Larissa Wegner: Occupatio Bellica. Die deutsche Armee in Nordfrankreich 1914-1918 (= Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. XXXVI), Göttingen: Wallstein 2023, 522 S., ISBN 978-3-8353-5370-1, EUR 48,00
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Während beider Weltkriege waren weite Gebiete Europas mehrere Jahre von deutschen Truppen besetzt. Das Hauptinteresse von Forschung und Öffentlichkeit galt und gilt der deutschen Besatzungsherrschaft des Zweiten Weltkriegs, die genuin verbunden war mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid. [1] Im Vergleich dazu hat das Handeln der deutschen Besatzer während des Ersten Weltkriegs relativ weniger Interesse gefunden und stand mal mehr, mal weniger unter dem Primat der Annahme, die Praktiken des Ersten hätten im Zweiten Weltkrieg ihre Fortführung in einer im Kaiserreich grundgelegten deutschen "military culture" [2] gefunden. Für den 'Großen Krieg' lag der Forschungsschwerpunkt auf Osteuropa und im Westen auf Belgien. [3] Die über vier Jahre besetzten Gebiete Frankreichs wurden in der französischen Forschung aus Perspektive der Besetzten betrachtet. [4] Binnenperspektive und Praktiken der Besatzer blieben jedoch weitestgehend unerforscht. Das hier anzuzeigende Buch Larissa Wegners über die deutsche 'kriegerische Besatzung' - der dem Buch den Titel gebenden 'Occupatio Bellica' - nordfranzösischen Territoriums zwischen dem Spätsommer 1914 und dem Herbst 1918 ist der Aufarbeitung dieses Themas gewidmet. Forschungspragmatisch ist der Zugriff auf Quellenbestände in München, Stuttgart und Karlsruhe zentral, die den Verlust der Überlieferung des preußischen Heeres einigermaßen bewältigen helfen.
Militärische Besatzung war im 20. Jahrhundert durch einen rechtlichen Rahmen eingehegt, den völkerrechtlichen Regelungen der Brüsseler Konferenz von 1874 und der Haager Konferenzen von 1899 und 1907. Im einleitenden Kapitel entwickelt Wegner ausführlich die Genese desselben. Es ist lohnend nachzuvollziehen, wie während der Verhandlungen die jeweiligen Vertreter der einzelnen Staaten argumentierten, durchweg auf Basis nationaler Interessen und Denkmuster, sich aber eine Dynamik entwickeln konnte, die den Spielraum der Militärs einengte. Zivilisten wurden zum ersten Male zum Gegenstand formaler Beschränkungen. Zentrale Punkte waren, ob sich Zivilisten für ihr Land gegen fremde Truppen während des Versuchs der militärischen Eroberung engagieren konnten und inwieweit die Besatzungsmacht Güter und Menschen des besetzten Gebiets für ihre Zwecke heranziehen konnte. Während der letztgenannte Punkt für die Jahre ab dem Spätherbst 1914 relevant wurde steht der erstere für die vieldiskutierte Eroberung Belgiens und Nordfrankreichs seit dem August 1914 zur Debatte. [5] Diesem Themenkomplex widmet Wegner in ausgewogener Argumentation ein eigenes Kapitel. Den Gewaltexzessen deutscher Truppen in Belgien und Frankreich wurde gelegentlich ein Mäntelchen des Rechtlichen zu verleihen gesucht, auch intern gab es Zweifel an deren Legitimität und den von deutscher Seite angeführten Ursachen.
Die besondere Stärke des Buches liegt darin, dass in den Folgekapiteln vor allem auf Basis deutscher militärischer Quellen das Besatzungsgeschehen in den seit dem Spätsommer/Herbst 1914 besetzten Departements Nordfrankreichs geschildert wird. Anders als der Großteil Belgiens war dieses Gebiet ausschließlich Operations- und Etappengebiet, d.h. es unterstand nur und ausschließlich dem Militär. Zunächst analysiert Wegner die administrative Struktur der Besatzungsherrschaft. Es wird das institutionelle Gefüge zwischen Armeekommanden, Etappeninspektionen, Kommandanturen und zivilen Verwaltungsstellen rekonstruiert und aufgezeigt, wie Zuständigkeiten, Informationsflüsse und Entscheidungswege die tatsächliche Besatzungspraxis prägten. Innerhalb der militärischen Instanzen führten Kompetenzkonflikte, divergierende Zielsetzungen und die unterschiedliche Auslegung der Völkerrechtsnormen zu erheblichen Inkonsistenzen im Umgang mit der Zivilbevölkerung. Damit wird die Besatzung nicht als monolithischer Machtblock, sondern als vielschichtiges, von Unstimmigkeiten geprägtes Herrschaftsgefüge sichtbar.
Kein Zweifel kann daran bestehen, dass die Besatzer ihr Handeln unter dem Primat der 'militärischen Notwendigkeit' sahen. Der globale Wirtschaftskrieg zeigt sich hier als im Einzelnen widersprüchliche, aber nichts desto weniger systematische Ausbeutung von Ressourcen zugunsten der deutschen Kriegswirtschaft. Diese zielte darauf ab, Rohstoffe, Transportmittel, landwirtschaftliche Produkte und schließlich Arbeitskräfte in großem Umfang zu requirieren. In erster Linie sollte die eigene Kriegsmaschinerie im Besatzungsgebiet 'aus dem Land leben' und sodann der Heimat Ressourcen zugeführt werden. Diese Politik führte zu einem Mangelregime, das den Alltag der Zivilbevölkerung nachhaltig prägte. Zur Ausbeutung gehörte der Zugriff auf humane Ressourcen durch Heranziehung zu Zwangsarbeit. Des weiteren wurde etwa ein Viertel der verbliebenen Zivilbevölkerung, als 'unnütze Esser' angesehene Menschen, ins unbesetzte Frankreich abgeschoben, um die Besatzer zu entlasten und dem Gegner zusätzliche Lasten aufzuerlegen. Offensichtlich ist die Dynamik eines sich totalisierenden Ressourcenzugriffs, der sich zwecks seiner Rechtfertigung auf die Seeblockade durch Großbritannien und deren im wahrsten Sinne des Wortes fatalen Auswirkungen für die Zivilbevölkerung der Mittelmächte berief.
Hinsichtlich der Formen von Gewalt und Repression unterscheidet Wegner zwischen planmäßig administrierter Gewalt, situativ eskalierender Gewalt aufgrund mangelhafter Informationslagen und symbolischer Gewalt, die durch militärische Präsenz, Kontrollmaßnahmen und öffentliche Disziplinierung erzeugt wurde. Militärgerichte, Kollektivstrafen, Geiselnahmen und Überwachungsversuche wurden nicht isoliert angewandt, sondern waren integraler Bestandteil einer Besatzung, die auf Sicherheit, Kontrolle und Abschreckung zielte. Deutlich wird, dass die Besatzung keineswegs nur aus einseitigen Herrschaftsmaßnahmen bestand, sondern von Aushandlungen, informellen Netzwerken, Anpassungsstrategien und grauen Zonen geprägt war. Die strafende Behandlung von Zivilisten analog zu punitiven Maßnahmen zu sehen, denen die deutschen Soldaten unterzogen wurden (Nahrungsentzug, strenger Arrest, Stehenlassen über eine lange Zeitdauer) ist allerdings problematisch. Strafen, die der Sanktionierung von Kombattanten galten, konnten so keineswegs auf Nichtkombattante bzw. Zivilisten angewendet werden.
Abschließend verortet Wegner die deutsche Besatzung Nordfrankreichs während des Ersten Weltkriegs im weiteren Kontext. Sie verweist auf Kontinuitäten zu früheren Besatzungspraktiken, insbesondere aus dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, und weist pointiert auf die Spezifika des Ersten Weltkriegs hin in Form zunehmender Systematisierung und Ökonomisierung von Besatzungsherrschaft. Der Vergleich mit der Besatzungspraxis von 1940 bis 1944 zeigt Ähnlichkeiten, letztlich aber den Unterschied zu einer Art der Kriegsführung, die auch im Westen willig funktionaler Teilbereich eines totalitären, verbrecherischen, völkerrechtliche Normen mit Füßen tretenden Regimes war. Insgesamt handelt es sich um eine sehr gelungene Studie, die durchaus von aktueller Relevanz ist.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Tatjana Tönsmeyer: Unter deutscher Besatzung. Europa 1939-1945, München 2024.
[2] Vgl. Isabell Hull: Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, Ithaca 2004; Alan Kramer: Dynamic of Destruction. Culture and Mass Killing in the First World War, Oxford 2007.
[3] Vgl. z.B. Vejas Gabriel Liulevicius: Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg 1914-1918, Hamburg 2002; Christian Westerhoff: Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914-1918, Paderborn 2012; Włodzimierz Borodziej / Maciej Górny: Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912-1923, 2 Bde., Darmstadt 2018, passim; Jens Thiel: "Menschenbassin Belgien". Anwerbung, Deportation und Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg, Essen 2007; Sophie de Schaepdrivjer: Bastion: Occupied Bruges in the First World War, Veurne 2014.
[4] Vgl. Philippe Nivet: La France Occupée 1914-1918, Paris 2014; Stéphane Lembré: La guerre des bouches (1914-1918). Ravitaillement et alimentation à Lille, Villeneuve d'Ascq 2016; Stephane Audoin-Rouzeau (éd.): Yves Congar, Journal de la Guerre 1914-1918, Paris 1997.
[5] Vgl. John Horne / Alan Cramer: German Atrocities 1914. A History of Denial, New Haven 2001.
Thomas Schulte-Umberg