Nancy Spies: The Mitre. Its Origins and Early Development (= Art and Material Culture in Medieval and Renaissance Europe; Vol. 21), Leiden / Boston: Brill 2024, XXIV + 357 S., ISBN 978-90-04-69104-9, EUR 160,50
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Jede Untersuchung zu Fragen der liturgischen Gewandung im Okzident muss mit Joseph Brauns 1907 erschienener Untersuchung beginnen.[1] Die in diesem Standardwerk enthaltene Darstellung zur Entwicklung der Mitra blieb bis heute unwidersprochen. Nancy Spies, mit wichtigen Arbeiten zu Kleidung und Textilien im Mittelalter hervorgetreten, sieht diesbezüglich freilich dringenden Korrekturbedarf. Die vorliegende Studie - "This book was a real challenge" (XII) - führt denn nicht nur neue Begrifflichkeiten für die Beschreibung einiger Teile der Mitra ein, sondern wagt sich auch an eine Neudefinition dessen, was eine Mitra überhaupt ist. Galt es bisher als opinio communis, die Mitra als "any hat on the head of an upper-level cleric" (9) zu begreifen, wird jetzt sehr viel stärker (und umständlicher) differenziert: "The mitre is a simple variety of folding hat with two equal sections, originally occuring in both a lobed and a peaked style (now just peaked), usually made of white fabric, and generally having at the very least a circular band and pendants, which became a specific, consistent, and recognizable style of ecclesiastical headwear in the twelfth century." (9) Eine Definition sollten sich durch Klarheit und Kürze auszeichnen und nicht - wie hier der Fall - zur Beschreibung der äußeren Gestalt einer Mitra im 12. Jahrhundert mutieren. Sehr viel Mühe wird darauf verwandt, die Genese und das Abhängigkeitsverhältnis von "lobed" und "peaked mitres" - man übersetzt das am besten mit "Hauben- und Spitzmitren" - zu entschlüsseln. Das fünfstufige Entwicklungsschema, das Braun entworfen hatte, wird zu einem dreistufigen verkürzt: die beiden frühesten Formen bei Braun werden nicht mehr als Vorläufer der Mitra, sondern als bloße Hüte interpretiert.
Dem Rezensenten nicht recht einsichtig, weshalb in einer Arbeit, die auf einer Vielzahl von Forschungen in anderen Sprachen aufbaut, eine neue, englischsprachige Begriffsterminologie eingeführt werden soll. Die Autorin bemerkt selbst, dass die bisher gebräuchliche Terminologie vor allem auf lateinischen Begrifflichkeiten beruht (die fälschlicherweise dem französischen Sprachkreis zugewiesenen fanones sind lateinischen Ursprungs, im Französischen erscheinen sie als fanons). In der Tat: Im Französischen und Englischen wird das überall sonst gebräuchliche Wort Mitra durch ein "mitre" ersetzt. Daraus die Schlussfolgerung abzuleiten, es habe "no standardized, clearly defined, and readily understandable terminology" (10) existiert, geht deutlich zu weit. Die Dominanz des Englischen als wissenschaftliche lingua franca in Ehren: Ein Ersetzen der bisher üblichen Terminologie ist ebenso unsinnig wie überflüssig. Lediglich - und hier ist Spies unbedingt beizupflichten - diejenigen Elemente einer Mitra, die bisher unbeschrieben geblieben sind (und dies betrifft vor allem die ornamentalen Bänder), bedürfen neuer Begrifflichkeiten.
Zum ersten Mal taucht die Mitra als Kopfbedeckung für Bischöfe 1049 in einem Privileg Leos IX. an Erzbischof Eberhard von Trier auf: "The mitre apparently appeared, like a rabbit out of a hat, with no fanfare whatsoever" (239). Dem Metropoliten wurde darin gestattet, künftig eine Mitra tragen zu dürfen. Ob sie bereits vor der Mitte des 11. Jahrhunderts Teil der bischöflichen Gewandung war, ist unsicher. In den Quellen jedenfalls verlautet dazu nichts. Kennzeichen des Bischofs war zunächst der Hirtenstab, nicht die Mitra. Hatte Paulus nicht davor gewarnt, eine Kopfbedeckung zu tragen, sobald man sich dem Altar näherte (I Cor. 11:4: Omnis vir orans aut prophetans velato capite, dedecore afficit caput suum)? Die erste Abbildung eines Papstes mit Mitra findet sich im auf das Jahr 1119 datierten Chronicon Sanctae Sophiae. Wann genau die Mitra während der Messe von einem Bischof getragen wurde, ist unklar. Es scheint jedenfalls Praxis gewesen zu sein, die Mitra in den Momenten, in denen der Bischof seine Gebete an Gott richtete, abzunehmen.
Illuminierte Handschriften liefern das mit Abstand reichste Quellenmaterial (80%). Insgesamt wurden in der Arbeit 534 Darstellungen von Mitren ausgewertet. Hinzu kommen Erwähnungen in Schriftquellen ebenso wie noch erhaltene Objekte und die ausgehend vom Quellenmaterial selbst angefertigten Modelle, ein Beispiel gelungener experimenteller Archäologie. Das analysierte Bildmaterial reicht dabei vom späten 11. bis zum Ende des 12. und zum Anfang des 13. Jahrhunderts mit einem klaren Schwerpunkt auf dem Zeitraum zwischen 1150 und 1174 (49%). 443 Abbildungen (83%) stammen von den "big four", d. h. Deutschland (169), Frankreich (164), Italien (69) und England (41). Erstaunlich dabei ist, zu welch frühem Zeitpunkt in England die Mitra eingeführt wurde. Dies verweist auf die engen Beziehungen der englischen Kirche zur römischen Kurie.
Die im Lauf der Arbeit herausdestillierten Daten werden in sechs Anhängen präsentiert, als deren wichtigster Anhang E erscheint, in dem 534 Beispiele von Rund- und Spitzmitren mit folgenden Informationen tabellarisch aufgelistet werden: Datum / Ort / Person / Kopfstellung innerhalb der Darstellung / Typus / Tragerichtung / Bänder / Stoff / Form der Darstellung / Quellenbeleg.
Die Autorin stützt sich auf ein umfangreiches, qualitativ hochwertiges Bildmaterial, das dort, wo einem Abdruck nicht die Rechte der Besitzer entgegenstanden, in Farbe ausgeführt wurde. In allen anderen Fällen wurde zumindest mittels Zeichnungen versucht, einen Eindruck von der Gestalt der abgebildeten Mitren zu vermitteln. Die methodischen Herausforderungen werden in diesem Zusammenhang klar benannt, denn immerhin mussten die Künstler des Mittelalters ein dreidimensionales Objekt - die Mitra - mit zweidimensionalen Mitteln darstellen. Völlig unklar ist, ob ihnen konkrete Mitren vorlagen, oder sie "dem Hören-Sagen" nachzeichneten. Deutlich wird, dass im 12. Jahrhunderts beide Mitrenformen nebeneinander existierten und zumeist aus einfarbigem Stoff mit den beiden typischen, vom hinteren unteren Rand herabhängenden Zierbändern (fanones) gefertigt waren. Erst Ende des Jahrhunderts sollte sich die Spitzmitra durchsetzen: "The peaked mitre is, without a doubt, the simplest mitre to make." (127) Die Präsenz der durch goldene Bänder bereits aufwendiger gestaltete mitra aurifrisiata war verhalten, der Typus der mitra pretiosa sollte erst zu einem späteren Zeitpunkt von sich reden machen.
Rein praktischen Fragen der Herstellung von Mitren wird einiges an Beachtung geschenkt. Als Futter- bzw. Verstärkungsmaterial ("for stiffening mitres", 79) dienten etwa vor allem Pergamentseiten aus Handschriften. Spärliche Quellenbelege deuten auf eine Fertigung durch adlige Frauen in ihren Privaträumen hin, doch auch in Klöstern scheinen Mitren produziert worden zu sein. Bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts stellten goldene Zierbänder den Hauptschmuck der (weißen) Mitren dar. Erst danach sind die noch heute so charakteristischen üppigen Stickereien zu finden.
Hochinteressant ist die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung. Woher stammt die Mitra? Welche religiösen und politischen Faktoren trugen dazu bei, dass Mitren entstehen und akzeptiert werden konnten? Spies verweist hier auf die Reformbewegung des 11. Jahrhunderts, wo die Mitra zur Prozessionsinsignie und zum Zeichen weltlicher Macht des Bischofs wurde: "Hats have power" (200) Woher beziehen Mitren ihre charakteristische Form? Der Verweis auf arabische Schachfiguren, vor allem Turm und Springer, scheint zunächst weit hergeholt, hat bei längerem Nachdenken (und dank visueller Unterstützung) jedoch tatsächlich etwas für sich (vgl. 237ff.). Die Autorin räumt jedoch unumwunden ein: "Perhaps there was no conscious effort at all. Perhaps someone suddenly thought that they would make great hats, hats that make a statement by being both new, unique, and exotic" (213).
Druckfehler halten sich (Angouléme (90); Liber Diversarum Atium (90)) ebenso wie unglückliche Formulierungen ("The vestments...became one of the sacraments of the Western Church" (136, sic!)) in Grenzen. Einige Leerstellen innerhalb der Bibliographie stechen ins Auge, keine stärker als das Fehlen der Arbeiten Agostino Paravicini Baglianis, die insbesondere mit Blick auf die Genese der päpstlichen Gewandung einschlägig sind.
Spies öffnet mit ihrer breit kontextualisierenden Arbeit ein Fenster hinein in die Wunderwelt mittelalterlicher liturgischer Gewandung. Nicht allen Schlussfolgerungen wird man folgen, nicht jede terminologische Neuerung wird sich durchsetzen: Gleichwohl liest sich die Untersuchung anregend, ist methodisch innovativ und - um zuletzt noch einmal die neue lingua franca zu bemühen - "thought-provoking".
Anmerkung:
[1] Joseph Braun: Die liturgische Gewandung im Occident und Orient, Freiburg 1907.
Ralf Lützelschwab