Detlef Brandes / Holm Sundhaussen / Stefan Troebst (Hgg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedelung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, Wien: Böhlau 2010, 801 S., ISBN 978-3-205-78407-4, EUR 79,00
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Das Thema Vertreibung im 20. Jahrhundert stellt fraglos eines der wichtigsten, schwierigsten und zugleich am stärksten verminten historiografischen Felder dar. Ein "Lexikon der Vertreibungen" kann in diesem Diskurs sicher zu einer Versachlichung beitragen, indem es zunächst einen Überblick über die diversen Vertreibungsphänomene liefert, ohne sie schon miteinander zu vergleichen und zu werten. Wenn heute mit viel Aufwand von einem "Mythos der Vertreibung" [1] die Rede ist, so muss am Anfang des "Lexikons der Vertreibungen" jedoch notwendig eine Begriffsklärung stehen. Mit anderen Worten: Welche Form der "Zwangsmigration" kann auch als Vertreibung bezeichnet werden? Dass vor dem Hintergrund der hitzig geführten Debatte um ein "Zentrum gegen Vertreibungen" dabei nicht nur historisch-begriffliche Dimensionen eine Rolle spielen, sondern dabei immer schon politische Standortbestimmung gemeint ist, liegt auf der Hand. Auch die Idee eines "Lexikons der Vertreibungen" ist, ähnlich wie der wegweisende, von polnischen Wissenschaftlern erarbeitete Atlas "Zwangsumsiedlung", mittelbar aus der Diskussion um das zu errichtende "sichtbare Zeichen" hervorgegangen (11).
Gemessen daran, ist der argumentative Aufwand, den die Herausgeber dem Lexikon voranstellen, überschaubar: Zwar erkennen sie die Heterogenität der Phänomene von Zwangsmigration im 20. Jahrhundert, die einzelnen Kategorien wie "Bevölkerungsaustausch", "binnenstaatliche Zwangsaussiedlung" und der ab den 1990er Jahren infolge der Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien populär gewordene Terminus der "ethnischen Säuberung" werden dann jedoch ohne weiteres als "Vertreibungsgeschehen" (7) zusammengefasst und sind allesamt Thema des Lexikons. Hingegen finden Zwangsmigrationen, die in erster Linie als Flucht zu bewerten sind, keine Aufnahme. Die damit verbundene Schwierigkeit, der Fluchtverursachung als völkerrechtliches Delikt, "war den Herausgebern dabei wohlbewusst" (8). Problematisch muss diese Unterscheidung gerade im deutschen Kontext erscheinen, in dem sich "Flucht und Vertreibung" als feststehendes Begriffspaar in der Erinnerungskultur etabliert haben. "Deutsche aus dem heutigen polnischen Staatsgebiet", so die etwas unglückliche Bezeichnung für die größte Gruppe der Vertriebenen, die in dem Lexikon Erwähnung findet, sind schwer in Flüchtende und Vertriebene zu trennen, wenn man die Ebene des Flucht- bzw. Vertreibungsgeschehens verlässt, also etwa auf die Vorgeschichte oder Integrationsgeschichte eingeht. Nicht zuletzt der Artikel "Flucht" von Otto Luchterhandt in der vorliegenden Publikation weist auf diesen Umstand hin. Der Beitrag "Deutschland" der Migrationsforscher Klaus J. Bade und Jochen Oltmer umfasst schließlich so unterschiedliche Gruppen wie die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, deutsche Kriegsgefangene, Evakuierte aus den deutschen Großstädten während des Zweiten Weltkriegs bis hin zu den sogenannten Kontingentflüchtlingen. Zu bedenken ist freilich die Notwendigkeit eine auf insgesamt 308 Lemmata zugeschnittene, dem Charakter eines Nachschlagewerkes angemessene pragmatische Herangehensweise zu entwickeln, die auch für die insgesamt 122 international ausgewählten, meist namhaften Beiträger gangbar ist. Für die Stichworte ergeben sich vor allem die folgenden vier Kategorien: erstens die vertriebenen Ethnien aus den jeweiligen Gebieten; zweitens zentrale Pläne, Konferenzen usw.; drittens Akteure oder Organisationen, die am Vertreibungsgeschehen beteiligt waren, sowie viertens eine rechtliche Einordnung wichtiger Begriffe und Einträge zur Erinnerungskultur und Geschichtspolitik (7). Dass man bei den Verfassern der Beiträge auf Autoren zurückgriff, "von denen eine sachliche und übernationale Analyse (...) zu erwarten war" (9), sollte sich von selbst verstehen, dürfte im Einzelfall gleichwohl umstritten bleiben.
Die Beiträge, denen jeweils auch ein Hinweis auf weiterführende Literatur angefügt ist, besitzen auf meist hohem Niveau eine beachtliche geografische wie thematische Breite, was auf den großzügigen Begriff von Europa zurückzuführen ist. In Artikeln der ersten Kategorie erfährt der Leser die wichtigsten Angaben zur Vorgeschichte der ethnischen Gruppe im Vertreibungsgebiet, zur Genese sowie zum Ablauf der Vertreibung und anschließend zum weiteren Schicksal der vertriebenen Gruppe. Leider wird diese sinnvolle Gliederung nicht immer vollständig durchgehalten. So hätte man beispielsweise im Artikel zu den im Zuge des Ersten Weltkriegs aus dem Königreich Polen in das Innere Russlands deportierten Deutschen gerne etwas über deren weiteres Schicksal nach 1915 erfahren. Die Geschichte der deutschen Ansiedlung in Wolhynien erfährt man wiederum nicht im Artikel "Deutsche aus Wolhynien im Ersten Weltkrieg", sondern im Zusammenhang "Deutsche aus Wolhynien im Zweiten Weltkrieg". Geografisch ergeben sich im Wesentlichen drei Vertreibungsräume: Erstens Vertreibungen auf dem Balkan sowie in der Türkei und Griechenland, zweitens Deportationen innerhalb des Zarenreiches bzw. der Sowjetunion und schließlich das Vertreibungsgeschehen während und nach dem Zweiten Weltkrieg in Ostmitteleuropa sowie in Südosteuropa.
Nicht immer wird der vorgesehene Aufbau der Artikel eingehalten, häufig finden sich Wertungen in einer Bestimmtheit, die man in einem Lexikon nicht erwarten dürfte. Vor allem wirft die Verstichwortung zu den einzelnen Themenkomplexen durch unnötige Redundanzen Probleme auf. All das lässt die Frage aufkommen, ob man sich dem Thema Vertreibungen im 20. Jahrhundert nicht besser in Form eines Handbuches hätte nähern können. Besonders deutlich wird dies bei der Darstellung der Vorgänge, die sich auf dem Gebiet des heutigen Polen zugetragen haben. Darunter fallen, um nur eine Auswahl zu nennen, so vielfältige Lemmata wie "Deutsche und Polen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten: Deportation in die Sowjetunion", "Deutsche aus Polen: 'Verdrängung' nach dem Ersten Weltkrieg", "Deutsche aus dem Königreich Polen im Ersten Weltkrieg". Auch bleibt unklar, warum es zwei Stichworte für Vorgänge in Ostpreußen gibt, Stichworte zu Schlesien, Pommern oder Ostbrandenburg aber fehlen. Wenn die Deportation der Einwohner Ostpreußens in die Sowjetunion zu Recht mit einem eigenen Beitrag abgehandelt wird, sollte man das auch für die aus Oberschlesien Deportierten erwarten können. Diesen Vorgang findet man jedoch unter "Deutsche und Polen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten: Deportation in die Sowjetunion". Für eine gezielte Suche ohne tiefere Vorkenntnis erwächst aus dieser Einordnung manches Hindernis. Einige unbedachte Formulierungen in den Einzelbeiträgen könnten den Leser überdies angesichts der mit viel Leid überschatteten Ereignisse verstören: So darf angezweifelt werden, ob die "insgesamt 551.049 Personen dt. Nationalität in den osteuropäischen Ländern, die v. den Armeen der 2., 3. u. der 4. Ukr. Front befreit wurden" (180), Grund dazu hatten, ihre anschließende Deportation oder Ausweisung und Vertreibung als Befreiung zu erkennen.
Als größtes Vertreibungsgeschehen im 20. Jahrhundert nehmen naturgemäß Sachverhalte, die sich auf die Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs beziehen, breiten Raum ein. Da die Forschung dazu weit fortgeschritten ist, erfährt man viel über die Integration der Deutschen in den beiden deutschen Staaten nach 1945, wobei die Auswahl nicht immer nachvollziehbar scheint: Der Artikel "Landsmannschaften" liefert beispielsweise eine unvollständige Auswahl diverser Landsmannschaften, ohne das Phänomen selbst zu erklären. Darüber hinaus wird die Sudetendeutsche Landsmannschaft mit einem eigenen Beitrag gewürdigt, während der Bund der Vertriebenen als Dachorganisation zwar häufig angeführt, aber nicht gesondert behandelt wird. Hingegen finden sich nur wenige Stichworte, die explizit die Nachgeschichte von Vertreibungen anderer Ethnien zum Gegenstand haben. Für die geplanten Übersetzungen in andere Sprachen bleiben einzelne Begriffsklärungen zudem stark deutschen Beispielen verhaftet, so etwa im Fall des Beitrags "Kriegsflüchtling".
Das Ergebnis, das die in der Summe beeindruckenden Ausführungen der vorliegenden Publikation liefern können, ist folgendes: Der Wahn, ethnisch homogene Nationalstaaten als Mittel zur Konfliktlösung zu präsentieren, war in den totalitären Diktaturen Sowjetunion und NS-Deutschland sowie abgeschwächt auch auf Seiten der Alliierten omnipräsent. Selbst Churchill argumentierte nicht zuletzt mit dem angeblich erfolgreichen Bevölkerungsaustausch zwischen Griechen und Türken, wie er im Vertrag von Lausanne von 1923 festgelegt worden war. Stalin hatte, bevor er das gewaltige Vertreibungsgeschehen infolge der Westverschiebung Polens einkalkulierte, bereits auf eigenem Territorium Deportationen einzelner Nationalitäten in bis dahin unvorstellbarem Umfang vorgenommen. Die anvisierten und teilweise durchexerzierten Bevölkerungstransfers zunächst im Warthegau und Westpreußen, dann im Zuge des Generalplans Ost, eskalierten diesen Gedanken schließlich. Eine Einordnung einzelner Vertreibungsgeschehen, gerade auch in ihrer Einzigartigkeit, in der sie sich dann im Zuge des "ungeheuerlichsten Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg[s], den die moderne Geschichte kennt" [2], darstellten, ist ohne die Einbettung in den gesamteuropäischen Vertreibungskomplex kaum angemessen zu leisten. Das "Lexikon der Vertreibungen" schafft es, gerade weniger bekannte Ereignisse zur Vervollständigung dieser Debatte in Erinnerung zu rufen. Gleichzeitig hätte man sich für diesen Zweck eine deutlichere Unterscheidung von Vertreibungsgeschehen und anderen Migrationsereignissen gewünscht.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Hans-Henning Hahn / Eva Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn 2010, 15 f.
[2] Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. Action française, italienischer Faschismus, Nationalsozialismus, München 1963, 436.
Gunter Dehnert