Vladislav Zubok: A Failed Empire. The Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev, Chapel Hill, NC / London: University of North Carolina Press 2007, 488 S., 12 illus, ISBN 978-0-8078-3098-7, USD 39,95
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Der an der Temple University in Philadelphia lehrende Vladislav M. Zubok hat zusammen mit Constantine Pleshakov bereits 1996 mit dem Buch Inside the Kremlin's Cold War Furore gemacht und die "Kalter-Krieg-Forschung" gründlich aufgewühlt. [1] Auf der Grundlage unzähliger Akten aus sowjetischen Archiven, Zeitzeugenbefragungen und profunder Kenntnisse nicht nur der russischen, sondern auch der westlichen Sekundärliteratur prägten die beiden russischen Historiker das Paradigma des "revolutionären und imperialistischen" Charakters von Josef Stalins und Nikita Chruschtschows expansiver Außenpolitik. Wie vor ihnen bereits Vojtech Mastny [2], brachten die beiden Historiker die zentrale Bedeutung der Ideologie für die Kremlherren wieder in den Mittelpunkt historischer Betrachtung zum Sowjetreich zurück. Sie konzedierten, dass Stalin mit seinen brutalen Säuberungswellen zwar moralisch ein Monster war, politisch aber ein cooler Pragmatiker. Dem vožd ging es vor allem um die traditionelle Ausdehnung des Machtbereiches durch Erweiterung der Sicherheitszonen an allen Grenzen (im Westen, Osten und Süden) mit zusätzlicher Fundierung durch das ideologische Glaubensbekenntnis zum Marxismus-Leninismus und dessen globale Verbreitung. Das Buch konzentrierte sich auf die beiden Nachkriegsjahrzehnte unter Stalin und Chruschtschow.
Zuboks neuer Band spannt den Bogen weiter über die gesamte Nachkriegsgeschichte des Sowjetreiches von Stalin bis zu Michail Gorbatschow. Das Generalthema ist "empire" und folgt damit dem Modetrend der jüngsten Kalter-Krieg-Forschung, in dem auch die amerikanische Rolle im 20. Jahrhundert als Supermacht vor allem unter dem Gesichtspunkt der vergleichenden Forschung zum "Aufgang und Niedergang" von Weltreichen perzipiert wird. [3] Das imperiale Rom ist dabei meist der Startpunkt. [4] Zuboks ungemein spannend und dicht geschriebenes Buch beginnt mit Stalin, der das sowjetische Weltreich nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut hat, und endet mit Gorbatschow, der mit seiner idealistischen Reformpolitik den Niedergang beschleunigt habe, der sich schon in den Jahren zuvor aufgrund von imperialer Machtüberdehnung ("imperial overstretch"), mangelnder Führungsqualitäten der alternden Kremlherren sowie einer verheerenden Wirtschaftspolitik angekündigt hatte.
Einer der Vorzüge von Zuboks Buch ist es, dass es die Fronten des Kalten Kriegs in Europa und Asien ebenbürtig behandelt und auch deren enge Verschränkung aus der Sicht Moskaus nicht übergeht. Der Koreakrieg ist dafür ein gutes Beispiel. In den Gesprächen mit Mao Anfang 1950 drängte Stalin den Chinesen, die Führung der revolutionären Prozesse in Asien zu übernehmen. Dabei verdammte er das für Moskau so vorteilhafte Yalta-System - "to hell with Yalta" (79) -, das ihm internationale Legitimität und diplomatische Vorteile verschafft hatte. Als die Intervention der Amerikaner im Koreakrieg die "revolutionären Kräfte" stoppte, sollte Maos Rote Armee die Kastanien aus dem Feuer holen. Für Stalin war ein langer Krieg zwischen der Volksrepublik China und den USA "a good thing" (80), stellt Zubok trocken fest, da es die Amerikaner von Europa und der westdeutschen Wiederbewaffnung ablenkte und der Sowjetunion mehr Zeit verschaffte, ihre militärischen Kräfte für den in Stalins Augen "unvermeidlichen Krieg" mit den Amerikanern zu sammeln.
Am nächsten kam das sowjetisch-amerikanische Verhältnis diesem Szenario in der Kuba-Krise von 1962 unter Stalins Nachfolger Chruschtschow, die mit einem sowjetischen Rückzieher endete. Generell praktizierte der impulsive Chruschtschow "nuclear brinkmanship", allerdings ohne klare strategische Ziele zu haben (142). Zubok verweist darauf, dass Chruschtschow im Frühjahr 1959 während der von ihm provozierten Krise um Berlin Mittelstreckenraketen in der DDR installieren ließ (144 f.).
Die sogenannte Dritte Welt, also Afrika, der Nahe Osten und Lateinamerika, neben Asien und Europa, wird nur relativ kurz behandelt [5], Leonid Breschnew und Michail Gorbatschow aber lässt Zubok dieselbe Aufmerksamkeit zukommen, die er Stalin und Chruschtschow widmet. In diesen ernsthaften Analysen der Epigonen Stalins weht ein neuer Wind in der allgemeinen Geschichte des Kalten Krieges. Der Historiker Zubok zeichnet dabei ein überraschend sympathisches Bild von Breschnew, das man bisher aus der Literatur nicht kannte. Breschnew konnte auf der Grundlage der Position sowjetischer militärischer Stärke als Friedensstifter auftreten. Trotz der vielfältigen Oppositionsströmungen unter seinen Marschällen und den Geheimdienstleuten setzte sich Breschnew mit seinem persönlichen Interesse für die Entspannungspolitik mit den USA und Westdeutschland durch. Einer der wichtigsten Beiträge Zuboks ist es, die sowjetische Nomenklatura nicht als monolithisch darzustellen, wie das in der Forschung oft der Fall ist, sondern die großen Meinungsdifferenzen bei wichtigen Entscheidungen zu zeigen. Breschnew war ein versöhnlicher Politiker, der den Konsens suchte, aber immer wieder Entscheidungsschwäche zeigte - gerade im Falle der Afghanistaninvasion (1979) und der Polenkrise (1980-81) stellte sich seine Unentschiedenheit als eklatante Führungsschwäche heraus. Er blieb "ein Gefangener des revolutionären-imperialistischen Paradigmas" (339) und setzte die nukleare Aufrüstung trotz SALT-Prozess und Détentepolitik fort. Zubok betont jedoch, dass die amerikanischen Neokonservativen falsch liegen, wenn sie behaupten, die Entspannungspolitik sei nur ein Feigenblatt für die sowjetische Politik der militärischen Stärke und ein "Sieg" des Kremls im Kalten Krieg gewesen.
Die sowjetische Gesellschaft machte seit Chruschtschows Entstalinisierungs- und Breschnews Entspannungspolitik gewaltige Veränderungen durch. Die Intellektuellen lösten sich aus dem Käfig ideologischer Denkmuster und Teile der Bevölkerung erlebten mittels amerikanischer Populärkultur eine begrenzte mentale Befreiung. Junge Parteieliten lösten sich von den Mustern traditioneller Xenophobie, dem ideologischen Kollektivismus und dem Militarismus der Stalinzeit. Manche hatten sogar Gelegenheit, in den Westen zu reisen, Industrielle und Manager der Staatsbetriebe wollten mehr Handel mit dem Westen betreiben und Wirtschaftskontakte im Ausland aufbauen. Lediglich der KGB, die Militärs und die im "militärischen-industriellen Komplex" (!) - ja das gab es auch in der Sowjetunion - Beschäftigten blieben stalinistische Hardliner und steckten ihre Köpfe in den Sand. Während es in der Kalter-Krieg-Literatur zu den USA gang und gäbe ist, dass man die Aufmerksamkeit auch auf die US-Innenpolitik und wichtige geistige Strömungen im Land richtet (Stichwort McCarthyismus), suchte man solche Beigaben in der Literatur zur Sowjetunion bisher vergeblich. Zubok ist der erste Autor, der in einer allgemeinen Überblicksgeschichte zur Sowjetunion im Kalten Krieg der "Heimatfront" ein ganzes Kapitel widmet und dazu einleitend auch noch bedauert, dass er für ein Kapitel zur Sowjetwirtschaft keinen Platz mehr hatte. Seine Ausführungen über die erstaunliche intellektuelle Gärung in der Sowjetunion in den 1960er Jahren - und das nicht nur bei Alexander Solschenizyn - sind vielleicht eines der innovativsten Kapitel der jüngeren Kalter-Krieg-Forschung. Seit Jeremi Suris wichtigem Buch zu den 1960er Jahren wissen wir ja, dass die rebellische Jugend ein weltweites Phänomen war. [6] Die Kohorte junger Eliten, die wie Gorbatschow in diesen Jahren ihre weltoffenere Prägung erhielten, sollte dann die friedliche Revolution von 1989/91 hervorbringen. Zubok scheut nicht davor zurück, solche langfristigen Erklärungsmuster über Jahrzehnte hinweg zu spannen.
Zuboks letztes Kapitel zur Rolle Gorbatschows als "Totengräber" (330f.) des sowjetischen Weltreiches ist ähnlich weitsichtig und historiografisch einfühlsam wie die Kapitel zu Chruschtschow und Breschnew. Endlich ein Historiker, dessen Fragestellungen zum Ende des Kalten Krieges nicht allein um die in der amerikanischen triumphalistischen Literatur so sehr betonte Rolle Ronald Reagans kreisen, obwohl auch dieser nicht zu kurz kommt. [7] Zubok geht es darum, sich auf die langfristigen Faktoren des Machtzerfalls der Sowjetunion zu konzentrieren. Vom widerwilligen Breschnewschen Interventionismus in Polen und dem Afghanistan-Desaster, über den Druck der Generäle Reagans, sowjetischen Herausforderungen mit einem neuen Wettrüsten zu begegnen, den kurzlebigen Gerontokraten nach Breschnews Tod bis zu dem Nuklearunglück von Tschernobyl und den Abrüstungsverhandlungen mit Reagan kommt alles zur Sprache. Vor allem Gorbatschows enigmatischer Persönlichkeit widmet Zubok breitem Raum - seinem Pazifismus, Idealismus sowie seiner außenpolitischen Naivität (hier wäre ein Vergleich mit Reagan reizvoll gewesen), wobei er zu dem Schluss kommt, dass der rapide und dramatische Reformschub der späten 1980er Jahre ohne Gorbatschow und sein auch aus westlichen Quellen stammendes "neues Denken" kaum denkbar gewesen wäre. Im Gegensatz zu Russlandkennern wie Stephen Kotkin, der den unerwarteten Kollaps der Sowjetunion mit strukturellen, institutionellen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren erklärt [8], scheut sich Zubok nicht, die zwiespältige Persönlichkeit Gorbatschows und seine zentrale Rolle in der friedlichen Transformation Osteuropas in den Jahren 1989 bis 1991 in den Mittelpunkt zu stellen. Grosse Männer bewegen bei Zubok die Geschichte, nicht die subkutanen Strukturen.
Anmerkungen:
[1] Vladislav M. Zubok / Constantine Pleshakov: Inside the Kremlin's Cold War. From Stalin to Khrushchev, Cambridge/MA 1996.
[2] Vojtech Mastny: Cold War and Soviet Insecurity. Stalin Years, New York 1996.
[3] Der Trendsetter war hier Paul Kennedy mit seinem kurz vor dem Ende des Kalten Krieges erschienen Bestseller, The Rise and Fall of the Great Powers, New York 1987; zum amerikanischen Empire im Vergleich vgl. Charles S. Maier: Among Empires. American Ascendancy and Its Predecessors, Cambridge/MA 2006; Bernard Porter: Empire and Superempire. Britain, America and the World, New Haven 2006.
[4] Harold James: The Roman Predicament. How the Rules of International Order Create the Politics of Empire, Princeton 2006.
[5] Sehr ausführlich dazu Odd Arne Westad: The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of Our Times, Cambridge 2005.
[6] Jeremi Suri: Power and Protest. Global Revolution and the Rise of Détente, Cambridge/MA 2003.
[7] Ähnlich umsichtig zu den vielschichtigen Faktorenbündeln bei beiden Supermächten, die zum Ende des Kalten Krieges führten, vgl. Saki Ruth Dockrill: The End of the Cold War Era, London 2005.
[8] Stephen Kotkin: Armageddon Averted. The Soviet Collapse 1970-2000, Oxford 2001.
Günter J. Bischof