Detlef Brandes: Der Weg zur Vertreibung 1938-1945. Pläne und Entscheidungen zum "Transfer" der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen. Vorwort von Hans Lemberg (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum; Bd. 94), München: Oldenbourg 2001, XIV + 502 S., ISBN 978-3-486-56520-1, EUR 34,77
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Jan Mlynarik: Fortgesetzte Vertreibung. Vorgänge im tschechischen Grenzgebiet 1945-1953. Mit einem Vorwort von Otfried Pustejovsky, München: Herbig Verlag 2003
Detlef Brandes / Holm Sundhaussen / Stefan Troebst (Hgg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedelung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, Wien: Böhlau 2010
Jan M. Piskorski: Vertreibung und deutsch-polnische Geschichte. Eine Streitschrift. Aus dem Polnischen von Andreas Warnecke, Osnabrück: fibre Verlag 2005
Eva Hahn / Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010
Detlef Brandes / Alena Mísková (Hgg.): Vom Osteuropa-Lehrstuhl ins Prager Rathaus. Josef Pfitzner 1901-1945, Essen: Klartext 2013
Detlef Brandes / Holm Sundhaussen / Stefan Troebst (Hgg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedelung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, Wien: Böhlau 2010
Detlef Brandes behandelt ein Thema, das zwar seit langem von Deutschen, Tschechen und Polen diskutiert wird, bisher jedoch kaum wirklich erforscht worden ist: den Zusammenhang zwischen den Nachkriegsplanungen der Großmächte und den Kriegszielprogrammen der tschechoslowakischen und polnischen Exilregierungen. Grundlage sind vor allem britische und tschechoslowakische, in einem geringeren Ausmaß polnische Archivbestände; eine wichtige, auf den ersten Blick überraschend große Rolle spielen in den ersten Kapiteln auch die sudetendeutschen Gegner des Nationalsozialismus im Londoner Exil.
Der Leser findet in diesem Werk - ähnlich wie in den vorangegangenen Büchern von Brandes - eine Fülle von Zusammenfassungen und Zitaten aus bisher großteils unbekannten Dokumenten, die in die sorgfältig ausgewertete Sekundärliteratur eingebettet werden. Der Verfasser zeigt, wie beide Exilregierungen (die tschechoslowakische erst ab Juli 1941 als solche anerkannt) aus teils unterschiedlichen Anlässen sich immer stärker darauf versteiften, dass ihr künftiger Staat keine deutsche Minderheit tolerieren könnte. Die Briten, bis 1943 Hauptgesprächspartner in diesen Fragen, temperierten und zögerten, sprachen sich gegen weitergehende polnische Annexionspläne im Westen aus, hatten aber den Binsenwahrheiten und Erfahrungen der polnischen und tschechoslowakischen Verbündeten wenig Konstruktives entgegenzusetzen; im Juli 1942 stimmte das War Cabinet dem Grundsatz des Transfers der deutschen Minderheiten in Mittel und Südosteuropa "wo dies notwendig und wünschenswert erscheint" zu. Die polnische Frage als erstrangige Belastung der interalliierten Beziehungen wog immer schwerer, sodass London im Herbst 1944 in die Verlegung der polnischen Westgrenze - als Kompensation für die Westverschiebung der sowjetisch-polnischen Grenze - bis nach Breslau und Stettin einwilligte; die Zahlen der von der Aussiedlung zu erfassenden Deutschen stiegen immer höher. Die Darstellung endet mit einigen Einblicken in die ersten Vertreibungsmaßnahmen in der Tschechoslowakei und Polen im Sommer 1945 vor der Potsdamer Konferenz sowie mit den diesbezüglichen Beschlüssen der Großmächte.
Brandes dokumentiert einige Zusammenhänge, die teils neu sind, teils bisher als unzulänglich untermauerte Vermutungen im Umlauf waren. Das wichtigste Ergebnis scheint in der Konfrontation des Zeitraums bis 1942 mit der späteren Zeit zu liegen: Während in den Verhandlungen zwischen Beneš und Jaksch lange Zeit Zwischenlösungen im Gespräch waren, die man als Kompromisse einstufen könnte, gewann allmählich - unter anderem durch die nationalsozialistische Praxis im besetzten Polen, die mit der Zeit gewissermaßen indirekt die Maßstäbe für die Nachkriegsplanungen setzte - die ethnische Säuberung als Instrument der Vollendung des Nationalstaates immer stärkere Legitimität. Im tschechoslowakischen Exil, in dem Brandes die bestimmende Rolle von Beneš hervorhebt, dachte man aber noch im November 1944 daran, aktive Gegner des Nationalsozialismus nach dem Krieg im Lande zu belassen. Im polnischen Fall blieb die Frage der Westgrenze praktisch bis Potsdam offen, unter anderem deshalb, weil Teil- und Kompromisslösungen hinsichtlich der Aussiedlung der Deutschen vom Anfang an irreal schienen; das Prinzip der vollständigen Entfernung der deutschen Bevölkerung aus Altpolen und den neugewonnenen Gebieten stand vom Anfang an kaum angefochten im Mittelpunkt der Überlegungen der polnischen Exilregierung und der Alliierten. Damit gewann die Entscheidung über den Verlauf der deutsch-polnischen Grenze eine grundsätzliche Bedeutung für alle betroffenen Deutschen - in der Tschechoslowakei wie im alten und im künftigen polnischen Staatsgebiet, denn es wurde mit der Zeit immer weniger vorstellbar, dass sie dort anders behandelt werden würden als in Polen.
Der Verfasser befasst sich eingehend mit der Politik der 'Großen Drei' Alliierten. Moskau hatte im polnischen wie im tschechoslowakischen Fall keine Skrupel; im ersten ging es primär um die Stärkung einer durch die Gebietsabtretungen im Osten geschwächten künftigen polnisch-kommunistischen Regierung, im zweiten um die Stärkung der als prosowjetisch eingestuften "bürgerlichen" Regierung. Ob sich Moskau jemals ernsthaft Gedanken gemacht hat, welche Belastung die deutschen Displaced Persons in der Zukunft für seine eigene Besatzungszone in Deutschland darstellen würden, wann (und ob überhaupt) der Zusammenhang zwischen Grenzverschiebung, Aussiedlung und Deutschlandpolitik erkannt worden ist, bleibt weiterhin eine offene Frage. In den USA scheint die Kluft zwischen den Ratschlägen der Experten und den Entscheidungen Roosevelts am größten gewesen zu sein. Die Beamten blieben vorsichtig, der Präsident setzte sich über deren Bedenken mehrmals hinweg; die endgültige Entscheidung in Potsdam folgte einem ähnlichen Muster. Im Mittelpunkt der Darstellung der alliierten Politik steht jedoch - wohl nicht nur wegen der gründlichen Recherchen des Verfassers in Londoner Archiven - Großbritannien. Die britischen Überlegungen bestechen durch Sachwissen und Vernunft, weniger durch die Konsistenz der praktischen Handlungen, denn letztlich blieb auch für London das Schicksal der Deutschen außerhalb der künftigen Besatzungszonen eine zweitrangige Funktion der großen Politik, in der es um die Erhaltung der alliierten Koalition durch Saturierung der Sowjetunion ging. Erst nach Kriegsende wurde, wie Hans Åke Persson gezeigt hat [1], der "Massentransfer" der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei und Polen zu einem erstrangigen Problem der Politik der Alliierten in Deutschland.
Dem Verfasser ist abermals ein Buch gelungen, das die Diskussion auf einen durch die Einbeziehung neuer Quellen veränderten Stand hebt und allen am Thema Interessierten noch lange als wichtiges Nachschlagewerk dienen wird.
Anmerkung:
[1] Hans Åke Persson: Rhetorik und Realpolitik. Großbritannien, die Oder-Neiße-Grenze und die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, Potsdam 1997 (vergleiche meine Besprechung in ZfO 48 [1999], 279 ff.).
Włodzimierz Borodziej