Regina Stuber: Multiple Loyalitäten und Transterritorialität. Aufstieg und Fall des Diplomaten Johann Christoph von Urbich (1653-1715) (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; Bd. 112), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2024, 290 S., ISBN 978-3-525-30247-7, EUR 60,00
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Die vorliegende Publikation entstand auf der Grundlage des im Landesarchiv Sachsen-Anhalt lagernden, bislang unbearbeiteten Nachlasses von Johann Christoph von Urbich. Das umfangreiche Material wurde mit Archivquellen aus einschlägigen europäischen Beständen abgeglichen und in den breiten Forschungskontext zur neueren Diplomatiegeschichte eingebettet. Zeitlich deckt es die Konstituierungsphase und die ersten fünfzehn Jahre des Großen Nordischen Krieges ab.
Während spanische, österreichische, britische und französische Akteure weitgehend im Konflikt um die spanische Erbfolge gebunden waren, befanden sich schwedische, dänische, russische und polnische Akteure und Akteursgruppen in einer intensiven militärischen Konfrontation um die Kontrolle ökonomischer und politischer Ressourcen im Ostseeraum. Die politische Geschichte der wechselnden Allianzen und die Gründe für den Zusammenbruch der schwedischen Position einerseits und den Aufstieg des russischen Hofes andererseits sind von der älteren Forschung ausführlich untersucht worden. Stuber fasst diese Ergebnisse in einer zwanzigseitigen Einleitung präzise zusammen. Ihr geht es jedoch nicht um Korrekturen oder Gewichtsverschiebungen innerhalb einer konventionellen politischen Geschichte, sondern um eine akteurszentrierte Analyse der Handlungsrisiken und Handlungschancen jener Dienstleister, die den Konflikt erst ermöglichten, indem sie die Allianzen zwischen den politischen Entscheidungszentren organisierten.
Das Haupttätigkeitsfeld ihres Protagonisten lag in der strategischen Planung der Positionierung und Kooperation europäischer Mächte. Urbich entwickelte langfristige Zielperspektiven, analysierte deren Umsetzungsmöglichkeiten, pflegte ein umfangreiches Beziehungsnetz und betätigte sich beim Sammeln, Aufbereiten und Weitergeben von Informationen. Stuber bezeichnet ihn als "Broker" - eine ausgleichende, kontaktanbahnende und Kommunikation ermöglichende Instanz. Dass er dabei in einem Hochrisikoumfeld agierte, zeigte die durch Karl XII. betriebene Hinrichtung des ebenfalls für wechselnde Herren tätigen Johann Reinhold von Patkul im Jahr 1707.
Wie Patkul stand auch Urbich im Dienst verschiedener Herren - nicht immer, aber oft gleichzeitig -, wobei er in der Regel einen Hauptauftraggeber besaß. Angesichts des Umgangs mit zeitsensiblen Informationen und eines beträchtlichen eigenen Handlungsspielraums musste Urbich stets die divergierenden Verhaltenserwartungen seiner Dienstherren im Blick behalten und sein Handeln entsprechend kommunizieren. Stuber spricht in diesem Zusammenhang von Loyalitätskonflikten.
Sie schildert Urbichs Werdegang daher chronologisch und legt den Fokus auf die Anbahnung von Kontakten zu den Dienstherren, auf sein Dienstleistungsangebot, die Entwicklung und Pflege seines Netzwerkes sowie den Übergang von einem zum nächsten Auftraggeber. Dabei betont sie besonders die fortdauernden Kontakte und Freundschaften, die über solche Wechsel hinweg bestanden. Selbst nach demonstrativen Brüchen persönlicher Beziehungen konnte weiterhin kooperiert werden.
Anders als Jacob Heinrich Flemming, Christian Detlev von Reventlow oder Christian Friedrich von Bartholdi, mit denen Urbich im Informationsaustausch stand, entstammte er keinem adligen Geschlecht, sondern einer thüringischen Pfarrerfamilie, die ebenfalls unter verschiedenen Landesherren tätig war. Auch seine Brüder und Vettern standen - wie er - in fürstlichen Diensten, wenngleich enge Kooperationen zur wechselseitigen Statusförderung nur punktuell nachweisbar sind. Urbichs zentrale Ressource war nicht die Familie, sondern ein selbst geknüpftes Netzwerk von Verbindungen, das nach seiner Verabschiedung aus dem hannoverschen Dienst und seinem Eintritt in den dänischen 1691 an Dichte gewann. Fortan war er vorwiegend in Wien tätig und intensivierte seine Kontakte zum Reichspersonal. Als Kenner der inneren Kommunikationsstrukturen der Hofburg wurde er nun auch für andere Akteure interessant - etwa für den besagten Patkul, der Urbich 1702 in seine Bemühungen einbinden wollte, eine Allianz europäischer Mächte gegen Schweden zu bilden. Urbich stand im Schnittpunkt dänischer und kaiserlicher Netzwerke, die Patkul deshalb zu mobilisieren suchte. Zwar blieb dessen Initiative ohne Erfolg, doch zeigte sie den Wert, den höherrangige Akteure einem Mann beimaßen, der über ein Mehr an Informationen und Kontakten verfügte. Urbich konnte Ressourcen anbieten, die es ihm ermöglichten, seine Netzwerke auf immer einflussreichere Kreise auszudehnen. Seine Reisetätigkeiten waren dabei weit gespannt - Aufenthalte etwa in Moskau oder Venedig waren keine Seltenheit.
Die Initiative Patkuls verwies darauf, wie eng der Handlungsauftrag des Dienstherrn mit familiären bzw. standesspezifischen Strategien der Dienstträger verwoben wurde. Das galt für den livländischen Adeligen Patkul, der russische, sächsische und ständische Interessen ausbalancieren musste, ebenso wie für den dänischen Bediensteten Thomas Balthasar von Jessen, der 1702 seine Position in der Deutschen Kanzlei in Kopenhagen verloren hatte und nun im Rahmen einer Gesandtschaft nach Wien neue Ressourcen zu erschließen suchte. Daher stand neben den Verhandlungen mit Russland auch die Sorge um die Karrierechancen des eigenen Sohnes im Vordergrund seines Handelns. Urbich bemühte sich, dem "Freund" behilflich zu sein, und erwies sich als Teil eines dienenden Netzwerkes, das an zahlreiche Auftraggeber angebunden war und dessen Mitglieder einander unterstützten. Dieses Beziehungsgeflecht hatte eigene Dynamiken und ein Eigengewicht; seine Hauptwährungen waren Information, Unterstützung und Verschwiegenheit.
Schwerpunkt von Urbichs Netzwerk blieb das Reich und die über das Reich verbundenen Herrschaftsräume - neben seinen Wiener Kontakten waren dies insbesondere Verbindungen nach Dänemark und den Herzogtümern, Braunschweig-Wolfenbüttel und Sachsen-Polen. Die jeweiligen Beziehungsmuster waren keineswegs durchweg symmetrisch strukturiert. Urbich war gegenüber den meisten Korrespondenzpartnern von niedrigerem Status - sowohl hinsichtlich seines Geburtsstandes als auch seiner zeremoniellen Position im Gesandtschaftswesen. Einer seiner wichtigsten höherrangigen Kontakte war Theodor von Salm, der Gegenspieler Prinz Eugens, dem er seine Ernennung zum Reichshofrat und Reichsfreiherrn 1705 verdankte. Die Jahre zwischen 1703 und 1707 sind von besonderem Interesse, da Urbich in dieser Zeit gleichzeitig in habsburgischen, wolfenbüttelschen und sächsischen Diensten stand, seine Kontakte nach Russland ausbaute und jene nach Dänemark pflegte. Er agierte als einer der zahlreichen multipel eingebundenen Gesandten in Wien, die mit einem Gemischtangebot an Dienstleistungen jene Kommunikationsstrukturen stabilisierten, welche das Alte Reich zusammenhielten. Dies dürfte auch der Grund für seine Ernennung zum russischen Gesandten in Wien 1707 gewesen sein. Zar Peter suchte nicht nur militärische Unterstützung gegen Schweden, sondern auch Anschluss an ein regelbasiertes europäisches Vertrags- und Konfliktsystem. Urbich entwickelte entsprechende Perspektiven, die russische und reichsbezogene Zielvorstellungen miteinander zu versöhnen suchten und letztlich darauf abzielten, den Zaren in dieses Regelwerk einzubinden.
Die Ernennung zum russischen Gesandten erhöhte Urbichs Status deutlich - ebenso wie sein persönliches Handlungsrisiko. Als das Interesse des Zaren an einer engeren Bindung an Wien nachließ und er eine Annäherung an andere europäische Mächte suchte, nahmen die Dissonanzen innerhalb des Interessenverbandes, dem Urbich diente, zu. Der Dienst an Russland erhöhte seinen Status nicht länger, sondern schadete ihm zunehmend. Urbich verlor damit auch seinen Wert für den Zaren, wurde fallen gelassen und starb wenige Jahre später.
Stubers Studie zeigt exemplarisch die Funktionsweise des Reiches als eines offenen Kommunikationsraums auf, in den europäische Mächte über ihre Position als Reichsstände eingebunden wurden. Seine Funktionsweise hing wesentlich von den Kommunikationsträgern und damit von der von Urbich repräsentierten Funktionsgruppe ab. Sie bildete, wie die Autorin zu zeigen versteht, ein Netzwerk mit Eigengewicht. Dieser Befund fügt sich in die Theorien von Thiessens zum altständischen Gesandtschaftswesen ein. Die Fixierung auf das, diesen Thesen folgende, Bild des Diplomaten lässt indes einige Fragen offen. Offenbar ließen die Quellen keine klare Auskunft darüber zu, inwieweit Urbich auch als Nachrichtenagent, Kaufmann oder Gelehrter - seine Kontakte zu Leibniz arbeitet Stuber verdienstvoll heraus - tätig war. Dies aber wäre von Nutzen gewesen, um noch einmal darüber zu reflektieren, ob das Handlungsfeld von Funktionsträgern wie Urbich tatsächlich mit dem Begriff der Diplomatie hinreichend beschrieben wird.
Methodisch wäre ohnehin eine intensivere Begriffsdiskussion von Nutzen gewesen. In ihrem ausführlichen Einleitungskapitel diskutiert und problematisiert Stuber die Kategorie Loyalität ebenso wenig wie die des Brokers. Die Analyse der Freundschaftsrhetorik ist voller faszinierender Beispiele, folgt aber methodisch im Grunde den über fünfzig Jahre alten Überlegungen Wolfgang Reinhards. Eine Reihe zentraler zeitgenössischer Termini, wie Dienst und Treue, die in den von ihr zitierten Quellen immer wieder auftauchen, bleiben ganz unkommentiert. Durch diese methodischen Defizite bleiben auch in der Analyse Leerstellen. So ist offensichtlich, dass im Rahmen der Reichskommunikation, innerhalb derer sich Urbich bis 1707 im Wesentlichen bewegte, multiple Dienstverpflichtungen, Freundschaften und Bindungen kaum als störend oder systemgefährdend wahrgenommen wurden. Urbichs Probleme begannen (wie jene Patkuls) erst, als er mit Russland für eine Macht agierte, die nicht in das reichsständische Regelwerk von Verhaltenserwartungen eingebunden war. Eben dieser Befund eröffnet interessante Einblicke hinsichtlich der konkreten Organisation der Kommunikation zwischen polypolaren Kommunikationsgemeinschaften wie dem Alten Reich und sich zu Staaten verdichtenden und transformierenden Herrschaftsräumen, wie Russland, die ohne Teilhabe am Reichssystem blieben.
Ungeachtet dieser Überlegungen bleibt der Wert der quellengesättigten Arbeit, die weitgehend unbekannte Aktenbestände erschließt und auf Grundlage einer innovativen Perspektive analysiert, unbestritten. Sie bietet wichtige Anknüpfungspunkte für eine Neuinterpretation der Kommunikationsstrukturen des Reiches und ihrer Trägergruppen.
Thomas Lau