Wolfgang Geierhos: Der Große Umbau. Russlands schwieriger Weg zur Demokratie in der Ära Gorbatschow (= Dresdner Historische Studien; Bd. 12), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 425 S., ISBN 978-3-412-50385-7, EUR 55,00
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"Der Große Umbau. Russlands schwieriger Weg zur Demokratie in der Ära Gorbatschow" ist ein 425 Seiten schweres Werk mit einer schwer wiegenden These. Wolfgang Geierhos, früherer Professor an der Hochschule der Sächsischen Polizei, interpretiert Gorbatschows Perestrojka als ein im Politbüro geplantes und auf die Abschaffung des kommunistischen Systems zielendes Unternehmen. Gleich am Anfang des Buches formuliert er die Kernfrage, die zugleich auch seine Kernthese ist: "Kann es sein, dass gerade dieses Ende der Herrschaft der KPdSU über das Land und die Reintegration Russlands in das Staatensystem Ziel von Gorbatschows Politik gewesen ist? Dann aber wäre der heutige Zustand Russlands nicht das Ergebnis eines Scheiterns von Gorbatschow, sondern die größte Umwälzung eines Systems im 20. Jahrhundert nach Lenins Oktoberputsch von 1917" (20). Der Schlüssel zum Verständnis der Perestrojka liege deshalb in der Frage, mit welchen Methoden ein geschlossenes System sich selbst abschaffen konnte (171). Dass es nur mit List (Alexander Jakovlev), also mit den Mitteln und der Sprache des Systems selbst bzw. aus dessen Machtzentrum heraus möglich war und Gorbatschow letztendlich auch gelungen ist, ist die Quintessenz des Buches.
Diese Lesart bestimmt die neun Kapitel des Werkes, das aus zwei Teilen besteht und einen langen Bogen von der Zeit nach Stalins Tod 1953 bis zum heutigen Russland schlägt. Der erste Teil trägt den Titel "Die Vorbereitung" und behandelt in zwei Abschnitten das alternative Denken und die ersten Reformansätze vor Gorbatschow. Erst im Teil zwei ("Die Transformation des sowjetischen Staates") werden in sieben weiteren Kapiteln Gorbatschows Perestrojka als Höhepunkt eines langen Vorbereitungsprozesses und ihre Bedeutung für das heutige Russland thematisiert. Die revolutionären Umwälzungen in der Sowjetunion der 1980er Jahre stehen allerdings nicht im Mittepunkt, sondern werden von weiteren Themen wie den Wandlungsprozessen in Polen und DDR, der Wiedervereinigung Deutschlands oder der sich verändernden geopolitischen Weltlage flankiert. Weitere knappe Kapitel behandeln die Widerstände und den Putsch (Kap. 5), die "Wiedergewinnung der Geschichte" (Kap. 6), das ambivalente Urteil über Gorbatschow (Kap. 7) und Russlands Rückschritte zu autoritären Strukturen, wo das oppositionelle Denken unter Putin (vor allem seit 2011) wieder zu einer gefährlichen Randerscheinung geworden ist (Kap. 8). Mit einer kritischen Bilanz der westlichen Politik der letzten Jahre gegenüber Russland und der Feststellung, dass Russlands Weg zur Demokratie noch lang sei, endet das Buch.
Ein großer Teil des Werkes ist dem alternativen Denken vor Gorbatschow gewidmet, das Geierhos anhand unterschiedlicher Felder und Zeiten, beginnend mit Chruschtschow, beschreibt. Überzeugend sind dabei Bereiche, die der Autor jenseits der Machtelite aufdeckt und erfasst: bei der andersdenkenden Intelligenz und Menschenrechtsbewegung; bei der Arbeiterschaft, die bereits unter Chruschtschow mit Arbeitsniederlegungen und Großdemonstrationen rebellierte; bei der Ökologiedebatte, die in den siebziger Jahren einsetzte und sich vor allem in der Literatur entfalten konnte. Besonders spannend liest sich das Kapitel über die wenig bekannte Zusammenarbeit der sowjetischen Wissenschaft (Akademie der Wissenschaften) mit dem Westen im Club of Rome, die jenseits der Blockkonfrontation und Ideologien seit Anfang der 1970er gut funktionierte und später in Gorbatschows "neuem Denken" über Ganzheitlichkeit der Welt und Unteilbarkeit der Sicherheit Ausdruck fand. Dass die systemkonformen Nonkonformisten etwa aus dem Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen (IMĖMO) oder der Internationalen Abteilung des ZK die Auffassungen ihrer Vorgesetzten über die entideologisierten Memoranden und Analysen noch lange vor Gorbatschow zu beeinflussen suchten, ist eine oft rezipierte, doch bisher wenig wissenschaftlich reflektierte Meinung. [1] Am Beispiel der Zusammenarbeit von sowjetischen und amerikanischen Wissenschaftlern legt Geierhos eines dieser Refugien des nonkonformen Denkens frei und macht damit deutlich, dass die Sowjetunion nach Stalins Tod keineswegs so monolithisch war, wie es nach außen schien und dass die idealistischen Züge Gorbatschows Perestrojka nicht aus einem Vakuum heraus entstanden sind. Allerdings wird diese Erkenntnis nur ausschnittartig und stellenweise zu oberflächig oder gar widersprüchlich vermittelt. Der Autor neigt dazu, die kritischen "Vordenker" der Perestrojka in der sowjetischen Führung der früheren Jahre zu idealisieren. Dass Chruschtschow den stalinistischen Verbrechen, an denen er selbst beteiligt war, endgültig ein Ende setzte und einige Freiräume in der Kultur und Literatur schuf, qualifiziert ihn noch nicht zum systeminternen Kritiker, wie es die Ausführungen des Buches implizieren. Eine solche Personifizierung greift auch deshalb zu kurz, weil sie die internen Machtkämpfe unter Stalins Weggefährten außer Acht lässt oder die schon im Frühjahr 1953 von Lawrentij Berija und nach seiner Verhaftung von Georgij Malenkov initiierten Reformansätze - etwa die Beendigung der spätstalinistischen antisemitischen Kampagne, die Amnestie mindestens einer Million politischer Gefangener (Berija), die Vorschläge, die Bauern von der hohen Steuerlast zu befreien oder die Wirtschaft von der Schwerindustrie auf die Konsumproduktion und somit auf die Bedürfnisse der Sowjetbürger, umzustellen (Malenkov) - komplett ignoriert. Ähnlich übertrieben erscheint die Interpretation der "ersten Reformen" unter Andropow als Ansätze, die auf Systemveränderung zielten (150), wenn man die von ihm zugleich intensivierte Repressionspolitik gegenüber den Andersdenkenden bedenkt.
Nicht weniger problematisch ist die im zweiten Teil des Buches folgende Schilderung von "Gorbatschows 'Revolution von oben'", die der steilen These von einer planmäßigen Systemdemontage folgt und Gorbatschow zu einem visionären Freiheitskämpfer mit einem klaren "Plan", das System zu beseitigen, verklärt. Ironischerweise befindet sich der Autor damit auf der gleichen Interpretationsebene wie die Gorbatschow-Hasser im heutigen Russland, die dem ehemaligen Generalsekretär vorwerfen, die Sowjetunion zerstört zu haben und sogar strafrechtliche Konsequenzen fordern. In beiden Fällen greift die Reduktion der Geschichte auf den Gorbatschow-Faktor zu kurz. Bei dem vorliegenden Buch ist das nicht nur methodisch und argumentativ fragwürdig, sondern streckenweise auch in der Darstellung verzerrend und falsch. Zwei grundsätzliche Probleme seien in diesem Zusammenhang genannt. Erstens sucht Geierhos die Bestätigung seiner These nicht in den Primärquellen, sondern meistens bei den Hauptprotagonisten der Perestrojka. Als Beleg werden Ex-post-Zitate von Gorbatschow selbst oder seinen Weggefährten angeführt, ohne sie kritisch in Beziehung zu politischen Entscheidungen zu setzen. Ein großer Teil des Buches besteht aus Zitaten, was dazu führt, dass man sich beim Lesen immer wieder fragt, ob man es mit der Gedankenführung des Autors oder wieder einmal mit einem langen Zitat zu tun hat.
Mit der ausgeprägten Vorliebe des Autors für Zitate hängt eine weitere Schwäche des Buches eng zusammen: Die Darstellung ist sehr selektiv. Was die These nicht erhärtet, wird übergangen oder reduziert dargestellt, etwa die Rolle von Boris El'cin oder der demokratischen Opposition im Reformprozess des Landes. Die wachsende Unzufriedenheit der liberal eingestellten Bevölkerung mit Gorbatschows zögerlichen Reformen, die Proteste aus den eigenen Reihen (Eduard Schewardnadze, Anatolij Tschernjajew), die blutigen Eingriffe des Zentrums im Baltikum im Januar 1991 und viele andere Aspekte der Perestrojka werden weitgehend ausgeblendet. Auch schreibt Geierhos die Errungenschaften der Glasnost' gänzlich Gorbatschow zu, ohne die entscheidende Rolle der aufkommenden kritischen Öffentlichkeit zu würdigen [2] oder zu erwähnen, dass die Losung "Glasnost'" zunächst keineswegs auf eine Aufhebung der Zensur zielte. Die Behauptung, dass Gorbatschow relativ früh die "neue Freiheit der Journalisten durch ein Pressegesetz" absichern wollte (214), steht auch in Widerspruch zur Wirklichkeit: das liberale Gesetz "über die Presse und die Massenmedien" wurde nach langen Verzögerungen erst am 12. Mai 1990 von Gorbatschow unterschrieben und trat als eines der letzten der demokratischen Gesetze am 1. Januar 1991 in Kraft, während die Medien sich ihre Freiheiten Stück für Stück bereits erobert hatten. Im Übrigen war es auch Gorbatschow, der im Januar 1991 im Parlament erfolglos die Idee einbrachte, die Massenmedien erneut unter Kontrolle zu stellen und damit das von ihm unterzeichnete Gesetz rückgängig zu machen. [3] Gorbatschow hatte zwar relativ früh die Notwendigkeit einer Umstrukturierung des Einparteienstaates und der internationalen Beziehungen erkannt und war von einem idealistischen Reformwillen beseelt. Seine Perestrojka war aber eine Melange aus sozialistischen Idealen und abstrakten sozial-demokratischen Vorstellungen, eingezwängt in die politischen Realitäten seiner Zeit, auf die er spätestens ab 1989 nur noch reagierte. Weder stand der Umbau der Sowjetunion zu einer Marktwirtschaft, noch die vollkommene Aufgabe der leitenden Rolle der Partei oder gar die Auflösung der Union zu Beginn dieses Prozesses auf dem Plan. Die Reformen entwickelten eine Eigendynamik, die so nicht beabsichtigt, bald aber auch mit friedlichen Mitteln nicht mehr aufzuhalten war. Anders als seine Vorgänger reagiert Gorbatschow darauf nicht mit Repressionen, sondern mit Dialog, ja er zeigte sich für neue Ideen und Forderungen sogar empfänglich. Darin besteht sein größtes Verdienst. Leider wird die ganze Ambivalenz dieser spannenden Epoche von Geierhos' These eines geplanten Umbaus verstellt, die mehr irritiert, als erklärt.
Anmerkungen:
[1] Petr Tscherkasov: IMĖMO. Portret na fone ėpochi, Moskau 2004.
[2] Helmut Altrichter: Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2009.
[3] Yuliya von Saal: KSZE-Prozess und Perestroika in der Sowjetunion. Demokratisierung, Werteumbruch und Auflösung 1985-1991, München 2014, 322ff.
Yuliya von Saal