hier umrissenen Techniken zu den bereits 1934 von Marcel Mauss propagierten "Körpertechniken"? Spannend wäre zudem für ein weiterführendes Projekt, noch stärker den Blick über den "Westen" hinaus zu werfen und einen stärkeren Bezug etwa zur Prägungskraft des Kolonialismus in der westlichen Moderne herzustellen (bei manchen Themen ist es implizit oder explizit vorhanden). Um hier nur zwei Beispiele zu nennen: Bei der Figuration der "Wasserleiche" hätte - weg vom klassischen Kanon eines Shakespeare, Amery und anderen europäischen Denkern - der Bezug zur kolonialen Vergangenheit und den postkolonialen Konflikten der Gegenwart noch stärker herausgearbeitet werden können. Nicht nur die gegenwärtig durch eine restriktive europäische Flüchtlingspolitik bedingten Wasserleichen als kontinuierliche Erscheinung des Mittelmeerraumes (in dem Band relativ knapp behandelt), sondern auch etwa die gewaltsam hervorgebrachten Wasserleichen während des Genozides in Ruanda, die von Flüchtlingen in die Nachbarländern stammten oder die in den Fluten der Flüsse zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko jährlich ertrinkenden undokumentierten Migrantinnen und Migranten zeugen davon. Dies gilt ebenso für die Praxis der "Arbeit": Gayatri Chakravorty Spivak hat in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Marx immer wieder auf die "international" wie auch "sexual division of labor" im globalen kapitalistischen Kreislauf hingewiesen - und auf das Verschwinden der Körper und Arbeitskraft der Frauen hinter den dabei produzierten Waren. Beide Beispiele könnte man im Kontext der "global Apartheid" (Anthony Richmond) noch klarer in Bezug auf die Geschichte des Körpers und des Kolonialismus und der Moderne situieren. Damit käme man dem Anspruch der Herausgeberinnen und Herausgeber vielleicht noch näher, "neue Perspektiven über ein (wissens-)politisch motiviertes Denken und Forschen" zu eröffnen (15, von der Praktiken Seite her gelesen).

Man muss die Herausgeberinnen und Herausgeber, die Autoren und Autorinnen (und den Verlag) aber vor allem würdigen - nicht nur für die spannende Auswahl an und die differenzierte Bearbeitung der Themen, nicht nur für das schön gestaltete Buch, sondern vor allem für die kohärente Verflechtung der einzelnen Beiträge, die auch das einlösen, was in der Einleitung programmatisch verkündet wird. Es wird sichtbar, dass jahrelange Diskussionen und Arbeit hinter dem Projekt stecken. Die Debatten um den Körper als fundamentaler Ausgangspunkt historischen und kulturwissenschaftlichen Denkens, das wird mit dem Band deutlich, ist noch lange nicht an sein Ende gelangt. Bodies still do matter.


Anmerkungen:

[1] Lisa Jean Moore / Mary Kosut (Hgg.): The Body Reader: Essential Social and Cultural Readings, New York / London 2010, 1.

[2] Siehe exemplarisch für die Körpergeschichte Maren Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit: Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen 2000 (2. Aufl. 2005); für stärker interdisziplinär ausgerichtete Werke siehe Anmerkung 1 und die seit 2013 erscheinende Zeitschrift "body politics. Zeitschrift für Körpergeschichte".

[3] Siehe beispielhaft Barbara Duden: Die Frau ohne Unterleib. Zu Judith Butlers Entkörperung. Ein Zeitdokument, in: Feministische Studien 11, 1993, H. 2, 24-33; Philipp Sarasin: Mapping the Body. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und "Erfahrung", in: Historische Anthropologie. Kultur - Gesellschaft - Alltag 7, 1999, 437-451; Ders.: Reizbare Maschinen: Eine Geschichte des Körpers, 1765-1914, Frankfurt/Main 2001.

Barbara Lüthi